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# taz.de -- Konzeptalbum von Laurie Anderson: Wagemut und Grenzüberschreitung
> Laurie Anderson veröffentlicht mit „Amelia“ ein Werk über die
> US-Flugpionierin Amelia Earhart. Deren Kampf für Gleichberechtigung
> fließt darin ein.
Bild: Eine Kapriole zu viel: Amelia Earhart (1897–1937)
Als die Pilotin und Flugzeugpionierin Amelia Earhart am 21. Mai 1937 ihre
Propellermaschine vom Typ Lockheed 10-E Electra besteigt, hat sie Großes
vor: Als erster Mensch will die 39-jährige US-Amerikanerin die Erde entlang
des Äquators umrunden. Die 40.000-Kilometer-Route soll Earhart und ihren
Navigator zunächst von Miami aus durch die Karibik und entlang der Ostküste
Südamerikas führen.
Die Vorbereitungen verlaufen holprig, ein erster Rekordversuch war
abgebrochen worden und die öffentlichkeitswirksamen Gefahren des
Unterfangens setzten die bekannte Pilotin zusätzlich unter Druck. Im Jahr
1928 hatte sie, noch als Passagierin, als erste Frau den Atlantik in einem
Nonstop-Flug überquert, vier Jahre später als erste Frau im Alleinflug.
Das wagemutige Unterfangen im Frühling 1937 endete bekanntermaßen tragisch.
Nachdem drei Viertel der Strecke erfolgreich zurückgelegt worden waren,
brach am 2. Juli der Funkkontakt ab und die Electra ging samt Besatzung im
Pazifik verschollen.
## Gründliche Auseinandersetzung
Anderthalb Jahre darauf wurde Earhart für tot erklärt. Ihre
Lebensgeschichte hat neben wilden Theorien über den Flugzeugabsturz auch
zahlreiche Filme und Songs inspiriert. [1][Die gründlichste musikalische
Auseinandersetzung mit ihrem letzten Flug stammt von der 1947 in Illinois
geborenen Musikerin Laurie Anderson.]
Nun veröffentlicht die US-amerikanische Künstlerin ein Album mit Musik
dieses Projekts. In Form von 22 Miniaturen erzählt Anderson in „Amelia“ den
letzten Flug Earharts nach. Angeregt wurde das Projekt schon vor
Jahrzehnten von dem US-Komponisten Dennis Russell Davies als Auftragsarbeit
zum Thema Flug.
Für die Studioaufnahmen dirigiert Davies selbst das philharmonische
Orchester Brno, das die lautmalerische Klangkulisse für Andersons warme
Erzählstimme aufbettet. Die Anfrage an Anderson für eine Zusammenarbeit kam
nicht von ungefähr, hat sich diese doch immer wieder künstlerisch mit
Themen wie Fliegen, Raumfahrt und Schwerelosigkeit auseinandergesetzt.
## Erste Kunststipendiatin der NASA
„Excellent Birds“ etwa ist ein großartiges Duett mit Peter Gabriel,
aufgenommen 1984 für eine per Satelliten-TV ausgestrahlte Videoinstallation
des Medienkünstlers Nam June Paik. 2002 war Anderson erste
Kunststipendiatin der US-Raumfahrtbehörde NASA und entwickelte
währenddessen „The End of the Moon“, eine dem neuen Album ähnliche Mischu…
aus Reisebericht und experimentellem Soundscape.
Auch für die feierliche Zeremonie anlässlich der Schließung des Berliner
Flughafens Tegel im Jahr 2020 lieferte Anderson mit der
Virtual-Reality-Arbeit „To The Moon“ einen künstlerischen Beitrag. Im April
2024 wurde schließlich ein Asteroid im All nach ihr benannt.
[2][Nicht zu vergessen „O Superman“, Andersons Überraschungshit von 1981,
der nordamerikanische Frontier-Romantik mit der Faszination für neue
Technologien vereint und durch ihre von einem Vocoder verfremdete Stimme
seine unverwechselbare Klangcharakteristik bekam.] Durch TikTok-Teasing
wurde [3][„O Superman“] Anfang des Jahres erneut zum Hit. Andersons
verspielte Intonation und die hierarchiefrei zwischen Werbejargon,
Alltagsfloskeln und literarischen Anspielungen pendelnde Formensprache sind
typisch für ihr Œuvre.
## Berufswunsch Pilotin
Dass sie sich für Earharts Lebenswerk begeistert, überrascht daher nicht.
Die Pilotin bestand schon als Teenagerin auf ihrem Berufswunsch und setzte
sich entgegen allen gesellschaftlichen Konventionen durch. Mit steigender
Bekanntheit widmete sie sich als Frauenrechtlerin der Luftfahrt und
forderte Gleichberechtigung im Flug- und Ingenieurwesen.
Earharts rebellische Attitüde, Stilsicherheit und Technikaffinität sowie
der kalkulierte Umgang mit dem medialen Drumherum lassen sie wie eine frühe
Geistesverwandte Laurie Andersons erscheinen. Anderson hatte bei aller
Verwurzelung in Kunst und Experiment nie Scheu vor Popästhetik und
Unterhaltungskultur. Liebevoll bezeichnet sie Earhart als „die erste
Bloggerin“. Aus Earharts umfangreichen Tagebucheinträgen hat Anderson das
Textmaterial für das Album kondensiert.
„Amelia“ beginnt mit Motorengeräuschen, nimmt dann eine Abzweigung in
Richtung repetitiver Minimal-Music-Schleifen und klingt mit Einsetzen von
Andersons freundlicher Erzählweise plötzlich nach vorgelesenem
Lexikoneintrag, ehe schlingernde Streicherlegati das tragische Ende der
Geschichte vorwegnehmen.
## Hörbares Staunen
Damit folgt „Amelia“ den Ereignissen bei dem verhängnisvollen Flug in
chronologischer Reihenfolge, basierend auf Earharts Notizen und vorgetragen
mit der für Laurie Anderson typischen begeisterten Grundhaltung, die sich
auch angesichts von Widerständen immer als hörbares Staunen über die Welt
in ihrer Mannigfaltigkeit ausdrückt.
Dramatische Umstände während der Reise, wie Hitze und Hunger und technische
Probleme, werden eher durch die Musik ausgedrückt, die sich bedrohlich
verdichtet, ohne in filmmusikalische Untermalungsklischees zu kippen.
Ein wenig kitschig wird es gelegentlich auch, aber die einzelnen Stücke
sind so kurz und abwechslungsreich und die Texte so pointiert, dass das
Albumkonzept sich nie weit von seiner Protagonistin entfernt. Anderson
changiert übergangslos zwischen erzählenden und erzählten Rollen, sie
dramatisiert und spekuliert nicht und erhält ihrer Figur so die Würde.
## Entspannt, informativ, berührend
Earhart selbst kommt ebenfalls zu Wort: „This Modern World“ enthält
Originalaufnahmen aus ihrem Radiovortrag „A Woman’s Place in Science“ von
1935. Irgendwo zwischen Hörspielfeature, augenzwinkernder Variation des
vermeintlich weiblichen Genres eines Frauenreisejournals und Filmmusik
angesiedelt, ist Anderson und ihren Mitstreiter:innen ein so entspannt
informatives wie berührendes Werk gelungen.
„Amelia“ zelebriert im buchstäblichen wie übertragenen Sinn
Grenzüberschreitungen, feiert Emanzipation und den Glauben an das positive
Potenzial von Fortschritt und Wissenschaft. Umso paradoxer erscheint es,
dass Laurie Anderson zuletzt wieder durch ihre Unterstützung der
Boykottkampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) auffiel.
Im Januar 2024 hatte sie entschieden, eine Professur an der Folkwang
Universität der Künste in Essen nicht anzutreten. Den zum Bruch mit der
Hochschule führenden Inhalt des „Letter against Apartheid“ hatte die
Künstlerin schon 2021 unterstützt und sich auch 2018 beim Gerangel rund um
Ein- und Ausladung der Band Young Fathers zur Ruhrtriennale öffentlich auf
die Seite der Kampagne gestellt, die israelische Künstler:innen und
Wissenschaftler:innen isolieren will und dafür auf eine Politik der
Einschüchterung setzt.
## Keine Weltverbesserungskunst
„Amelia“ ist kein aktivistisches Album, so wie Anderson ihre Kunst nie als
weltverbesserndes Belehren betrieben, sondern sich mit politischen und
gesellschaftskritischen Inhalten immer auf eine für unterschiedliche
Perspektiven und Wahrnehmungsformen offene Art auseinandergesetzt hat. Ihre
Unterstützung des BDS markiert einen Gegensatz dazu, wo Anderson selbst
ihre Grenzen der Dialogbereitschaft zieht.
Ihrer Bedeutung als eine der wichtigsten Medienkünstlerinnen der letzten
Jahrzehnte tut das keinen Abbruch, es schwingt aber mit auf einem Album,
das den Freiheitswillen und die visionäre Leistung einer Frau thematisiert,
die sich mit gesellschaftlichen Beschränkungen und einer statischen Sicht
auf die Welt nicht abfinden wollte.
29 Aug 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Jana Sotzko
## TAGS
Avantgarde
Luftfahrt
Gleichstellung
Bildende Kunst
Jazz
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