| # taz.de -- Beraterin über Opferhilfe: „Wir sind quasi Lotsen“ | |
| > Die Opferhilfe Niedersachsen erreicht mit ihren elf Anlaufstellen so | |
| > viele Opfer von Straftaten wie nie zuvor. Sie unterstützt nicht nur | |
| > finanziell. | |
| Bild: Oft geht es um häusliche Gewalt: An die Stiftung Opferhilfe können sich… | |
| taz: Frau Lorenz, warum wenden sich immer mehr Menschen an die Opferhilfe | |
| in Niedersachsen? | |
| Silke Lorenz: Wir denken, dass es daran liegt, dass wir von den Menschen | |
| besser gefunden werden. Veröffentlichen wir [1][beispielsweise einen | |
| Jahresbericht], wird über uns berichtet, das kommt bei den Menschen positiv | |
| an. | |
| taz: Es werden also nicht mehr Verbrechen begangen? | |
| Lorenz: Davon gehen wir nicht aus. Aber es gibt natürlich auch immer eine | |
| Dunkelziffer, die uns nicht bekannt ist. Öffentlichkeitsarbeit wird | |
| allerdings in den sozialen Bereichen häufig unterschätzt und | |
| vernachlässigt. Lange Zeit haben wir die sozialen Medien vernachlässigt. | |
| Seitdem wir mehr Präsenz bei Vorträgen, in Arbeitskreisen, bei Ständen und | |
| sozialen Medien wie Instagram und TikTok zeigen, werden wir besser | |
| gefunden. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass man allein durch gute | |
| Arbeit gefunden wird: Man muss sich auch zeigen. | |
| taz: Wenn sich so viele an Sie wenden, müssen Sie schon Menschen abweisen? | |
| Lorenz: Glücklicherweise nicht. Wir hatten mal Ausnahmesituationen wie | |
| Krankheitsausfälle und Urlaub der Kolleg:innen. Bei einem solchen Fall | |
| verweisen wir dann auch an die Kolleg:innen vom Weißen Ring. Aber | |
| dadurch, dass wir kein richtiger Notruf sind, schaffen wir es innerhalb von | |
| ein, zwei Wochen immer, Betroffenen einen Termin anzubieten. | |
| taz: Was machen Sie, wenn sich jemand meldet? | |
| Lorenz: Als erstes fragen wir möglichst sensibel, worum es geht, um uns | |
| selbst vorzubereiten, und vereinbaren dann einen Termin für ein | |
| persönliches Gespräch. Meistens kommen die Klient:innen persönlich in | |
| einem unserer elf Opferhilfebüros vorbei. Wenn das nicht möglich ist, dann | |
| machen wir auch Hausbesuche. Wichtig zu wissen ist, dass die Beratung | |
| kostenfrei ist, wir anonym beraten können und der Schweigepflicht | |
| unterliegen. | |
| taz: In welcher Situation befinden sich die Menschen? | |
| Lorenz: Das ist ganz unterschiedlich. Einige legen sofort los und fragen | |
| nach konkreter Unterstützung und andere wissen überhaupt nicht, was sie | |
| machen sollen. Es kann eine akute Ausnahmesituation sein, in der kurz | |
| vorher etwas passiert ist und nun überlegt wird, ob eine Anzeige gestellt | |
| werden soll – bis hin zu Vorfällen, die 20 oder sogar 30 Jahre | |
| zurückliegen. Meistens haben die Betroffenen die Tat lange Zeit verdrängt | |
| und nicht wahrhaben wollen. Irgendwann kommt dann doch das Bedürfnis, mit | |
| jemandem darüber zu sprechen und dagegen vorzugehen. Das sind häufig Fälle | |
| wie Kindesmissbrauch oder sexuelle Übergriffe, wo die Opfer selbst jung | |
| waren. Bei Frauen, die in jungen Jahren vergewaltigt wurden, kommt es oft | |
| hoch, wenn sie selber Kinder bekommen. Dann wenden sie sich als Mütter an | |
| uns. | |
| taz: Geht es vor allem um finanzielle Unterstützung? | |
| Lorenz: Nein, tatsächlich nicht. Wir haben zwar dieses Privileg, Menschen | |
| durch finanzielle Mittel auffangen zu können, aber grundsätzlich wenden | |
| sich Betroffene erst mal an uns, um sich selbst beraten zu lassen. Wir | |
| fungieren bei unterschiedlichen Fragen als Entscheidungshilfe: Zum Beispiel | |
| [2][ob eine Anzeige gestellt wird] oder nicht, erklären, wie so ein | |
| Strafverfahren abläuft und versuchen aufzuzeigen, was auf die Betroffenen | |
| alles zukommen wird. Auch bei der Frage, ob ein:e Anwält:in oder | |
| Therapeut:in benötigt wird, beraten wir. Es sind ganz unterschiedliche | |
| Fragen, die nach so einer Straftat auf einen einprasseln und da sind wir | |
| quasi Lotsen und begleiten die Opfer in der schwierigen Situation, abhängig | |
| von den individuellen Bedürfnissen. Erst in einem zweiten Schritt kommt die | |
| Frage nach der finanziellen Unterstützung hinzu. | |
| taz: Welche Hilfen bieten Sie konkret an? | |
| Lorenz: Wir fragen zuallererst nach der eigenen Sicherheit: Wurde das Opfer | |
| beispielsweise in der eigenen Wohnung überfallen und die Türe ist kaputt, | |
| wird überlegt, wie man diese sichern kann. Da unterstützen wir auch | |
| finanziell. Oder Frauen, die mit ihrem Kleinkind ins Frauenhaus müssen, | |
| können wir mit einer Soforthilfe für Kleidung und Windeln unterstützen. Wir | |
| finanzieren aber auch überbrückende therapeutische Hilfe, oder | |
| Tatortreinigungen, das wissen viele Opfer gar nicht. Es ist eine ganz bunte | |
| Mischung. | |
| taz: Reicht das Geld? | |
| Lorenz: Nein, definitiv nicht. Wir sind auf Geldbußen und Geldstrafen nach | |
| Gerichtsverhandlungen angewiesen, wenn Täter:innen verurteilt werden. | |
| Wir geben viel Geld aus: Im letzten Jahr waren es etwa 350.000 Euro, das | |
| müssen wir wieder reinholen. Wir sind auch auf Spenden angewiesen. Viele | |
| denken bei dem Wort Stiftung Opferhilfe, dass wir das Geld vom Staat | |
| bekommen, aber das ist nicht der Fall. Bis auf unsere Gehälter müssen wir | |
| das Geld einwerben. | |
| taz: Wie lange besteht dann der Kontakt? | |
| Lorenz: Der Kontakt ist immer individuell an die Bedürfnisse der Opfer | |
| gebunden, mal informieren wir nur kurz, mal arbeiten wir sehr eng zusammen | |
| und begleiten alle kleinteiligen Schritte über Jahre hinweg. Das liegt | |
| daran, dass die Zeitspanne zwischen Anzeige und Gerichtsurteil bis zu | |
| anderthalb Jahre dauern kann. Wenn wir da engmaschig mit psychosozialer | |
| Prozessbegleitung oder Zeugenbegleitung arbeiten, haben wir über einen | |
| langen Zeitraum Kontakt. Meine längsten Klient:innen habe ich sieben | |
| Jahre lang betreut. | |
| taz: Gibt es spezifische Delikte, nach denen sich Menschen häufig bei Ihnen | |
| melden? | |
| Lorenz: Ja, definitiv. Wir haben einen großen Bereich, der das Thema | |
| häusliche und [3][sexualisierte Gewalt] betrifft. Häufig gehen beide | |
| Themengebiete miteinander einher. Auch Körperverletzung ist ein Thema, das | |
| uns immer wieder erreicht. | |
| taz: Gibt es genderspezifische Unterschiede? | |
| Lorenz: Es kommen etwa 80 Prozent Frauen und 20 Prozent Männer zu uns. Der | |
| Themenbereich häusliche Gewalt ist meistens weiblich besetzt, ich gehe aber | |
| davon aus, dass es auch einen großen Dunkelbereich in Bezug auf männliche | |
| Opfer gibt. Ich würde mir wünschen, dass auch mehr Männer uns aufsuchen und | |
| Hilfe annehmen. Im Bereich der Körpergewalt sind männliche Betroffene | |
| präsent. Wir sind oft die einzige Beratungsstelle in Niedersachsen, die | |
| Männerberatung anbietet. | |
| taz: In welchem Alter? | |
| Lorenz: Ein großer Teil der erwachsenen Betroffenen, die sich an uns | |
| wenden, ist zwischen 21 und 64 Jahre alt. Bedauerlicherweise erreichen wir | |
| Senior:innen schlecht. Das liegt vor allem an ihrem Scham- und | |
| Schuldgefühl. Häufig fragen sich Betroffene, ob sie nicht selbst etwas | |
| falsch gemacht haben, dass sie überfallen wurden oder auf den Enkeltrick | |
| hereingefallen sind. Viele fürchten, dass die Kinder denken, sie könnten | |
| nicht mehr alleine in der Wohnung leben. Opfer von Straftaten zu werden, | |
| werten viele ältere Betroffene als Schwäche. Es wäre wichtig, dass mehr | |
| Senior:innen zu uns kommen und sich beraten lassen. | |
| taz: Erreichen Sie jüngere Menschen besser? | |
| Lorenz: Bei Kindern bis dreizehn Jahren ist die Zahl tatsächlich auf das | |
| Doppelte zum Vorjahr gestiegen. Das liegt zum einen daran, dass wir | |
| bekannter werden und zum anderen an der psychosozialen Prozessbegleitung. | |
| Bei Kindern sind es häufig Themengebiete wie Missbrauch und | |
| Sexualstraftaten. Da können wir aufgrund unserer Ausbildung zu | |
| psychosozialen Prozessbegleiter:innen unterstützen. Dass das ein | |
| wichtiges Handwerkzeug ist, ist nun auch in der Justiz angekommen: Wir sind | |
| [4][an der Seite der Kinder] auch bei Gerichtsverhandlungen, bei denen die | |
| Öffentlichkeit, sprich enge Bezugspersonen, ausgeschlossen werden. Dabei | |
| ist es wichtig zu wissen, dass wir professionell ausgebildet sind und so | |
| entlastend und nicht belastend wirken. | |
| 2 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.opferhilfe.niedersachsen.de/nano.cms/jahresberichte | |
| [2] /Justiz-Ungleichheit-in-Pakistan/!6030764 | |
| [3] /Neue-BKA-Zahlen-zu-sexualisierter-Gewalt/!6019343 | |
| [4] /Schutz-Minderjaehriger-vor-sexueller-Gewalt/!6018524 | |
| ## AUTOREN | |
| Johanna Weinz | |
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