| # taz.de -- Barrierefreies Wohnen: Unter die Räder gekommen | |
| > Hat die Möckernkiez-Genossenschaft die Barrierefreiheit einer Wohnung | |
| > zerstört? Das wirft ihr die Familie einer verstorbenen Bewohnerin vor. | |
| Bild: Rollstuhlgerechte Wohnungen sind Mangelware in Berlin (Symbolbild) | |
| Berlin taz | Das Logo des [1][Kreuzberger „Möckernkiezes“] zeigt | |
| Piktogramme von Menschen – einer davon sitzt im Rollstuhl. Es drückt das | |
| Selbstverständnis der Wohnungsgenossenschaft am Gleisdreieckpark aus: | |
| „gemeinschaftlich und Generationen verbindend, ökologisch, nachhaltig, | |
| barrierefrei und sozial“. Nun ist die Familie einer kürzlich verstorbenen | |
| Bewohnerin an die Presse herangetreten, die Vorwürfe gegen den Vorstand der | |
| Genossenschaft erhebt: Barrierefreiheit werde von diesem „aktiv | |
| verhindert“, eine vorbildlich rollstuhlgerechte Wohnung „zerstört“. | |
| Laut Leena Simon, eine Tochter der verstorbenen Genossin, hatte ihre Mutter | |
| rund 30.000 Euro in Einbauten investiert, um sich ein selbstbestimmtes | |
| Leben im Rollstuhl zu ermöglichen. Zu den „umfangreichen und intelligenten“ | |
| Anpassungen gehörten Podeste, auf denen Möbel oder die Waschmaschine | |
| standen, damit diese den Füßen der Nutzerin beim Heranfahren nicht im Weg | |
| waren, auch unterfahrbare Arbeitsflächen, herausziehbare Schrankablagen und | |
| ein höhergesetztes Sofa. | |
| „All das kann man nicht im Laden kaufen“, sagt Simon. Auch die „AG | |
| Barrierefreiheit“ in der Möckernkiez-Genossenschaft habe die Ausstattung | |
| der Wohnung als modellhaft bezeichnet. Deswegen habe man sich gewünscht, | |
| dass die Wohneinheit wieder an einen auf einen Rollstuhl angewiesenen | |
| Menschen vergeben würde – innerhalb der Genossenschaft oder zur Not an eine | |
| externe Person. Als Abstandszahlung hätte die Familie ein Drittel der | |
| investierten Summe akzeptiert. | |
| Weil laut dem Genossenschaftsvorstand aber keine entsprechenden | |
| BewerberInnen Interesse anmeldeten, wurde die Wohnung an eine Person | |
| vergeben, die mit den Umbauten nichts anfangen kann und ihren Ausbau | |
| verlangte. „Wir bleiben auf den Kosten sitzen und müssen sogar die | |
| Zerstörung der Barrierefreiheit bezahlen“, kommentiert das Leena Simon. Sie | |
| spricht von einem „moralischen Skandal“ und sagt: „Auf dem freien Markt | |
| hätten wir mehr Möglichkeiten gehabt als in dieser angeblich | |
| behindertenfreundlichen Genossenschaft.“ | |
| Von „Zerstörung“ könne keine Rede sein, sagt Ansgar Dietrich vom | |
| Möckernkiez-Vorstand. Es handele sich um eine der Genossenschaftswohnungen, | |
| die als rollstuhlgeeignet eingestuft seien, entsprechend habe man sie | |
| intern ausgeschrieben – „mit dem Hinweis, dass es für | |
| Rollstuhlfahrer:innen einen unmittelbaren Vergabevorrang gibt“. Die | |
| Ausstattung sei mit einer Fotostrecke dargestellt worden, trotzdem habe | |
| sich kein Mitglied beworben, das auf einen Rollstuhl angewiesen ist. | |
| Laut Dietrich labelt die Genossenschaft 220 von 471 Wohneinheiten als | |
| „rollstuhlgeeignet“, auch wenn keine Wohnung „rollstuhlgerecht“ gemäß… | |
| ist. Für diese Wohnungen bekämen BewerberInnen mit Rollstuhl einen direkten | |
| Zuschlag. Anderenfalls diene vor allem die Dauer der Mitgliedschaft als | |
| Kriterium. | |
| Die Vergabe einer Wohnung außerhalb der Mitgliedschaft sei nicht möglich, | |
| so Dietrich: „Das würde den Vergabegrundsätzen und unserer Satzung | |
| widersprechen.“ Er verweist auf „rund 2.000 unversorgte Mitglieder“. | |
| Immerhin habe man entschieden, die sanitären Umbauten der verstorbenen | |
| Bewohnerin zu erhalten und dafür einen Abschlag zu zahlen. | |
| Leena Simon findet, der Fall hätte die Ausnahme einer externen Vergabe | |
| gerechtfertigt. Zumindest habe es der Vorstand versäumt, die Vorzüge der | |
| Wohnung intern offensiv zu bewerben: „Sie haben Fotos ins Portfolio | |
| gestellt, aber in der E-Mail nicht darauf hingewiesen.“ Im Nachhinein | |
| hätten sich drei RollstuhlfahrerInnen aus dem Kreis der Genossenschaft bei | |
| ihr gemeldet, die davon nichts mitbekommen hätten – da war es aber schon zu | |
| spät. Wobei Simon glaubt, dass der Fall bei künftigen Entscheidungen eine | |
| Rolle spielen wird: „Die haben schon gemerkt, dass sie Mist gebaut haben.“ | |
| ## Keine ausreichende Datenlage | |
| Der Fall im Möckernkiez verweist auf eine umfassendere Problematik: In | |
| Berlin gibt es nach Einschätzung der Landesbeauftragen für Menschen mit | |
| Behinderung, Christine Braunert-Rümenapf, immer noch viel zu wenige | |
| Wohnungen, die das Kriterium „uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar“ | |
| erfüllen oder zumindest das weniger ambitionierte Label „barrierefrei“ | |
| verdienen. | |
| In ihrem letzten Bericht zur Situation von Menschen mit Behinderung auf dem | |
| Berliner Wohnungsmarkt von 2019 führte Braunert-Rümenapf aus, dass nur | |
| knapp 1.800 Wohnungen bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften und | |
| in den Sozialwohnungskatastern der Bezirke als uneingeschränkt | |
| rollstuhlgerecht geführt wurden. Im dreijährigen Berichtszeitraum hätten | |
| die landeseigenen Wohnungsunternehmen gerade einmal 59 solcher Wohnungen | |
| errichtet, gleichzeitig seien fast 300 solcher Wohnungen aus der | |
| Belegungsbindung gefallen. | |
| Vor allem problematisch laut Bericht: Die Datenlage bei Wohnungen auf dem | |
| freien Markt sei völlig unzureichend, und der Senat ergreife weder | |
| „hinreichende Maßnahmen zur Verbesserung“ noch schaffe er „zeitgemäße | |
| Instrumente zur Vermittlung barrierefreier und uneingeschränkt mit dem | |
| Rollstuhl nutzbarer Wohnungen“. Im Grundsatz hat sich daran laut | |
| Braunert-Rümenapf zuletzt wenig geändert: „Das ist ein Datenschatz, den wir | |
| nicht heben.“ | |
| Die Berliner Bauordnung sieht nur vor, dass bei Neubauprojekten von | |
| Gebäuden mit mehr als 100 Wohneinheiten eine pro 100 Wohnungen | |
| rollstuhlgerecht sein muss. Die Hälfte der Wohnungen muss barrierefrei | |
| nutzbar sein, und ab 2025 müssen drei Viertel der Wohnungen barrierefrei | |
| erreichbar sein. Ein allgemeines Kataster solcher Wohnungen gibt es nicht, | |
| wie die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung der taz bestätigte. | |
| 27 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
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