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# taz.de -- Flucht im Libanon: In Zeitlupe Richtung Sicherheit
> Entlang der Autobahn nach Beirut fliehen Hunderttausende vor den
> israelischen Angriffen auf den Südlibanon. Nicht alle kommen an.
Dahijeh/Beirut taz | Als Zahra ihr temporäres Zuhause nahe Sour, der
südlichsten größeren Stadt des Libanon, verlässt, ist es Montag, etwa 15
Uhr. Zehn Luftschläge habe es in ihrer Nähe gegeben, schreibt sie über
einen Messengerdienst, und dass sie aufbreche, Richtung Norden. Beinahe
zwölf Stunden braucht sie, bis sie mit ihrer Familie und den Hauskatzen die
nördlicher gelegene Stadt Saida erreicht. Etwa 37 Kilometer liegen zwischen
den beiden Orten, über die Autobahn entlang der Küste braucht sie
normalerweise weniger als eine Stunde Fahrtzeit.
Doch wie Zahra und ihre Familie flüchten am Montag Zehntausende, wenn nicht
Hunderttausende, aus dem Südlibanon. Wie viele genau es sind, ist bisher
nicht erhoben. Und die Küstenautobahn – auch in normalen Zeiten so viel
befahren, dass der Verkehr oft ins Stocken gerät – wird zum Nadelöhr. Aus
der Luft aufgenommene Bilder zeigen die Fahrzeugkolonne, die sich auf der
Autobahn entlangzieht: Es gibt nur noch eine Richtung, auf allen sechs
Fahrspuren auf beiden Seiten der Straße staut es sich Richtung Beirut,
Richtung relativer Sicherheit.
Sie fliehen vor der nach libanesischen Angaben tödlichsten Angriffswelle
auf das Land seit Ende des Bürgerkrieges 1990. In der Nacht zum Montag
beginnt das israelische Militär mit seinen Luftangriffen: Vor allem der
Südlibanon und die östliche, an der syrischen Grenze gelegene Bekaa-Ebene
sind betroffen. Am Morgen erhalten viele Bewohnerinnen und Bewohner dort
Nachrichten, abgesendet vom israelischen Militär: Wer sich in der Nähe
eines Waffenlagers der Hisbollah aufhalte, solle das Gebiet sofort
verlassen.
Ein Sprecher des israelischen Militärs erklärt später, in 650
Angriffs-„Runden“ seien mehr als 1.000 Ziele mit Drohnen und
Kampfflugzeugen bombardiert worden. Über 500 Menschen sterben – darunter
auch Frauen und Kinder –, mindestens 1.800 werden verletzt.
## Kleine Flamme brennt auch
Es ist die krasseste Eskalation in diesem Krieg zwischen der schiitischen,
von der Islamischen Republik Iran unterstützten Miliz Hisbollah im Libanon
und Israel: Gleich nach dem 7. Oktober, als Hamas-Kämpfer aus dem
Gazastreifen ihren brutalen Übergriff auf Israel verüben, beginnt auch der
Krieg zwischen den beiden.
Aus dem Libanon fliegen Raketen auf Nordisrael, der Staat evakuiert
schließlich seine Bürgerinnen und Bürger aus dem Grenzgebiet. Bis heute
sind auf israelischer Seite durch den Beschuss mindestens 26 Zivilistinnen
und Zivilisten umgekommen, sowie über 20 Soldaten. Israel wiederum feuert
auf den Südlibanon, nach eigenen Angaben auf Stellungen der Hisbollah. Dort
wurden allein bis zum Beginn der Militärkampagne am Montag über 500
Menschen getötet, davon mindestens 120 Zivilistinnen und Zivilisten.
Der Krieg lodert – im Vergleich zum israelischen Feldzug in Gaza – auf
kleinerer Flamme. Und hat dennoch weitreichende Folgen: Auf beiden Seiten
der Grenze können Menschen nicht zurück in ihre Häuser, viele sind tot oder
verletzt. In der vergangenen Woche erklärt Israel schließlich ein neues
Kriegsziel: Die von der Grenze Vertriebenen sollen zurückkehren. Dafür
müsste sich die Hisbollah von der libanesischen Seite der Grenze
zurückziehen. Um dem Ziel näherzukommen, erhöht das israelische Militär nun
den Druck auf die Miliz, doch auch die macht bisher keinen Rückzieher. Die
Konsequenzen tragen die Fliehenden.
Zahra ist bereits einmal geflüchtet. Eigentlich lebt sie in einem der
Dörfer rund um die Stadt Sour. Als es dort im Laufe des vergangenen Jahres
immer wieder Angriffe gibt, kommt sie mit ihrer Familie in Sour selbst
unter – und muss schließlich weiterziehen.
## Der nächste Angriff kommt
Das Ziel Zahras, die nur ihren Vornamen nennt, ist Chalde, ein Vorort von
Beirut, direkt an der Autobahn gelegen. Ihre Schwester lebt dort, bei ihr
kann die Familie Schutz finden – wie lange sie dort bleiben müssen, wissen
sie nicht. Von Sour nach Chalde sind es etwa 70 Kilometer. Kein Auto habe
sich bewegt, erzählt sie, über Stunden hinweg. Denn irgendwo zwischen Sour
und Saida, wo Zahra in der Nacht zum Dienstag schließlich strandet, gibt es
neue israelische Luftangriffe, ganz in der Nähe der Autobahn, etwa in dem
Dorf Ghasijeh.
Durch Ghasijeh muss nicht nur, wer von Sour die Küstenautobahn Richtung
Norden nimmt, sondern auch wer aus dem Südosten des Landes kommt, aus dem
östlichen Grenzgebiet zu Israel, sowie den israelisch besetzten Golanhöhen.
Als die Familie es schließlich bis Saida – etwa die Hälfte der Strecke bis
Chalde – schafft, ist die Nacht so weit vorangeschritten, dass sie im Haus
des Bekannten eines Bekannten haltmachen.
Der Zustrom von Menschen, die vom Süden aus Beirut erreichen, reißt auch in
der Nacht nicht ab. Von einer Autobahnbrücke in Burdsch el-Baradschneh –
ein Teil der unter dem Namen Dahijeh zusammengefassten schiitisch und damit
auch Hisbollah-dominierten Vororte – lässt sich der Verkehr beobachten:
Selbst um 2 Uhr morgens blenden Richtung Beirut die hellen Lichter vieler
Frontscheinwerfer in die Nacht. Auf der anderen Seite, Richtung Süden, sind
rote Lichter von Rückleuchten seltener zu sehen.
Hinter der Brücke mündet die Autobahn in eine breite Straße, die von
Dahijeh über die Strandpromenade von Westbeirut in den Ostteil der Stadt
und schließlich Richtung Norden aus ihr herausführt. Entlang des Wegs
parken Autos. An einem Kreisverkehr kurz hinter dem Ende der Autobahn
blinken die Warnleuchten der vielen dort parkenden Autos. Ein Mann mit
gelber Weste spricht mit den Vertriebenen. Er ist Teil einer
Nichtregierungsorganisation, die sich um Bedürftige kümmert. Rund ein
Dutzend Menschen umringt ihn.
## Festgefahren an der Strandpromenade
Und an der nachts ansonsten ganz ruhigen und nur von wenigen Shisha
rauchenden Jungs belebten Strandpromenade parken Autos hintereinander.
Manche haben die Innenbeleuchtung angeschaltet, tippen auf ihren
Smartphones. Eine junge Frau sitzt auf der Kante des Gehsteigs, die Arme um
die Beine geschlungen, den Kopf darauf gelegt. Über ihnen leuchten die
Logos der teuren Hotels an der Promenade.
Wer kann, übernachtet bei Freunden, Bekannten, Angehörigen. In den sozialen
Medien teilen die Menschen Angebote für freistehende Zimmer, Wohnungen und
Ferienhäuser – in Beirut oder im Nordlibanon und in den christlich und
drusisch geprägten Bergen des Zentrallibanons. Hunderte US-Dollar kosten
die zum Teil.
Als Israel im vergangenen Herbst über 60.000 seiner Bürgerinnen und Bürger
im Norden des Landes evakuiert, bringt der Staat sie in Hotels unter, zahlt
die Miete für ihre Übergangswohnungen, selbst monatliche Zahlungen erhalten
die Evakuierten. Doch der libanesische Staat ist chronisch bankrott, gilt
als korrupt und versucht, mit seinen limitierten Möglichkeiten dennoch zu
helfen.
Der libanesische Innenminister Bassam Mawlawi wies am Montag an, Maßnahmen
zu ergreifen, „um die Sicherheit der libanesischen Bürgerinnen und Bürger“
sicherzustellen, berichtet die libanesische Zeitung L’Orient Today. Schulen
sollen die Vertriebenen aufnehmen, etwa in Bir Hassan, einem eher
begüterten und als sicher geltenden Teil Dahijehs. Auch auf die nördliche
Großstadt Tripolis oder die tief in den Bergen gelegene Stadt Zahlé sollen
sich die Geflüchteten verteilen.
## Freiwillige versorgen die Menschen im Stau
In Ermangelung eines starken Staates ergreifen Libanesinnen und Libanesen
auch selbst die Initiative: Hassan, der ebenfalls nur seinen Vornamen
nennt, lebt nahe Chalde. Als am Montagnachmittag immer mehr verzweifelte
Nachrichten aus dem Süden ankommen und die Bilder des Staus sich in den
sozialen Netzwerken verbreiten, beschließt er zu helfen. Gemeinsam mit
einem Cousin, Besitzer eines Motorrollers, laden sie so viel Wasser wie
möglich auf und fahren Richtung Süden.
Mit dem schmalen Roller können sie sich durch die Reihen der wartenden
Autos schlängeln. Immer wieder, erzählt Hassan, seien sie hin und her
gefahren. Bis der Verkäufer eines Supermarkts, in dem sie immer wieder
Wasserflaschen nachkaufen, fragt, was sie denn da täten. „Als wir erzählt
haben, dass wir sie an die Menschen aus dem Süden verteilen, hat er uns 20
Kartons geschenkt“, sagt Hassan.
Dass den Menschen im Stau Wasser und Lebensmittel ausgehen, wird immer
wieder in den sozialen Medien berichtet. Zahra hat Glück, weil sie – zwar
spät in der Nacht und nach fast zwölf Stunden im Auto – Saida erreicht.
Manche, so die Berichte in den sozialen Medien, schlafen schließlich in
ihren Autos mitten auf der Straße.
Als ich die letzten Zeilen dieses Textes schreibe, höre ich einen dumpfen
Knall. Ich schalte den Ventilator aus, der mit seinem Brummen die
Außengeräusche beinahe übertönt, und lausche. Gleich kommen die ersten
Meldungen über Telegram: Ein Luftschlag auf Ghobeiry, ebenfalls ein Teil
von Dahijeh, wenige Kilometer entfernt vom Wohnzimmer eines Freundes, in
dem ich diesen Text schreibe.
## 2.000 Geschosse auf das Land
Nach israelischen Angaben gilt der Luftschlag einem wichtigen Kommandeur
der Hisbollah. Es ist der fünfte Luftangriff auf Südbeirut im vergangenen
Jahr. Der vierte erfolgte in der Nacht davor: Am Montagabend zielt das
israelische Militär nach eigenen Angaben auf Ali Karaki,
Hisbollah-Kommandeur der Südfront im Libanon. Nach Angaben der Miliz
überlebt er.
Am Dienstagnachmittag, kurz vor dem Luftschlag in Ghobeiry, meldet das
israelische Militär, dass es die dritte Welle an Angriffen auf
Hisbollah-Ziele im Libanon abgeschlossen habe. Nach eigenen Angaben hat das
Militär bis dahin 2.000 Geschosse auf den Libanon abgefeuert.
Am Dienstagnachmittag gegen 15 Uhr schickt Zahra eine Nachricht: Sie hat es
von Saida nach Chalde geschafft. Noch immer stocke der Verkehr, es gehe nur
langsam voran, schreibt sie. Doch je näher man Beirut komme, desto mehr
Autos fahren von der Autobahn ab, etwa in Richtung der Berge im
Zentrallibanon. Ganz bis zum Haus ihrer Schwester geschafft hat sie es noch
nicht. Auch die Fahrt durch Chalde zieht sich hin. Doch nach etwa 24
Stunden Fahrt auf einer Strecke von 70 Kilometern ist sie ihrem Ziel
immerhin nah gekommen.
24 Sep 2024
## AUTOREN
Lisa Schneider
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