# taz.de -- Autoren über Antiimperialismus: „Hang zu binären Weltbildern“ | |
> „Kritisch“ statt „bedingungslos“ müsse Solidarität sein – dafür … | |
> die Gruppe Demontage. Wie sieht sie den Hamas-Support einiger Linker von | |
> heute? | |
Bild: Auch sie nimmt Israel womöglich ausschließlich als Kolonialist wahr: Gr… | |
Ihr 1999 erschienenes Buch „Postfordistische Guerrilla. Vom Mythos | |
nationaler Befreiung“ markierte eine Zäsur in der radikalen Linken. Der | |
[1][traditionelle Antiimperialismus] hatte sich oft bruchlos an die Seite | |
von militanten Bewegungen im Globalen Süden gestellt – auch wenn deren | |
Agenda mit den eigenen Zielen kaum vereinbar war. Die Hamburger Gruppe | |
Demontage wies auf diese Widersprüche hin, ihre Kritik wurde breit | |
diskutiert. | |
taz: Den [2][7. Oktober] hat ein Teil der Linken als „revolutionärer Tag, | |
auf den wir stolz sein können“, gefeiert. Ist so die bedingungslose | |
Solidarität des [3][alten Antiimperialismus] unter postkolonialen Prämissen | |
zurückgekommen? | |
Olaf Berg: Das ergibt sich weder aus dem Antiimperialismus noch aus | |
[4][postkolonialen Theorien] zwangsweise. Uns wurde damals vorgeworfen, wir | |
würden mit dem Buch Schulnoten verteilen, würden uns anmaßen, über | |
Befreiungsbewegungen zu urteilen. Der Impuls zu sagen, „Die kämpfen und wir | |
können nur irgendwie folgen“, ist sehr alt. Natürlich müssen wir mitdenken, | |
welche privilegierte Situation wir haben. Aber das entbindet uns ja nicht | |
davon, für uns zu entscheiden, womit wir eigentlich solidarisch sein | |
wollen. | |
taz: Heute wird die Verpflichtung zur Solidarität oft moralisch begründet – | |
mit Verweis auf Kolonialismus, Hautfarbe und Privilegien. Ist das auch alt? | |
Gaston Kirsche: Die ideologische Ummantelung hat sich sicher geändert. Der | |
moralische Impetus – ich lebe in einem Land, dessen Reichtum auf der | |
Ausbeutung anderer Teile der Welt basiert – ist derselbe. Die postkoloniale | |
Theorie scheint nur neu, weil sie mit einem anderen Vokabular daherkommt. | |
Christian Reichert: Eine Kritik am Kolonialismus bedeutet nicht, dass ich | |
mich solidarisch auf antiemanzipative Bewegungen beziehe oder gar | |
reaktionäre Bewegungen glorifiziere. In unserem Buch haben wir ein | |
traditionelles Verständnis des Antiimperialismus kritisiert, in dem | |
Solidaritätsbewegungen auch Sichtweisen und politische Forderungen von | |
Befreiungsbewegungen oder Menschen vor Ort übernommen haben, die wenig | |
Anknüpfungspunkte an emanzipative Positionen hierzulande boten. Das | |
Kriterium für die solidarische Unterstützung war häufig allein das | |
wahrgenommene Unterdrückungsverhältnis. | |
Dem haben wir den Begriff der kritischen Solidarität entgegengesetzt. Die | |
fehlende Unterscheidung zwischen Kritik an Unterdrückungsverhältnissen, | |
Kritik an der Politik der israelischen Regierung, der Forderungen nach | |
einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen etwa in Gaza und einer | |
positiven Bezugnahme auf eine reaktionäre und menschenverachtende Bewegung | |
wie die Hamas ist auch heute wieder das Problem. | |
Berg: Der Großteil derer, die jetzt solidarisch mit Gaza sind, sehen nur: | |
Da gibt es das starke Israel und das schwache Gaza. Da ist man dann für die | |
Schwachen. Dazu kommt, dass Israel immer als Kolonialist wahrgenommen wird. | |
Die postkoloniale Theorie würde ich aber gegen diesen Vorwurf in Schutz | |
nehmen wollen. Deren Kern lautet: Der Kolonialismus hat die Welt so | |
geprägt, dass er nicht aufhört mit dem Ende des formalen Kolonialismus. Das | |
finde ich absolut richtig. Den moralischen Impetus … | |
taz: … also als Privilegierter bedingungslos solidarisch zu sein? | |
Berg: Genau. Diese Bedingungslosigkeit lehne ich ab, und sie folgt nicht | |
zwingend aus postkolonialer Kritik. Ich finde es aber gut, dass Menschen, | |
die in Deutschland als nichtdeutsch gelesen werden, sich stärker | |
organisieren, Selbstbewusstsein entwickeln, auf die deutsche koloniale | |
Geschichte hinweisen und, wie an einigen Unis, diskursive Räume und | |
Machtposition einnehmen. So wie sich früher Frauen Räume erschlossen und | |
gesagt haben, da dürfen Männer nicht rein. Das hat alles seinen Sinn. Und | |
in Diskussionen ist es richtig, erst mal zuzuhören, die andere Perspektive | |
wahrzunehmen. Trotzdem sind wir alle Individuen, die ein Recht auf eine | |
eigene Meinung haben. Das verwirke ich nicht dadurch, dass ich in eine | |
privilegierte Position geboren bin. | |
taz: Warum haben Sie sich damals mit dem Thema befasst? | |
Berg: Es gab eine antirassistische Bewegung gegen die Nazi-Umtriebe | |
hierzulande, etwa in Rostock-Lichtenhagen. Für die war klar: Der | |
Nationalismus ist in Deutschland eine starke Wurzel rechter Gewalt. | |
Gleichzeitig war man solidarisch mit nationalen Befreiungsbewegungen in | |
anderen Ländern. Unsere Frage war: Ist dieses Nationale so flexibel, dass | |
es in einem Fall ganz toll ist und im anderen ganz doof? | |
Und? | |
Reichert: Die ökonomische Globalisierung hatte damals den | |
nationalstaatlichen Rahmen hinter sich gelassen. In Europa und den USA | |
waren fordistische Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse seit den | |
1980er Jahren großen Veränderungen unterworfen. Dazu im Widerspruch stand, | |
dass sich auch in den neunziger Jahren noch viele Befreiungsbewegungen auf | |
Ethnie, Volk und eine eigene Nation bezogen. Aber zur kritischen | |
Solidarität gehörte für uns Kritik an Klassen- und | |
Geschlechterverhältnissen, an Volk und Nation. Uns interessierte deshalb, | |
bei welchen Bewegungen wir Anknüpfungspunkte für eine emanzipative Politik | |
sahen. | |
taz: Haben Sie welche gefunden? | |
Kirsche: In den nominell sozialistischen Bewegungen steckte für uns | |
emanzipatorische Hoffnung. Bei islamistischen oder nur | |
völkisch-nationalistischen Bewegungen nicht. | |
taz: Ihre Kritik fand in der Linken damals Resonanz. Ist diese heute | |
vergessen? | |
Kirsche: Es wird heute über Diskriminierung gesprochen, aber nicht über die | |
materielle Geschichte, die dahintersteht. Es geht eher um moralische | |
Fragen. Eine Gemeinsamkeit zum klassischen Antiimperialismus ist dabei der | |
Hang zu einfachen, binären und dadurch falschen Weltbildern: Der Norden ist | |
reich und alles, was aus dem Süden kommt, ist automatisch gut. Dann wird | |
nicht begriffen, dass sowohl der Norden als auch der Süden von | |
Klassenstrukturen, Ausbeutungsverhältnissen und Gewaltverhältnissen | |
durchzogen sind. | |
taz: Was heißt das für die Frage, auf wen sich eine Linke positiv beziehen | |
sollte? | |
Kirsche: Ich kann mich zum Beispiel nicht positiv darauf beziehen, wenn | |
Putin die USA kritisiert, weil die den Jemen bombardieren. Ich muss zur | |
Kenntnis nehmen, dass es heutzutage mehrere imperialistische Zentren in der | |
Welt gibt, dass Russland sich imperialistisch verhält und China auch. Ich | |
kann nicht mit einer moralischen Sicht Nordamerika und Westeuropa als | |
Zentren des Kolonialismus immer für alles die Schuld geben und alles, was | |
sie bekämpft, ist gut. Das führt zu keinem fortschrittlichen Gedanken, | |
sondern dazu, reaktionären Bewegungen wie der Hamas oder dem iranischen | |
Regime etwas Positives abzugewinnen. | |
taz: In Südeuropa oder in Afrika sieht man das teils sehr anders. | |
Kirsche: In Südeuropa ist gerade die radikalere Linke in einem | |
erschreckenden Ausmaß antiisraelisch, in Italien oder Spanien etwa finde | |
ich das kaum zum Aushalten. In Deutschland gab es nach 1989 eine | |
antideutsche Kritik, die sagte, dass dem deutschen Nationalismus und | |
Kapitalverhältnis nach der Shoah besonders der Antisemitismus | |
eingeschrieben ist. Daraus entstand auch eine antikapitalistisch begründete | |
Israelsolidarität als notwendige Konsequenz der Abwehr zukünftiger | |
antisemitischer Attacken. Hätte es diese Debatte nicht gegeben, wären nur | |
rechte und reaktionäre Kräfte mit Israel solidarisch. | |
taz: Aber auch für viele Linke, in- und außerhalb Deutschlands, ist Israels | |
Vorgehen in Gaza völlig inakzeptabel. | |
Kirsche: Aber es ist wichtig, klarzustellen, dass eine Linke, die auf | |
humanistischer Grundlage argumentiert, mit der Hamas nie solidarisch sein | |
kann. Die sind Gegner von Emanzipation, von Befreiung, von einem | |
friedlichen Zusammenleben. Ich bin fassungslos, dass so viele Linke diese | |
Sachen, die sie sonst hochhalten, vergessen, sobald es um Israel geht. Dann | |
frage ich mich, was da eigentlich vorher schiefgelaufen ist. | |
taz: Was glauben Sie denn, was schiefgelaufen ist? | |
Kirsche: Dass Mindeststandards nicht mehr ernst genommen werden: die | |
universalistische Geltung der Menschenrechte, die Anerkennung, dass alle | |
Menschen die gleichen Rechte haben, dass es keine Diskriminierung gibt, | |
dass es keine Ausbeutung geben darf, freie Entfaltung. Misogyne Gewalt, | |
Antisemitismus und Terrorisierung von Zivilbevölkerung stehen allem | |
entgegen, was ich als Linker richtig finde. Deswegen bin ich entsetzt, wenn | |
jemand im Angriff der Hamas ein positives Potenzial sieht. Ich weiß nicht, | |
wie ich mit jemandem diskutieren soll, der so was verteidigt. | |
taz: Wie sollte man damit umgehen? | |
Berg: Solidarität kann zwei Ebenen haben: Die Frage nach Gemeinsamkeiten | |
oder auch Menschenrechte für jene einzufordern, mit denen ich nicht | |
übereinstimme. Auch sie haben ein Recht etwa zu leben und zu fliehen, das | |
ich zu verteidigen versuchen kann. Ich finde es aber auch auffällig, dass | |
Forderungen immer nur in Richtung Israel erhoben werden. All den | |
Palästinafreunden der Region sagt kaum jemand: „Öffnet mal eure Grenzen, | |
macht mal Kontingente auf, um die Zivilbevölkerung da rauszuholen und ihr | |
Perspektiven zu geben.“ Die Palästinenser sind für all die umliegenden | |
Staaten Verhandlungsmasse, um Druck auf Israel auszuüben, nie aber | |
Menschen, denen man Perspektiven im eigenen Land eröffnen könnte. | |
11 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitismus-von-Linken-und-Islamisten/!6015720 | |
[2] /Ein-Jahr-7-Oktober/!6038103 | |
[3] /Antiimperialisten-gegen-Antideutsche/!6038266 | |
[4] /Kritik-an-Postkolonialen-Theorien/!6000114 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
## TAGS | |
Gaza | |
Palästina | |
Linke Szene | |
Postkolonialismus | |
Antiimperialismus | |
GNS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Postkolonialismus | |
Afrika | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gaza-Proteste in Deutschland: Propalästinensische Demos an Unis | |
An einigen Universitäten in Deutschland finden propalästinensische Demos | |
statt. Sollten sie zugelassen werden? Ein Pro und Contra. | |
Kritik an Postkolonialen Theorien: Revanchistischer Kulturkampf | |
Kritik an postkolonialen Theorien hat Konjunktur. Sie mäandert zwischen | |
Bauchgefühl und revanchistischer Identitätspolitik. Zeit für eine | |
Verteidigung. | |
Europas Afrika-Politik: Den Postkolonialismus überwinden! | |
Die päpstliche Forderung, von Afrika die Hände zu lassen, ist zu | |
kurzsichtig. Stattdessen gilt es Hand in Hand die Folgen der Ausbeutung | |
anzugehen. |