# taz.de -- Erfahrung eines „Sextortion“-Opfers: Blanke Erpressung | |
> Er flirtete und schickte Nacktbilder. Dann der Schock: Zahle er nicht, | |
> würden die Fotos verbreitet. „Sextortion“ nennt sich diese Form der | |
> digitalen Gewalt. | |
Bild: Sextortion kommt häufiger vor als vermutet | |
Eigentlich wollte Jamal Burger nach seiner Trennung mal wieder Nähe | |
erleben. „Ich war einsam und habe mich nach Zuneigung gesehnt“, erzählt der | |
29-Jährige. Also wischte er sich durch die [1][Dating-App Tinder]. Links | |
wischen heißt: nein, danke. | |
Rechts wischen heißt: Interesse. Burger wischt, bis jemand seines erwidert: | |
Er hat ein Match. Doch das wird sich als Fake-Profil entpuppen. Burger | |
heißt eigentlich anders. Weil er nicht will, dass sein Umfeld von dem | |
Vorfall erfährt, trägt er in diesem Text ein Pseudonym. | |
Anfangs ahnt der Student nichts. Er flirtet. Die letzten Wochen war er auf | |
sein Studium konzentriert. Burger steht vor dem Drittversuch einer Klausur. | |
Wenn er nicht besteht, fliegt er. Der Flirt mit der Frau von Tinder wäre | |
ein willkommener Lichtblick. Und es läuft gut. Nach zwei Tagen wechseln sie | |
zu Telegram. Es wird privater. | |
Sie sexten, schreiben sich sexuelle Nachrichten. Irgendwann schickt [2][das | |
Fake-Profil] Nacktbilder. Auch Burger soll etwas von sich zeigen. Er | |
zögert. Dann schickt er ein Bild von seinem Penis, [3][ein Dick-Pic]. „Ich | |
bin immer vorsichtig eigentlich, ich weiß nicht, was mit mir passiert ist“, | |
sagt er. Die Profile mit den Bildern der Frau hätten echt gewirkt. Burgers | |
Geschichte lässt sich nicht im Detail überprüfen. Er stützt sie mit | |
Screenshots von Chats. | |
Burgers Gegenüber reicht das eine Penis-Bild nicht. Er soll mehr schicken, | |
diesmal mit Gesicht. „In dem Moment wusste ich, dass es ein Fake ist“, | |
erzählt er. Er blockiert die Nummer. „Ich hatte gehofft, das reicht aus.“ | |
## Digitale sexualisierte Gewalt | |
Was Burger passiert ist, nennt sich „Sextortion“. Dabei bringen | |
Betrüger*innen die Betroffenen dazu, Nacktbilder zu schicken. Sobald | |
sie die Nacktbilder haben, drohen sie, die Bilder an Familie oder | |
Freund*innen zu schicken. Wollen die Betroffenen das verhindern, sollen | |
sie Geld schicken oder andere Dienste leisten. | |
Kerstin Demuth, Expertin für digitale Gewalt vom Bundesverband | |
Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) ordnet Sextortion zwischen | |
Cyberkriminalität und digitaler sexualisierter Gewalt ein. | |
„Es hat Elemente von Gewalt für die Betroffenen, genauso ist es eine | |
kriminelle Erpressung.“ Die Abgrenzung sei schwierig. „Wo Beziehung oder | |
Vertrauensverhältnis ausgenutzt wird, um mit der Erpressung eine Beziehung | |
zu erzwingen oder Sex, dann sind das eindeutig Gewaltdynamiken“, sagt | |
Demuth. Auch wenn Erwachsene Minderjährige mit Sextortion erpressten, sei | |
das ein eindeutiger Übergriff. | |
Das ist keine Seltenheit. Von Oktober 2021 bis März 2023 zählte das FBI in | |
den USA etwa 12.600 minderjährige Betroffene. Die polizeiliche | |
Kriminalstatistik 2023 zählt für Deutschland 3.082 Fälle von „Erpressung | |
auf sexueller Grundlage mit dem Tatmittel Internet“. Nicht bei jedem Fall | |
handele es sich dabei jedoch um Sextortion, schreibt das Bundeskriminalamt | |
auf taz-Anfrage. Genauere Zahlen habe man nicht. | |
„Personen reagieren unterschiedlich auf digitale Gewalterfahrungen“, | |
erklärt Kerstin Demuth. Es könne aber enorm belasten. „Die Leute wissen, | |
was einmal online ist, lässt sich schwer löschen.“ Digitale Gewalt könne zu | |
Ängsten, Schlafstörungen bis hin zu Suizidversuchen führen. Die Daten des | |
FBI zählen 20 Suizide in Verbindung mit Sextortion. | |
So weit kam es bei Burger nicht. Doch auch ihn traf die Erfahrung hart. | |
Burger erzählt seine Geschichte so weiter: Kurz nachdem er ein schlechtes | |
Gefühl bekommen und die Nummer von seinem Flirt auf Telegram blockiert | |
hatte, erreichten ihn Dutzende Nachrichten in anderen Apps. Er solle 200 | |
Euro bezahlen, sonst würde das Penis-Bild bei Familie und Freund*innen | |
landen. | |
Weil auf dem Bild Burgers Gesicht nicht zu sehen ist, hat der Erpresser | |
eine Collage erstellt: in der Mitte das Bild von Burgers Penis, daneben | |
Bilder von seinem Gesicht aus den sozialen Medien. | |
Daneben steht, Burger habe eine Achtjährige belästigt. Für die Vorwürfe des | |
Erpressers gegen Burger gibt es keine Belege. „Ich hatte Angst und habe | |
mich überwältigt gefühlt“, sagt Burger. Mehrere Nächte habe er nicht | |
schlafen können und auch nicht mehr für seine Klausur lernen können. | |
Burger versucht, Zeit zu gewinnen. Dienstag würde er bezahlen, verspricht | |
er dem Erpresser am Sonntagabend. Die folgende Nacht verbringt er in einem | |
Reddit-Forum für Betroffene von Sextortion. Dort bekommt er Tipps: Auf | |
keinen Fall Geld schicken, sonst würden die Erpressenden nur ihre Chance | |
wittern und mehr fordern. Lieber ignorieren. Die meisten drohten nur und | |
veröffentlichten nicht. Täglich berichten Nutzer*innen auf Reddit von | |
Sextortion. Viele sind verzweifelt, manche teilen mit, dass sie unter | |
Suizidgedanken leiden. | |
Die Community beruhigt und gibt Tipps. Unter vielen Posts geben die | |
Urheber*innen danach an, gestärkt zu sein, die Erpressung | |
durchzustehen. „Reddit hat mir sehr geholfen“, sagt Burger. | |
Bei der Recherche stößt er außerdem auf Seiten wie [4][stopncii.org] oder | |
[5][TakeItDown]. Die Dienste sollen verhindern, dass dort gemeldete Bilder | |
hochgeladen werden. Sie generieren eine Art digitalen Fingerabdruck des | |
Bildes. | |
Die Social-Media-Plattformen können damit das jeweilige Bild erkennen und | |
einen Upload blockieren oder bereits hochgeladene Bilder löschen. Kerstin | |
Demuth vom BFF hält die Seiten für seriös. Sie rät Betroffenen, bei Bedarf | |
Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt zu kontaktieren. | |
Burger entscheidet sich, nicht zu zahlen und den Erpresser zu blockieren. | |
Doch der lässt nicht locker. Mit wechselnden Nummern schreibt er Burger. | |
Schickt vermeintliche Screenshots, wie er die Bilder an Freund*innen oder | |
Familienmitglieder von Burger sendet. Doch ein Freund, der eins bekommen | |
haben soll, weiß von nichts. Burger schließt daraus, der Erpresser blufft. | |
Er ignoriert ihn weiter. Verlangte der Erpresser von Burger anfangs noch | |
200 Euro, werden es auf einmal 100, irgendwann noch 40. „Da wusste ich, | |
dass ich gewonnen hatte“, sagt Burger. „Ein bisschen Angst habe ich aber | |
noch.“ | |
Seine Profile in den sozialen Medien und Messengern hält er deswegen | |
deaktiviert. Auf eine gemeinsame Studiengruppe hat er deswegen keinen | |
Zugriff mehr. | |
Ob er jemals wieder ein Dick-Pic verschicken würde? „Das wird mir nie | |
wieder passieren!“, schwört er sich und lacht kurz. „Erst mal nicht – und | |
wenn, dann nur an eine Person, die ich vorher schon persönlich getroffen | |
habe.“ Auch auf Onlinedating habe er erst mal keine Lust mehr. | |
Im Reddit Forum zu Sextortion gibt es eine Umfrage unter den Mitgliedern, | |
warum sie auf die Täuschung reingefallen sind. Sie ist zwar | |
unwissenschaftlich, gibt aber einen Einblick in die Selbsteinschätzung der | |
Betroffenen. So geben von 118 Befragten 49 an, sie seien einfach geil | |
gewesen. 29 sahen Einsamkeit und 14 eine Pornosucht als Grund. Und für 13 | |
war das Versenden der Bilder „normales Onlinedating“. | |
## Sexistische Strukturen | |
Sextortion ist einer der wenigen Bereiche sexualisierter Gewalt, von dem | |
Männer besonders betroffen zu sein scheinen. In ihrem Jahresbericht 2023 | |
schreibt die „[6][Revenge Porn Helpline]“ aus dem Vereinigten Königreich, | |
dass in 93 Prozent ihrer Fälle die Betroffenen männlich seien. | |
In einer Studie zu Jugendlichen in den USA, die 2018 in einer | |
Fachzeitschrift für sexuellen Missbrauch erschienen ist, gaben 5,8 Prozent | |
der befragten männlichen und 4,1 Prozent der weiblichen Jugendlichen an, | |
Sextortion erlebt zu haben. Non-binäre Jugendliche behandelte die | |
Untersuchung nicht. | |
Kerstin Demuth vom BFF weist darauf hin, dass es bei sexualisierter Gewalt | |
immer hohe Dunkelziffern gebe. Sie fordert deswegen mehr | |
Dunkelfeldforschung, sowohl zu Sextortion als auch zu digitaler | |
sexualisierter Gewalt generell. „Ich mutmaße außerdem, dass Frauen eher | |
betroffen sind, wenn die Erpressung im Rahmen von Beziehungen stattfindet“, | |
sagt sie. „Sexistische Strukturen und Denkweisen setzen sich im Digitalen | |
fort.“ | |
Demuth fordert von den Social-Media-Plattformen, dass sie konsequent | |
Inhalte herunternehmen, die nicht einvernehmlich veröffentlicht wurden. Die | |
Plattformen verdienen ihr Geld durch Werbung, die sie zwischen die Inhalte | |
schalten. „Es darf nicht sein, dass Plattformen Geld auch mit gewaltvollen | |
Inhalten gewinnen“, sagt Demuth. | |
Auch die Rechtslage müsse sich ändern. Aktuell sei die in Bezug auf | |
digitale sexualisierte Gewalt ein Flickenteppich. Bayern hat etwa kürzlich | |
über eine Bundesratsinitiative eingebracht, Deepfakes strafbar zu machen. | |
Das reiche nicht, so Demuth: „Digitale sexualisierte Gewalt muss in allen | |
Formen systematisch in das Sexualstrafrecht eingebunden werden.“ Zudem | |
gehörten sexualisierte Gewalt und Übergriffe gesellschaftlich geächtet. | |
„Das umzusetzen, muss auch politische Priorität sein“, sagt Demuth. | |
In Burgers Fall steckt indes eine weitere Form der digitalen Gewalt. Wer | |
ist die Frau, mit deren Bilder Burger getäuscht wurde? | |
Entweder sie ist eine Komplizin oder, was wahrscheinlicher scheint, der | |
Erpresser nutzt ihre Bilder – nicht einvernehmlich –, um damit Menschen wie | |
Burger zu täuschen. Burger scheint aus der Sache herausgekommen zu sein. | |
Die Bilder der Frau werden vielleicht schon wieder für die nächste | |
Täuschung verwendet. | |
25 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Dating-Apps-in-der-Uebersicht/!5739419 | |
[2] /Protestaktion-russischer-TV-Journalistin/!5838751 | |
[3] /Sexualisierte-Gewalt-an-Kindern/!5936603 | |
[4] https://stopncii.org/ | |
[5] https://takeitdown.ncmec.org/de/ | |
[6] https://revengepornhelpline.org.uk/ | |
## AUTOREN | |
Moritz Müllender | |
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