# taz.de -- Mögliche AfD-Regierung in Thüringen: Dann sollen sie doch | |
> Die Forderungen von AfD und BSW sind realitätsfremd. Statt sich vor ihren | |
> Karren spannen zu lassen, sollten die Demokraten sie lieber regieren | |
> lassen. | |
Bild: „Huck Föcke“! – Oder soll man ihn lassen? | |
Meine früheste Begegnung mit Politik fand in der Grundschule statt: Ich | |
wurde von meiner Klassenlehrerin dafür gerügt, dass ich laut gesungen | |
hatte: „Auf der Mauer, auf der Lauer, liegt der Konrad Adenauer. Mit dem | |
Knüppel in der Hand wartet er auf Willy Brandt.“ | |
Das hatte ich irgendwo aufgeschnappt und fand es lustig, an einer | |
katholischen Volksschule in den Fünfzigern jedoch wollte man so etwas nicht | |
gehört haben, obwohl (bzw. weil) es treffend das politische Klima in dieser | |
Zeit beschrieb: | |
Die CDU hatte 1953 plakatiert: „Alle Wege des Marxismus führen nach | |
Moskau!“ Ziel war vor allem die Diffamierung der größten Oppositionspartei, | |
die sich erst 1959 endgültig vom Marxismus verabschiedete. Die unterstellte | |
Nähe zur Sowjetunion sollte dem Wähler einreden, in der SPD werde die | |
Westbindung und der antitotalitäre Konsens der demokratischen Parteien der | |
jungen Bundesrepublik in Frage gestellt: Die Regierung ließ sie, ohne das | |
an die große Glocke zu hängen, geheimdienstlich ausspionieren, und ein Sieg | |
dieser Partei, verkündete der Kanzler, sei „der Untergang Deutschlands“. Im | |
Rückblick natürlich alles Quatsch. | |
Wenn heute das Gleiche über die AfD gesagt wird, so der gängige Duktus, sei | |
das jedoch etwas ganz anderes: schließlich werden hier Gelder vom | |
interessierten Ausland gezahlt und der Typ aus Thüringen, hat ja sogar ein | |
Gericht erlaubt, darf straflos „Faschist“ genannt werden. | |
## Ent-Täuschungsstrategie | |
Die Dämonisierung des politischen Gegners ist üblicherweise das Kennzeichen | |
autoritärer Regime, wie es die Bundesrepublik in den Fünfzigern anfangs | |
tatsächlich war. Heute passt das allerdings eher zu Staaten wie Ungarn oder | |
der Türkei, auf die wir sonst herabsehen, und blockiert das normale | |
demokratische Procedere: dass nämlich großmäulige Ankündigungen von | |
Frieden, Sicherheit usw. sich als leere Versprechungen erweisen, sofern es | |
eine nicht staatlich gegängelte Öffentlichkeit gibt, die das kommuniziert. | |
Diese Strategie kritischer Ent-Täuschung war in den USA, Brasilien und | |
Polen erfolgreich, und auch bei uns konnte zum Beispiel der Spiegel einen | |
AfD-Landrat gerichtlich dazu nötigen, die Nichterfüllbarkeit seiner | |
Wahlversprechen offenzulegen. | |
Die Horrorvision dieser Tage ist der drohende Faschismus, sobald ein Herr | |
Höcke Ministerpräsident geworden ist. Denn sicher wird er dann sofort | |
Buchenwald wieder öffnen, Tausende „Remigranten“ dort festhalten und Putins | |
Schergen ins Land holen. [1][Der Kampf der Demokraten gegen Populismus] | |
wird so unnötig mit Endzeiterwartungen aufgeladen und damit | |
kontraproduktiv: denn statt ihn zu demaskieren, multipliziert man nur den | |
von Höcke selbst gepflegten Nimbus und hilft dabei, ihn zu dem aufzublasen, | |
der er gern wäre. | |
## Es fehlt der Politik an Gestaltungsmacht | |
Wie bei Adenauer mag zwar als griffige Wahlkampfparole taugen, jene Karte | |
zu ziehen, die das absolut Böse anzeigen soll. Es zeigt jedoch, wie | |
unrealistisch die Möglichkeiten von Politik überschätzt werden. | |
Tatsächlich kann die Regierung eines Landes zwar täglich Aufreger | |
produzieren, jedoch weder die Wirtschaft effektiv „steuern“, noch (wie 16 | |
Kultusminister hinreichend bewiesen haben) wirksam beeinflussen, was an | |
Schulen tatsächlich gelernt wird. Nicht einmal die Rückführung abgelehnter | |
Asylbewerber ist ihr möglich, wenn Gerichte das für unzumutbar halten. Und | |
kein markiges AfD-Wahlversprechen wird daran etwas ändern können. | |
Was allen „Alt“-Parteien von rechts bis links daher tatsächlich helfen | |
könnte, ist das öffentliche Eingeständnis, was (das heißt wie wenig) an | |
Veränderungen heute überhaupt möglich ist, ohne noch weitere Schäden | |
anzurichten. | |
Eine ernstzunehmende politische Konkurrenz muss entsprechend aufhören, so | |
zu tun, als könne sie alles viel besser: Ein ehrlicher Konservatismus | |
sollte vor allem Zweifel säen gegenüber jeder Form ideologischer | |
Selbstgewissheit, nicht aber für doofe Wähler Sandmännchen spielen. Denn | |
das Wenige, das Politik heute noch wirksam tun kann, wäre, den von | |
niemandem steuerbaren gesellschaftlichen Wandel „so lange zu verzögern, bis | |
er harmlos“ (oder zumindest erträglich) „geworden ist“. Das wusste berei… | |
der englische Premierminister Lord Salisbury im 19. Jahrhundert. | |
## Verbittert bis zur Bösartigkeit | |
Nicht nur im Osten, sondern überall in Westeuropa sind Populisten | |
erfolgreich. Das liegt daran, dass überall da, wo die Kluft zwischen oben | |
und unten weiter wächst und die vertraute Lebenswelt zerbröckelt, die alte | |
SPD-Formel vom „Fortschritt“, bei dem auch für den „kleinen Mann“ immer | |
etwas abfällt, nirgendwo mehr überzeugt. | |
Gerade die, die an die Möglichkeit eines besseren Lebens geglaubt hatten, | |
neigen darum aus Verbitterung bis hin zur Bösartigkeit dazu, Parteien zu | |
wählen, die hier radikale Lösungen versprechen, wobei sie zwischen rechts | |
und links ziellos umherirren: ob Le Pen oder Mélenchon ist dabei Jacke wie | |
Hose. Und solange sie nicht – wie beim Brexit – am eigenen Leib verspüren, | |
was dabei herauskommt, werden sie auch dabei bleiben. Die Neigung linker | |
Intellektueller, sich als Vormünder solcher „Protestwähler“ aufzuführen, | |
verhindert dabei zuverlässig, dass sie selbst etwas lernen. | |
Was all diese Leute umtreibt, hat mit Politik jedoch wenig zu tun: Es ist | |
die Suche nach dem archimedischen Punkt, von dem aus sich für alle | |
verbindlich Gut und Böse, richtig und falsch unterscheiden ließe. Das | |
Ergebnis ist ein nach Reinheit strebender Moralismus, der sich selbst immer | |
auf der richtigen Seite wähnt. | |
## Dann lasst ihn halt | |
Ich schlage daher vor, in Thüringen nicht nur zu riskieren, sondern sogar | |
zu provozieren, dass Höcke im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten | |
gewählt wird – gerade dann, wenn das BSW an alle demokratischen Parteien | |
weiterhin unerfüllbare Bedingungen für eine Koalition stellt. | |
Ein „[2][Kessel Buntes]“ aller anderen dürfte als Regierungskoalition | |
nämlich kaum besser funktionieren als die Berliner Ampel und riskiert, dass | |
die AfD in fünf Jahren die absolute Mehrheit erreicht. So aber kann die | |
Mehrheit im Landtag die Regierung jederzeit vor sich hertreiben. | |
Sowohl BSW als auch AfD propagieren eindeutige und einfache Lösungen, die | |
es [3][in einer komplexer werdenden Welt] niemals geben kann. Das wird aber | |
erst dann sichtbar, wenn diese Politiker genötigt werden, die bequeme Rolle | |
einer stets besser wissenden Opposition zu verlassen und zum Beispiel | |
zeigen müssen, wie sie es von Dresden und Erfurt aus schaffen wollen, uns | |
Frieden und billiges Gas zu bescheren. | |
10 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Brombeerkoalitionen-aus-CDU-und-BSW/!6032265 | |
[2] /Unvereinbarkeitsbeschluss-der-CDU/!6031425 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Becker | |
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