| # taz.de -- Bekämpfung von Aids: Die Revolution wird aufgeschoben | |
| > Der Wirkstoff Lenacapavir verhindert HIV-Infektionen sicher und könnte | |
| > den Kampf gegen Aids verändern. Doch ein Pharmariese sperrt sich. | |
| Bild: Xolile Mhlanga arbeitet mit Proben von Lenacapavir an der Desmond-Tutu-Ge… | |
| Im Kampf gegen Aids hat es sie immer wieder gegeben, die Momente, in denen | |
| Medikamente den Lauf dieser Pandemie grundsätzlich verändert haben. 1987 | |
| zum Beispiel. Die Immunschwächekrankheit wütete ungebremst in den queeren | |
| Communitys von San Francisco bis München, Infektionen und Todeszahlen | |
| stiegen, Panik machte sich breit. Damals wurde mit Azidothymidin (AZT) | |
| erstmals ein Medikament gefunden, das einen Effekt auf HI-Viren zeigte. Auf | |
| Dauer versagte AZT zwar, aber die Forschung hatte einen ersten Erfolg. | |
| 1996 kam der Durchbruch. Zusammen mit [1][zwei weiteren Wirkstoffen] wurde | |
| AZT als kombinierte antiretrovirale Therapie (ART) verabreicht. Durch die | |
| ART konnte das HI-Virus endlich kontrolliert werden. Die Patient*innen | |
| sind damit zwar noch nicht geheilt, aber die Therapie verhindert den | |
| Ausbruch von Aids und drückt die Viruslast so weit nach unten, dass | |
| Ansteckungen unmöglich sind. | |
| Heute steht der Kampf gegen HIV/Aids vor neuen Herausforderungen. | |
| Medizinisch ist HIV zwar längst unter Kontrolle gebracht, doch viele | |
| Menschen, besonders in ärmeren Ländern, erhalten die lebensrettenden | |
| Medikamente nicht. Dadurch bleibt die Zahl der Neuinfektionen hoch, | |
| besonders unter jungen Frauen. Das könnte der neueste Durchbruch ändern. | |
| Lenacapavir heißt der Wirkstoff, den der Pharmariese Gilead aktuell in | |
| mehreren großangelegten klinischen Studien testet. In einer [2][ersten | |
| Studie] zeigte Lenacapavir einen hundertprozentigen Schutz vor | |
| Neuinfektionen, eine [3][zweite Studie] immerhin noch einen Schutz von 96 | |
| Prozent. Das allein ist noch kein Durchbruch, andere Medikamente, die | |
| prophylaktisch verabreicht werden, können ähnliche Ergebnisse erzielen. | |
| Doch der Clou: Lenacapavir muss nicht mehr täglich als Tablette eingenommen | |
| werden, sondern wird zweimal jährlich gespritzt – das kommt fast einer | |
| Impfung gleich. | |
| ## Aids – ein Stigma | |
| „Das würde unsere Arbeit von Grund auf revolutionieren“, sagt Anne | |
| Githuku-Shongwe, Unaids-Direktorin für Ost- und Südafrika. Etwa die Hälfte | |
| der weltweit rund 40 Millionen Menschen, die mit HIV leben, kommen aus | |
| dieser Region. Allein im vergangenen Jahr kamen 400.000 Neuinfektionen | |
| hinzu, 260.000 Menschen starben an Aids, damit war die Region erneut | |
| trauriger Spitzenreiter. | |
| Dabei haben die Staaten der Region in den letzten Jahren große Fortschritte | |
| gemacht, einige erreichen etwa die hohen vorgegebenen Ziele im Bezug auf | |
| die Versorgung mit Tests und Medikamenten. Doch besonders da, wo die | |
| Versorgungslage kritisch, die politische Lage unsicher und die | |
| Diskriminierung hoch ist, hat das Virus noch immer leichtes Spiel, so | |
| Githuku-Shongwe. | |
| „Deswegen ist Lenacapavir für mich ein feministisches Medikament“, erklärt | |
| Winnie Byanyima, die Vorsitzende von Unaids, auf der Weltaidskonferenz in | |
| München. Die Infektion sei nach wie vor mit einem großen Stigma verbunden, | |
| Frauen könnten es sich nicht erlauben, mit den Tabletten erwischt zu | |
| werden. Doch zweimal im Jahr eine Spritze zu bekommen, sei einfacher, | |
| sicherer und logistisch machbarer. Deshalb bringt Byanyima bereits den | |
| Nobelpreis für die Entdeckung ins Spiel. Lenacapavir sei ein maßgeblicher | |
| Baustein, um HIV und Aids endlich zu besiegen. | |
| ## In der EU zugelassen | |
| Bereits im Jahr 2022 wurde Lenacapavir in der EU zugelassen. Damals | |
| allerdings als Medikament bei einer bereits bestehenden HIV-Infektion und | |
| nicht als Prophylaxe vor einer Ansteckung. Trotz Zulassung ist Lenacapavir | |
| in Deutschland nicht auf dem Markt. Das liegt am Preis. Damit dieser vom | |
| Patentinhaber selbst festgelegt werden kann, muss in Deutschland ein | |
| sogenannter Zusatznutzen nachgewiesen werden. Diese Regelung soll | |
| verhindern, dass Pharmaunternehmen viele sehr ähnliche Produkte auf den | |
| Markt bringen und diese als Innovation teuer verkaufen. Ohne Zusatznutzen | |
| darf ein neues Medikament nur zehn Prozent weniger kosten als ein | |
| ähnliches, bereits auf dem Markt befindliches. | |
| Siegfried [4][Schwarze] hat dies für das Magazin der Deutschen Aidshilfe | |
| berechnet. Zum Vergleich zieht er das HIV-Medikament Rukobia heran. Rukobia | |
| ist auf dem deutschen Markt erhältlich und wird von Krankenkassen | |
| übernommen. Das Medikament kostet 31.944 Euro pro Jahr. Zieht man die 10 | |
| Prozent ab, ergibt das für Lenacapavir 28.750 Euro. | |
| Doch das reicht Gilead nicht. Der Konzern verlangt für die beiden Spritzen | |
| rund 40.000 Euro. Dabei ist die Herstellung viel billiger. Andrew Hill, | |
| Pharmakologe an der Universität Liverpool, hat die Rohstoff- und | |
| Produktionskosten ausgerechnet und kommt bei einer Gewinnmarge von 30 | |
| Prozent auf einen Preis von 40 Dollar pro Jahr. Gilead verlangt das | |
| Tausendfache. | |
| Das Unternehmen begründet den hohen Preis mit den Forschungskosten. Seit 17 | |
| Jahren arbeite man an Lenacapavir, und obwohl der Wirkstoff ein großer | |
| Erfolg sei, gebe es auch viele fehlgeschlagene Studien, die bezahlt werden | |
| müssten. Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe, will das so | |
| nicht stehen lassen. „Fantasiepreise“ seien das, was Gilead verlange. Dass | |
| die Kosten für Medikamente die reinen Produktionskosten übersteigen, findet | |
| Wicht legitim, Forschungskosten müssten bezahlt und Gewinne erlaubt sein. | |
| Gilead schieße aber über das Ziel hinaus und sei intransparent in der | |
| Preisgestaltung. Deshalb „erwarten wir von Gilead, dass sie ihre | |
| Kalkulationen offenlegen“, so Wicht. | |
| ## Hohe Kosten | |
| Die Preispolitik weckt Erinnerungen an die anderen großen Durchbrüche im | |
| Kampf gegen Aids. Als die kombinierte antiretrovirale Therapie 1996 der | |
| Infektion endlich ihren Schrecken nahm, war davon in ärmeren Ländern nichts | |
| zu spüren. Für den Globalen Süden waren die Medikamente unbezahlbar. | |
| In Südafrika versuchte die damalige Mandela Regierung die Produktion der | |
| Wirkstoffe im eigenen Land zu geringen Kosten zu ermöglichen – und wurde | |
| umgehend wegen des Bruchs von Patentrechten von 40 internationalen | |
| Pharmakonzernen angeklagt. Der Preis verhinderte die Einfuhr, die Klage die | |
| Eigenproduktion. In den Folgejahren starben bis zu 300.000 | |
| Südafrikaner*innen im Jahr an Aids. Im Jahr 2005 war die | |
| Lebenserwartung auf 53 Jahre kollabiert. | |
| Deshalb fordern Unaids und die Deutsche Aidshilfe, dass Gilead Lenacapavir | |
| für den Patentpool freigibt. Dieser ermöglicht die Herstellung von | |
| Generika, also Nachahmermedikamenten mit identischer Wirkung, für ärmere | |
| Länder. Damit könnte Gilead in den reichen Ländern weiterhin hohe Profite | |
| einfahren und gleichzeitig Abertausende von Infektionen in den besonders | |
| betroffenen Regionen der Welt verhindern. | |
| Gilead zeigt sich grundsätzlich offen für diese Idee, die Verhandlungen | |
| laufen. Der Konzern fordert ein stärkeres Engagement der Staaten. Das | |
| könnte darin bestehen, dass sich reichere Staaten verpflichten, größere | |
| Mengen Lenacapavir abzunehmen. Doch in Zeiten multipler Krisen rückt der | |
| Kampf gegen HIV/Aids vielerorts in den Hintergrund. Damit sinkt auch die | |
| Zahlungsbereitschaft. Die Verhandlungen könnten sich hinziehen. | |
| „Für mich als Frau, die mit HIV lebt, ist es ein Wettrennen gegen die | |
| Zeit“, sagt Yvette Raphael auf der Weltaidskonferenz in München. Sie ist | |
| Vorsitzende von Apha, einer Nichtregierungsorganisation, die gegen HIV und | |
| für die Rechte Betroffener kämpft. „Meine Tochter ist HIV-negativ, und ich | |
| will, dass sie das in zwei Jahren auch noch ist. Deswegen brauchen wir | |
| dieses Medikament.“ | |
| Yvette Raphael rechnet aber nicht damit, dass es eine schnelle Lösung gibt. | |
| Noch vier oder fünf Jahre werde es dauern, bis Lenacapavir auch in ärmeren | |
| Ländern verfügbar werde, sagt sie. Das hält auch Winnie Byanyima, die | |
| Vorsitzende von Unaids, für wahrscheinlich. | |
| Lenacapavir kann eine Revolution im Kampf gegen Aids sein, ein Meilenstein | |
| in der Prävention. Doch die Geschichte hat gezeigt: Das Virus muss man | |
| nicht nur medizinisch, sondern auch politisch besiegen. Denn um wirklich | |
| eine Revolution zu sein, muss Lenacapavir auch die Menschen erreichen, die | |
| es am dringendsten benötigen. Bevor es so weit sein wird, werden noch | |
| einige Jahre vergehen – und sich mehrere Millionen Menschen unnötigerweise | |
| mit dem HI-Virus infizieren. | |
| 27 Sep 2024 | |
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