| # taz.de -- Die Wahrheit: Auf Waldes Rappen | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (199): Einer der rarsten | |
| > Vögel der Welt, der Waldrapp, dockt höchst gern beim Menschen an. | |
| Bild: Schopenhauer, wie er leibt und lebt: Der Waldrapp (in echt mit noch viel … | |
| Nochmal zu Schopenhauer, aber erst mal zu einem der seltensten Vögel der | |
| Welt, dem Waldrapp, der in Alpenfelsen nistet und in der Toskana | |
| überwintert. Er ist ein etwa gänsegroßer Ibis, „sein kahles Gesicht, der | |
| sichelförmige, rote Schnabel und die strubbeligen Nackenfedern bieten einen | |
| ungewöhnlichen Anblick“, heißt es auf wwf.de. Wegen seines wohlschmeckenden | |
| Fleisches hatte man den Waldrapp fast ausgerottet. Mitte der 1990er Jahre | |
| gab es nur noch 220 Waldrappe in Freiheit, allerdings über 2.000 in | |
| zoologischen Gärten, die sich dort auch vermehrten. | |
| Von daher lag die Idee nahe, mit den Jungvögeln ein „Auswilderungsprojekt“ | |
| zu beginnen. Dazu wurden vier Brutkolonien im bayrischen Burghausen, im | |
| österreichischen Rosegg und in Salzburg sowie in Überlingen am Bodensee | |
| gegründet, wo sie nun von freundlichen Tierpflegerinnen großgezogen werden. | |
| „Wir haben fast mehr Kontakt mit ihnen als mit einem Kind“, erzählte eine, | |
| Christina Brendler, einmal der taz. | |
| Wenn die Jungen in Burghausen flügge werden, sind die erwachsenen Waldrappe | |
| bereits in der Toskana und können sie nicht mehr dort hinleiten. Es den | |
| russischen und amerikanischen Vogelfreunden nachtuend, entschied man sich, | |
| sie durch die Luft dorthin zu geleiten, angeführt von einem Piloten mit | |
| Leichtflugzeug. Und das klappte auch. So gut, dass es 2019 im „EU | |
| geförderten Auswilderungsprojekt“ bereits 130 Vögel gab und allein in dem | |
| Jahr 37 Jungvögel flügge wurden, wie nationalgeographic.de berichtet. In | |
| ihr Winterquartier gelangen sie dem Leichtflugzeug folgend, zurück über die | |
| Alpen fliegen sie im Schwarm. | |
| Dabei wird immer mal wieder einer abgeschossen oder gerät in eine | |
| Hochspannungsleitung und stürzt ab. Hier kommt nun Schopenhauer ins Spiel, | |
| denn so heißt ein schon etwas älterer männlicher Waldrapp, der mit leicht | |
| verletztem Flügel in einer norditalienischen Gartenkolonie notlandete, wo | |
| ihn ein in der Laube zurückgezogen lebender Philosoph namens Matteo | |
| aufnahm. | |
| Zunächst wunderte er sich über diesen Vogel auf seinem Grundstück, dann gab | |
| er ihm etwas zu trinken und fütterte den hungrigen Waldrapp mit | |
| Nacktschnecken aus seinen Gemüsebeeten. Der Vogel blieb und Matteo | |
| freundete sich langsam mit ihm an, wie auch umgekehrt. Schon bald saßen die | |
| beiden abends zusammen auf einer Bank vor der Laube. | |
| Während der Philosoph mit seiner Gartennachbarin, einer türkischen | |
| Änderungsschneiderin namens Leyla, Rotwein trank und sich mit ihr | |
| unterhielt, äußerte der Waldrapp ab und zu mit „interessiertem Blick“ ein | |
| zustimmend gemeintes „Chrrrp“ und schlief dann ein. Matteo streichelte ihm | |
| über das Gefieder. | |
| Von den Ornithologen in Burghausen, die den Vogel beringt hatten, war er | |
| „Gigolo“ genannt worden. Aber das konnte Matteo ja nun wirklich nicht | |
| wissen, der ihn Schopenhauer nannte, zum einen, weil dieser Philosoph ein | |
| großer Tierfreund gewesen war und zum anderen, weil ihm all seine Haare | |
| ähnlich wirr zu Berge standen wie dem Waldrapp die Federn am Hinterkopf. | |
| Dem Vogel Schopenhauer ging es immer besser (einer seiner Flügel war durch | |
| einen Schuss leicht verletzt worden) und schon bald schlief er nachts nicht | |
| mehr auf dem Dach, sondern in der Hütte von Matteo auf einer Couch. Dem | |
| misanthropischen Philosophen gefiel die Freundschaft mit dem Vogel immer | |
| besser. | |
| Seine Nachbarin, Leyla, bekam unterdes über den Ring am Fuß von | |
| Schopenhauer heraus, dass sein Zuhause die Waldrappstation in Burghausen | |
| war. Im Beisein von Matteo rief sie dort an. Der Stationsleiter war froh zu | |
| erfahren, dass der verschollene Gigolo lebte und es ihm gut ging. Er wollte | |
| ihn sogleich mit dem Auto abholen. Aber bevor er noch die Adresse der | |
| Gartenkolonie von Matteo und Leyla erfragen konnte, hatte Matteo schon | |
| aufgelegt. | |
| Der Philosoph wollte seinen Freund Schopenhauer nicht verlieren. | |
| Gleichzeitig war ihm jedoch klar, dass er dem Vogel keinen Gefallen tat, | |
| wenn er ihn bei sich behielt. Dem stand wahrscheinlich eher der Sinn | |
| danach, sich bald wieder mit den anderen Waldrappen in Burghausen zu | |
| vereinen, vielleicht sich auch mit einem Waldrappweibchen dort zu verpaaren | |
| und im Herbst im Schwarm über die Alpen in die Toskana zu fliegen. | |
| Matteo hegte dann kurz die Hoffnung, dass Schopenhauer vielleicht auf dem | |
| Hin- und Rückflug bei ihm in der Gartenkolonie vorbeischauen, Rast machen | |
| würde, aber diese Aussicht war zwar schön, aber allzu vage. Immerhin kommt | |
| so etwas manchmal vor. Erinnert sei an den Pinguin Dindim, den ein einsamer | |
| alter Fischer an der brasilianischen Küste rettete und zu Kräften brachte, | |
| sodass der Vogel sich nach einiger Zeit wieder auf den 8.000 Kilometer | |
| langen Heimweg nach Feuerland machen konnte. Seitdem besucht er jedoch den | |
| Fischer jedes Jahr für einige Zeit. | |
| Matteo entschied sich, den Waldrapp selbst nach Burghausen zu bringen. Auf | |
| diese Weise könnte er noch eine Weile mit ihm zusammen sein und dann sehen, | |
| wie er dort in Bayern, an der Grenze zum Salzburger Land, lebt. | |
| ## Katzenfutter in Dosen für Schopenhauer | |
| Der Philosoph besaß noch ein altes Fahrrad und einen Anhänger, Leyla half | |
| ihm bei der Zusammenstellung seiner Ausrüstung, unter anderem gab sie ihm | |
| ein Smartphone, mit dem er sie täglich anrufen sollte, zur Not würde sie | |
| ihn mit ihrem Auto abholen. Für den Vogel kaufte Matteo Katzenfutter in | |
| Dosen. | |
| Im Übrigen würden sie mehrmals auf der etwa 500 Kilometer langen Strecke | |
| irgendwo übernachten müssen, wo Schopenhauer dann auf einer Wiese seinen | |
| Reiseproviant mit Würmern, Käfern et cetera ergänzen könnte. Matteo besaß | |
| ein kleines Zelt, das er schnell aufbauen konnte und das Schopenhauer dann | |
| unterwegs mit benutzte. Und so kamen die beiden nach einigen Tagen gesund | |
| und munter auf der Waldrappstation an. | |
| Matteo begriff das Abenteuer als Lehrstück für eine „Philosophie als | |
| Lebenskunst“ – so bezeichnet die Autorin Ingeborg Szöllösi in ihrem Buch | |
| „Arthur Schopenhauer. Philosoph des Irrationalen“ (2023) die Grundidee von | |
| „Schopi“, wie sie den Philosophen im Gespräch nennt. Die | |
| Waldrapp-Geschichte erzählt der Psychologe Tom Diesbrock im Roman „Ein | |
| Vogel namens Schopenhauer“ (2024). | |
| Der Ökologe Josef Reichholf hatte dazu bereits grundsätzlich gemeint: | |
| „Tiere, auch solche in freier Wildbahn, müssen zu Individuen mit besonderen | |
| Eigenheiten werden. Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter ihrer Art | |
| betrachtet, sogar von Verhaltensforschern.“ | |
| 12 Aug 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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