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# taz.de -- Nathan Thrall über Israel und Palästina: „Ich hatte Tränen in …
> In „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ beschreibt Nathan Thrall die
> Situation der Palästinenser. Ein Gespräch über die Entstehung des Buchs.
Bild: Zwei Städte, getrennt durch eine Mauer: die palästinensische Gemeinde A…
taz: Herr Thrall, in Ihrem Buch geht es um einen tragischen Busunfall in
Jerusalem. Dieser Unfall, behaupten Sie, habe aber auch eine politische
Dimension. Können Sie das erklären?
Nathan Thrall: In dem Bus, der verunglückte, saßen palästinensische
Kindergartenkinder. Sie lebten im Großraum Jerusalem, in der von Mauern
umgebenden Gemeinde Anata. Die Hälfte der Menschen dort wohnt in einem
Gebiet, [1][das Israel im Juni 1967 annektiert hat]. Die Menschen zahlen
Gemeindesteuern an Jerusalem, erhalten aber praktisch keine
Dienstleistungen. Sie leben ohne Bürgersteige, Spielplätze und mit
baufälligen Straßen. Sie sind gezwungen, ihren Müll mitten in der Nacht auf
der Straße zu verbrennen. Und genau auf der anderen Seite dieser Mauer in
Ostjerusalem befinden sich wohlhabende jüdische Siedlungen.
taz: Wie erfuhren Sie von dem Unfall?
Thrall: Ich war mit einer palästinensischen Kollegin auf dem Weg nach
Hebron. Wir hörten die Nachrichten über den Unfall im Radio. Von dem Moment
an, als ich die Einzelheiten erfuhr, wurde mir klar, dass er für eine viel
umfassendere Politik steht, die Palästinenser absichtlich vernachlässigt.
taz: Was meinen Sie damit?
Thrall: Die Kinder haben sich darauf gefreut, einen Ausflug zu einem
Spielplatz am Rand von Ramallah zu machen, denn in der ummauerten Enklave,
in der sie lebten, gab es keine Spielplätze. Da die Kinder aus Familien
kamen, die nicht die richtigen Ausweise haben, um einfach zu den
Spielplätzen auf der anderen Seite der Mauer zu gehen, waren sie gezwungen,
einen langen Umweg entlang der Mauer zu nehmen und einen Kontrollpunkt zu
passieren. Kurze Zeit später wurde der Bus von einem riesigen
Sattelschlepper erfasst, wodurch er umkippte und Feuer fing. Sechs Kinder
und ein Lehrer starben.
taz: Wer hat den Opfern geholfen?
Thrall: An diesem Morgen waren ausschließlich Palästinenser auf der Straße
unterwegs. Die Route 4370 ist eine getrennte Straße mit israelischem
Verkehr auf der einen und palästinensischem Verkehr auf der anderen Seite,
sie steht aber unter israelischer Verwaltungs- und Sicherheitskontrolle.
Die Menschen, die den brennenden Bus sahen, waren ganz normale Menschen auf
dem Weg zur Arbeit, die am Straßenrand anhielten und verzweifelt
versuchten, das Feuer zu löschen – mit wenig Erfolg.
Zwei Personen, eine Lehrerin und ein Mann, der in der Nähe wohnte, stiegen
in den brennenden Bus, zogen die rußverschmierten Kinder heraus und setzen
sie auf die Rücksitze von Privatfahrzeugen, die am Straßenrand angehalten
hatten. Die Autos mit den Kindern fuhren in verschiedene Richtungen, je
nachdem welche Rechte die Inhaber hatten. So konnten einige Kinder in die
besseren Jerusalemer Krankenhäuser gefahren werden. Die meisten jedoch
nicht.
taz: Sie nahmen dann Kontakt zu den Eltern der Kinder auf, um mit ihnen
über das Unglück zu reden.
Thrall: Viele Eltern hatten ein großes Bedürfnis, ihre Geschichte zu
erzählen, denn sie lebten in einer Wolke des Schweigens. Ihre eigenen
Verwandten erwähnten den Unfall nicht in ihrer Gegenwart, weil es zu
erschütternd war. Und als ich kam und sagte, ich würde gerne die ganze
Geschichte und Ihre Lebensgeschichte hören, waren sie begierig, sie mir zu
erzählen. Ich war der Erste, der zu ihnen kam und ein bedeutsames Ereignis
darin sah.
taz: Eine besondere Beziehung entwickelten Sie zu Abed Salama, den Vater
des verunglückten Milad.
Thrall: Abed war einer der Ersten, mit dem ich sprach. Von dem Moment an,
als er mir in seinem Haus in Anata seine Geschichte erzählte, dachte ich,
dass er der Mittelpunkt eines Buches sein könnte. Seine Geschichte hat mich
tief bewegt. Ich hatte immer Tränen in den Augen, wenn er erzählte. Auch er
hatte Tränen in den Augen, wegen der Dinge, die ich ihn zu erinnern bat.
Und jedes Mal entschuldigte ich mich bei ihm und sagte: Es tut mir leid,
dass ich das wieder hervorgeholt habe und dir Schmerz bringe. Und er sagte
immer das Gleiche: Entschuldige dich nicht. Ich bin wirklich froh, dass ich
dieses Gespräch führe, weil ich mich meinem Sohn näher fühle. Wenn ich über
ihn spreche, spüre ich, dass er jetzt bei uns ist.
taz: Die Mauer, die Jerusalem trennt, spielt in Ihrem Buch eine große
Rolle. Viele Israelis sehen darin einen effektiven Schutz gegen Terror.
Können Sie das verstehen?
Thrall: Für mich war es sehr wichtig, in dem Buch beide Blickweisen
darzustellen: Sowohl die der Juden als auch die der Palästinenser. So zeige
ich die Perspektive des Architekten dieser Mauer, der ihren Verlauf in
Jerusalem bestimmte und entschied, dass die Mauer die Gemeinde, aus der die
Kinder stammten, umschließen würde. Auch gibt es einen israelischen
Armeechef, der als einer der ersten Israelis am Unglücksort war und der
glaubt, dass die Mauer die israelische Sicherheit erhöht hat. Es gibt aber
einen Unterschied zwischen der Errichtung einer Mauer einerseits und der
Errichtung einer Mauer, die explizit bevölkerungspolitischen Zwecken dient.
Das offen kommunizierte Ziel dieser Mauer war es, im Raum Jerusalem [2][so
viele Palästinenser wie möglich aus dem Stadtzentrum auszuschließen].
taz: Nach dem Busunfall habe es in Israel empathielose Reaktionen gegeben,
schreiben Sie.
Thrall: Einige junge Israelis feierten den Tod der Kindergartenkinder im
Netz unter ihren Klarnamen. Das zeigt die völlige Entmenschlichung der
Palästinenser. Ich behaupte nicht, dass die meisten Israelis so denken,
aber es ist eine wichtige Strömung innerhalb der israelischen Gesellschaft
und sie wird stärker. Heute sehen wir Soldaten, die Videos von sich posten,
in denen sie zivile Infrastruktur in Gaza in die Luft jagen und
Palästinenser demütigen. Politiker sprechen offen genozidal über das
Aushungern von zwei Millionen Palästinensern oder den Abwurf einer
Atombombe auf Gaza. Und der zentristische Präsident Israels sagt, es gebe
keine Unschuldigen in Gaza.
taz: Wie hat sich nach dem Angriff der Hamas auf Israel das Leben in
Ostjerusalem verändert?
Thrall: In Abeds Gemeinde leben 130.000 Menschen in einer ummauerten
Enklave mit zwei Ausgängen. Nach dem 7. Oktober schloss Israel beide
Ausgänge. Es brauchte nicht mehr als vier Soldaten, um 130.000 Menschen
einzukesseln, und seine Familie konnte die Stadt nicht mehr verlassen. Dazu
fielen alle Arbeitsplätze in Israel und den Siedlungen weg. Wie die meisten
Großfamilien im Westjordanland ist Abeds Familie für ihren Lebensunterhalt
auf diese Arbeitsplätze angewiesen, die wesentlich besser bezahlt sind als
die Arbeitsplätze im palästinensischen Sektor. Diese Einschränkung hielt
nicht sehr lange an. Aber die [3][weiteren Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit im Westjordanland] bestehen auch heute noch, und es
dauert jetzt Stunden, um Entfernungen zurückzulegen, die früher eine halbe
Stunde dauerten.
taz: Was hat sich im Westjordanland noch verändert?
Thrall: In den sechs Wochen nach dem 7. Oktober wurden mehr als 1.200
Palästinenser vertrieben und zwangsumgesiedelt. Das Militär setzt bei
Luftangriffen jetzt im Westjordanland Waffen ein, die es seit vielen Jahren
– seit der Zweiten Intifada – nicht mehr verwendet hat, wie Drohnen und
Raketen. Die israelische Armee hat diese Waffen öfter in Gaza eingesetzt,
und jetzt tut sie das auch wieder im Westjordanland.
taz: Die englische Originalausgabe Ihres Buches erschien wenige Tage vor
dem 7. Oktober. Wie kam Ihr Buch danach an?
Thrall: Seit dem 7. Oktober findet im Jerusalem nur sehr wenig kulturelles
Leben statt. Aber Anfang Juli gab es eine Buchvorstellung, bei der Abed und
ich gemeinsam sprechen wollten. Wir haben uns sehr bemüht, von den Behörden
eine Genehmigung für Abed zu bekommen. Letztlich erhielt er aber keine
Genehmigung für eine Veranstaltung, bei der es um sein Leben ging, nur ein
paar Kilometer von seinem Haus entfernt, in der Stadt, in der er
aufgewachsen ist. Es war ein Spiegelbild der Realität, die dieses Buch
beschreiben möchte.
taz: Sie beschäftigen sich auch mit der Geschichte der
israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen. Wie könnte der
Gazakrieg zu einem Ende kommen?
Thrall: Wenn sich die internationale Gemeinschaft um die Gewaltspirale
sorgt, ist sie eher gewillt, Vorschläge zur Lösung zu unterbreiten. Und das
sehen wir heute. Seit dem 7. Oktober zeigen andere Staaten mehr Interesse
an einer Lösung, sowohl in den USA als auch in Europa. In den letzten
Monaten haben europäische Regierungen erstmals den Staat Palästina
anerkannt. Wenn Israel in der Vergangenheit territoriale Zugeständnisse
gemacht hat, tat es das wegen Gewalt seitens der besetzten Bevölkerung oder
wirtschaftlichem oder politischem Druck von außen. Die EU könnte etwa ihr
Assoziierungsabkommen mit Israel infrage stellen. In den USA könnten wir
dazu übergehen, die Hilfe an Israel an Bedingungen zu knüpfen oder
Militärhilfe einzustellen. Davon sind wir noch weit entfernt. Aber diese
Schritte könnten Israels Kosten-Nutzen-Kalkulation ändern.
1 Sep 2024
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## AUTOREN
Leon Holly
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