| # taz.de -- Klassengesellschaft im Midlife: Aliens mit Arschgeweih | |
| > Eben saß man noch zusammen bei Spaghetti in der WG-Küche. Jetzt sind | |
| > viele Idealist*innen aus dem Mittelstand abgestiegen und die anderen | |
| > reich. | |
| Bild: Ein Klassiker: Spaghetti mit Tomatensauce | |
| Neulich spaziere ich durch Neukölln und renne dabei zufällig in eine kleine | |
| Vintage-Party. Vor der Ladentür eines neuen Pop-up-Stores stehen ein paar | |
| Leute mit Mullet-Frisuren und trinken Schaumwein aus blind gewordenen | |
| Kristallglasschalen. Sagen wir, sie sehen für Berliner Verhältnisse normal | |
| aus, wie so ein bisschen A-a, Alien mit Arschgeweih, deshalb denke ich mir | |
| auch nichts dabei, als ich ihren Shop betrete. Doch beim Blick auf die | |
| Preisschilder zucke ich zusammen. Ein schokobrauner Oversize-Blazer mit | |
| angefettetem Kragen für 412 Euro. What?! Eine Kunstlederjacke in | |
| Schlangenhautoptik für 556 Euro. Sag mal, habt ihr sie noch alle? | |
| So crazy Shit beobachte ich in letzter Zeit öfter. Euer Frappuccino kostet | |
| [1][dank Inflation] mittlerweile so viel wie früher ein ganzes Frühstück. | |
| Danke! Und noch so ein Event, wo es wieder nur um eure Egos auf der | |
| Biennale in Venedig und irgendwelche Geheimtipps für die nächste | |
| Albanienreise geht – bitte nicht mehr einladen. Ich bin zu alt für eure | |
| Clubs und zu jung für eure Kochinseln. | |
| Saßen wir gefühlt eben noch zusammen in der WG-Küche und machten uns über | |
| eine Packung Mirácoli-Spaghetti her, lebt ihr jetzt in stattlichen | |
| Eigenheimen, während sich die andere Hälfte von uns ein solches vermutlich | |
| niemals leisten können wird. Lange empfanden wir, also die heutigen | |
| [2][Mietsklav*innen eurer Immobilien], materiellen Wohlstand für unser | |
| Lebensglück nicht als notwendig. | |
| Ja, wir sahen sogar ein wenig auf euch herab, ihr BWL-Schnullis – und | |
| wendeten uns den wirklich wichtigen Dingen zu: Literatur, Theater, über | |
| Ungleichheit philosophieren, etwas verbessern wollen. Jetzt möchten wir | |
| unseren gerechten Lohn dafür, also [3][mehr Steuern auf absurden Reichtum] | |
| und höhere Gehälter für Geisteswissenschaftler*innen, Kreative und die | |
| sozialen Berufe. In meinem Leben wäre nämlich dringend ein neuer Laptop | |
| fällig. Und ganz ehrlich, warum nicht auch ein kleiner Balkon? Okay, | |
| wenigstens eine Badewanne, die hätte ich gerne. | |
| ## Kein geiles Feeling | |
| Schon klar, wir können darüber streiten, was davon wirklich notwendig ist. | |
| Aber Alter, es ist einfach kein geiles Feeling, wenn man realisiert, dass | |
| man ein Millennial ist und den Lebensstandard der eigenen Eltern niemals | |
| erreichen wird, egal wie viel man arbeitet, und auch ein eventuelles Erbe | |
| das nicht abpuffern wird. | |
| Ein Teil von uns ist finanziell nicht auf-, sondern abgestiegen. Das | |
| Mittelstandsleben, aus dem wir gekrabbelt sind, war für uns so | |
| selbstverständlich und gleichzeitig klaustrophobisch, dass wir darüber | |
| hinausgeträumt haben. Doch dann explodierten die Immobilienpreise, während | |
| die Löhne kaum gestiegen sind. Keine rosigen Zeiten für Künstlerinnen und | |
| Kopfarbeiter, die zufällig kein dickes Kapitalpolster haben. | |
| Möchte ich deshalb eine Halbmachtposition aus dem VW-Management bekleiden | |
| oder mit einer McKinsey-Beraterin tauschen? Auf keinen Fall! Meine Arbeit | |
| ergibt Sinn. | |
| Mal ein bisschen Rich-Kid-Leben ausprobieren, wäre dagegen schon nicht | |
| schlecht. In einem Moment einen auf Bildhauerin machen, um im nächsten die | |
| eigenen Designerklamotten auszusortieren. Dann Wucherpreise dafür | |
| kassieren. Das leicht verdiente Geld in irgendwelche Charityprojekte | |
| stecken und sich im Hass der anderen sonnen – das wäre wie Urlaub. Deshalb | |
| adoptiert mich jetzt endlich, allerwerteste Schnösel, oder ich borg mir mal | |
| euren Hippie-Bus aus und klappere alle Yoga-Retreats zwischen Berlin und | |
| Bali ab. | |
| 26 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Fastabend | |
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