# taz.de -- Wohnen im Plattenbau: Suhls grüne Betonfestung | |
> Aus der alten Plattenwohnsiedlung am Rande der Stadt Suhl in Thüringen | |
> sind die meisten längst ausgezogen. Doch wer geblieben ist, bleibt | |
> zufrieden. | |
Bild: Die Natur erobert das Wohngebiet zurück | |
Suhl taz | Der kleine weiße SUV rollt den grünen Hang hinauf. Oben auf der | |
Spitze des Berges steht ein kreisförmiges Ensemble von Wohnblöcken. Man | |
sieht es von Weitem; eine Burg oder Festung aus Betonplatten. Ringsherum | |
ist fast alles abgebaut, leer geworden. | |
Eine in der Nähe wohnende Kollegin von der Lokalzeitung und ich biegen in | |
eine Straße ein, die nach oben führt. Sie sagt: „Hier war mal die größte | |
Plattenwohnsiedlung der Stadt. Es gab alles.“ | |
Das Ensemble steht nun allein auf der Spitze eines der Berge, die die | |
[1][ehemalige Bezirkshauptstadt] umrahmen und ausmachen. In den 2000er | |
Jahren wurde das Viertel drastisch rückgebaut; heute ist es weitgehend | |
verlassen. Von der Infrastruktur sind vor allem Zigarettenautomaten | |
übriggeblieben. Um sich das Verschwundene und Zerstörte vorstellen zu | |
können, muss man genau hinschauen. Da fallen einem Indizien auf: Geländer | |
samt Rampen, die ins Nichts führen, rote Metallpunkte, Hydranten, in den | |
von Brombeerranken überwucherten Wegen. Die Natur, mühsam von Rasenmähern | |
im Zaum gehalten, erobert sich das Wohngebiet zurück. | |
Wir fahren in die Mitte des kreisförmigen Ensembles hinein. Während die | |
Wohnblöcke von außen wie eine Festung wirken, entsteht im Inneren ein | |
friedliches Bild: ein grüner Hof mit einfach angelegter Parkanlage. Wir | |
steigen aus dem kleinen SUV. Zwei Frauen um die siebzig in Hosen und | |
T-Shirts stehen im Hof. Die Hände in die Hüften gestützt, unterhalten sie | |
sich. | |
## Die Hofgesellschaft trifft sich | |
Gleich werden wir Zeuginnen einer kleinen Szene. Einzelne Menschen aus den | |
umliegenden Blöcken tropfen langsam in die Mitte. Sie machen kleine | |
Schritte, manche schieben Rollatoren oder tragen ein Sitzkissen. Nach | |
einigen Minuten hat sich eine kleine Gesellschaft von etwa zwölf alten | |
Männern und Frauen im Hof versammelt. Auf der einen Seite nehmen die Frauen | |
unter einem Sonnenschirm Platz, auf der anderen Seite die Männer, deren | |
wackelige Knie mit Tapes gestützt sind. Sie plaudern über Krankheiten, | |
Sport und die Nachbarschaft; einer raucht, ein anderer singt. | |
Die zwei Frauen, die uns neugierig beobachtet haben, kommen auf uns zu. Wir | |
erfahren, dass manche Bewohner:innen sich bei schönem Wetter jeden Tag | |
nach dem Mittagsschlaf hier treffen, gelegentlich bis zu 23 Menschen. Bei | |
besonderen Anlässen werden Bratwürste gegrillt, Männer bekommen ein Bier, | |
Frauen einen Piccolo: „Alles in Maßen. Es wird schon aufgepasst“, sagt eine | |
der Frauen. | |
In den oberen Etagen werden einzelne Fenster geöffnet. Eine andere, | |
ungeformte und lose Gesellschaft – eher ein Publikum – schaut aus den | |
Fenstern in den Hof. Auch wenn nicht alle am Nachmittagsplausch teilnehmen, | |
heißt das nicht, dass sie kein Interesse haben. | |
Die Mitglieder der kleinen Hofgesellschaft gehören zu den Letzten, die noch | |
in diesem Viertel wohnen. Einige von ihnen sind Erstbezieher (1983); sie | |
sind als junge Familien hier eingezogen. Sie haben hart gearbeitet und | |
Kinder im gleichen Alter bekommen und großgezogen. Heute sind die Kinder | |
und Enkelkinder fortgezogen, aber nicht unbedingt weit entfernt. Nun werden | |
sie gemeinsam alt. | |
Man lässt sie vorläufig in Ruhe – sie haben [2][alte DDR-Mietverträge], die | |
bis 2040 gültig sind. Sie gehen nicht mehr weg. „Nach mir die Sintflut“, | |
sagt die eine Frau, und: „Sie müssen mich hier raustragen,“ meint die | |
zweite. | |
Unser Gespräch wird unterbrochen. Ein zehnjähriger Junge mit Schulranzen | |
überquert den Hof. Die Frauen sprechen ihn freundlich an, er solle seine | |
Eltern grüßen. Er wird von einem der Blöcke geschluckt. Er geht zu denen, | |
die wir gerade nicht sehen, die uns aber theoretisch aus den Fenstern | |
beobachten könnten: Jüngere, oft Familien ausländischer Herkunft. | |
Über die Zeit sind neue Nachbar:innen zu den alten DDR-Bürgern gekommen. | |
„Es geht mit ihnen. Wir haben sie erzogen“, meinen die beiden Frauen | |
einstimmig. | |
## Haus 23 kümmert sich um die Älteren | |
Wir können uns gut leiden. Meine Kollegin und ich werden in das Haus Nummer | |
23 reingebeten, zu einer der beiden Frauen. Wir bekommen einen Blick ins | |
Innere der Festung: den vor 30 Jahren installierten Fahrstuhl, den Balkon, | |
die angebrachten Rollos. Manche, die im Hof sitzen, scheinen sich ein | |
bescheidenes Reich errichtet zu haben. In die Wohnung des Hauses 23 holten | |
sich die Bewohner:innen Exotik herein: Sie besitzen acht Papageien und | |
zahlreiche Orchideen, darunter eine seltene Spinnenorchidee. In den Urlaub | |
fahren sie nicht. Dafür gibt es DDR-Bücher in den Regalen, etwa über | |
frühere Olympische Spiele. | |
Bei einer Tasse Kaffee wird das Gespräch fortgesetzt. Was halten sie davon, | |
dass eine Motorradgruppe die ehemalige Einkaufspassage des Viertels | |
erworben hat und sie wiederbeleben will? „Ach! Wer weiß schon, ob es was | |
wird. Es gibt immer wieder Versuche …“, reagiert die eine Frau gelassen. | |
„Wir passen auf“, wiederholen die beiden mehrmals. | |
Obwohl sie selbst nicht mehr die Jüngsten sind, kümmern sie sich um die | |
Älteren im Wohnblockensemble. Sie schreiben Briefe, legen Einspruch bei der | |
Wohnungsgesellschaft ein. Auch politisch wird aufgepasst: „Den einen | |
[3][Reichsbürger] haben wir vergrault. Er soll nicht die alten Männer | |
anquatschen“, sagt eine der beiden bestimmt. | |
Die Mitglieder der Hofgesellschaft fühlen sich nicht – wie meine Kollegin, | |
die täglich zwischen dem Viertel und der Lokalzeitungsredaktion pendelt – | |
genötigt, sich zu rechtfertigen, dass sie hier noch nicht weggezogen sind. | |
Sie schwärmen nicht vom schönen Blick auf die dunklen Berge, von | |
herumhüpfenden Rehen und Füchsen oder von der Ruhe, die oben herrscht. Sie | |
beschweren sich auch nicht. Sie genießen die niedrige Miete und haben sich | |
eingerichtet. | |
## Die Burg bleibt | |
Wenn man in der kleinen, vollgestellten Wohnung sitzt, nimmt man das | |
Äußere, die Festung, kaum wahr. Was wird, frage ich mich, hier | |
festgehalten? | |
Mag sein, dass – trotz aller Veränderungen (Arbeitslosigkeit, ein Jahr zu | |
Hause …) – ein Stück DDR und Erinnerungen daran in dieser Enklave | |
konserviert wird, einfach weiterexistiert und eine Eigendynamik angenommen | |
hat. | |
Wie alle anderen, die nicht zum Wohnensemble gehören – die Pflegekräfte, | |
Sanitäter:innen, Kuriere, der Hausmeister, die Friseurin – fahren wir | |
auch irgendwann mit dem Auto davon. Wir haben uns von der von mündigen | |
Frauen geführten Gesellschaft verabschiedet. | |
Noch sind sie nicht ganz alt, noch fahren sie Auto. Im Rückspiegel | |
erscheint dann noch einmal die von wildem Grün zugewucherte Festung. | |
1 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Thériault | |
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Sehnsuchtsort sein. |