# taz.de -- Frankfurter Bahnhofsviertel: Dreckige Wäsche hat jeder mal | |
> Zwischen 14 Waschmaschinen und einer vergilbten Wartebank ist eine ganze | |
> Welt. Ein Besuch in der „Miele Wash World“ im Frankfurter | |
> Bahnhofsviertel. | |
Da schreitet er im Regen den Bürgersteig entlang, mit diesem | |
unverwechselbaren Gang, der ihm die Eleganz eines Dompteurs verleiht. | |
Aufrecht und beschwingt, ganz in Schwarz, die Schuhe, die Hose, das | |
Longsleeve. In seiner linken Hand hält er eine Lidl-Tüte, in der rechten | |
einen aufgeklappten Regenschirm, so tief, dass gerade noch sein Mund zu | |
sehen ist. | |
Vor der offenen Tür des Waschsalons bleibt er stehen. „Miele Wash World“ | |
steht darüber, in großen blauen Buchstaben auf Gelb. Auf der | |
Fensterscheibe, kleiner: „Änderungsschneiderei“, darunter die Illustration | |
einer Nähmaschine. Hier ist das Reich von Ziaullah Haidari, Schneider von | |
Beruf, der nebenbei den Waschsalon betreut. | |
Er klappt den Schirm zusammen und betritt den Raum, der sich in das Gebäude | |
hineinstreckt wie ein Schlauch. | |
Der Schneider läuft vorbei an 14 Waschmaschinen, dem Bezahlautomaten und | |
sechs Trocknern zu seiner Rechten, am Paketschrank, dem Tisch und der | |
vergilbten Wartebank zu seiner Linken, bis zu einer Holztür. Er schließt | |
sie auf und betritt seine Nähstube. Gott habe sie ihm gegeben, wird der | |
Schneider sagen, so wie alles im Leben von Gott bestimmt sei. | |
Der Waschsalon im Frankfurter Bahnhofsviertel liegt in der Moselstraße 17. | |
Vom Eingang aus sieht man das Blinken der rosa Herzlichter der Bordelle; | |
ein paar Häuserblocks weiter ist der Karlsplatz, ein Treffpunkt der | |
Drogenabhängigen, dahinter erheben sich die Türme des Bankenviertels. Der | |
Hauptbahnhof und das Mainufer sind fünf Gehminuten entfernt. | |
Das Bahnhofsviertel ist einer der bekanntesten Rotlicht- und Drogenbezirke | |
Deutschlands, zugleich Party- und Szenetreff. In die Jahre gekommene | |
Kneipen und Stundenhotels teilen sich die Straßen mit neuen Hipsterbars und | |
Spezialitätenrestaurants; dazwischen Kioske, Friseurläden, Reisebüros. | |
Gerade einen halben Quadratkilometer groß, ist es der zweitkleinste | |
Stadtteil Frankfurts und, trotz voranschreitender Gentrifizierung, einer | |
der buntesten. Hier leben nicht nur Menschen Dutzender Nationalitäten, | |
sondern auch unterschiedlichster Schichten zusammen. Der Waschsalon in der | |
Moselstraße ist einer der Orte, an dem sich alle begegnen. | |
Bis zu eintausend Waschsalons gibt es in Deutschland, schätzt der „Verband | |
der Waschcenter Betreiber e. V.“. Gäbe es unter ihnen eine Rangliste der | |
kosmopolitischsten Betriebe, dann läge die Miele Wash World wahrscheinlich | |
an der Spitze davon. | |
Hier schleudern die staubigen Hosen der osteuropäischen Bauarbeiter mit | |
denselben 1.600 Umdrehungen wie die Socken des deutschen Piloten, die Röcke | |
der Roma-Frauen, die Business-Kleidung des indischen IT-Ingenieurs, die | |
weißen Unterhosen des Schwerhörigen, die haarigen Handtücher des Friseurs, | |
die Hemden des ukrainischen Geflüchteten, die Bettlaken der | |
Sexarbeiter:innen, die Kofferladungen der Touristen aus Südkorea, Brasilien | |
oder den USA und der Schlafsack des Obdachlosen, der mal Lkw-Fahrer war. | |
Dreckige Wäsche hat jede:r mal, aber eine Waschmaschine eben nicht. | |
Während die Wäsche in den Waschtrommeln wirbelt, sitzen die Waschenden auf | |
der vergilbten Bank und warten. Es ist ein guter Moment, ihre Geschichten | |
zu erfahren. Wir setzten uns dazu, zehn Tage lang: der Fotograf Florian | |
Sulzer und ich, die Reporterin. | |
## Das Personal | |
Immerzu brennt helles Neonlicht im Salon, auch wenn er geschlossen hat. | |
Offen ist er sieben Tage die Woche, von sechs Uhr morgens bis 23 Uhr. Es | |
riecht nach Waschpulver und manchmal nach Zigarettenrauch. | |
Der Waschsaloninhaber, der noch vier weitere Salons in Frankfurt hat, kommt | |
in der Regel nur einmal im Monat vorbei, um das Bargeld aus dem Automaten | |
zu holen. | |
Um den täglichen Betrieb kümmern sich der Hausmeister Mohammed Zaim und der | |
Schneider Ziaullah Haidari. Auf dem Bezahlautomaten ist ein | |
eingeschweißtes, weißes Blatt angebracht: „bei Reklamation, Herr Zaim“ | |
steht darauf; darunter die Handynummer des Hausmeisters, der Rund um die | |
Uhr zu erreichen ist. | |
Der Schneider ist bis 19 Uhr in seiner Nähstube hinten im Salon zu finden, | |
außer samstags, da kommt er erst um zwei, und sonntags, da macht er frei. | |
Er reinigt die Flusensiebe und Waschmittelfächer, leert die Mülleimer und | |
schaut, dass niemand ratlos vor dem Bezahlautomaten steht. Dafür muss er | |
weniger Miete zahlen. An diesem regnerischen Morgen im Juli sitzt auf der | |
Wartebank ein Mann, auf dem Tisch neben sich hat er einen Kaffee und eine | |
kleine Flasche Likör stehen, Berentzen Apfel. | |
Im Wechsel nimmt er einen Schluck vom Kaffee und vom Korn. Der Schneider | |
legt im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter des Mannes. „Wie geht’s?“, | |
fragt er ihn. „Alles gut“, sagt der Mann und zeigt beim Lächeln seine | |
kaputten Zähne. Ein Tourist kommt herein und fragt den Schneider, ob er ihm | |
helfen könne. Natürlich. „Sechs Kilo pro Maschine“, sagt der Schneider auf | |
Englisch, „oder die große, dann könnt ihr alles zusammen waschen.“ Er lä… | |
den Touristen und seine Freundin ein auf einen Chai. | |
„Where are you from“, fragt der Schneider. | |
„Australia“, sagt der Tourist. | |
„I’m from Afghanistan“, sagt der Schneider. | |
„The land of the lions“, sagt der Tourist, das Land der Löwen, und dass er | |
die afghanische Gastfreundschaft gut kenne. | |
Der Schneider legt das blaue Maßband wie einen edlen Schal um seinen | |
Nacken. | |
## Die Gestrandeten | |
Seine Nähstube hat keine Fenster, nur eine Öffnung in den Salon hinein. An | |
den Wänden teilen sich allerhand Garnrollen den Platz mit einer Weltkarte | |
und eingerahmten Zitaten aus dem Koran. „Ich habe Gott, die haben Geld“, | |
sagt der Schneider. Er ist 42 Jahre alt; bis er 16 war, hat er in Iran | |
gelebt, schon dort hat er als Schneider gearbeitet. Dann kam er nach | |
Frankfurt, im Laderaum eines Lkw, er wollte die Welt sehen und ein Cousin | |
war schon hier. Seit sieben Jahren ist er verheiratet, aus Afghanistan ist | |
auch seine Frau. „So Gott will“, sagt der Schneider, „kommt im Winter uns… | |
erstes Kind.“ | |
Morgens und spätabends kommen meist nur wenige Kunden, aber am Nachmittag | |
und frühen Abend ist der Salon immer voll, besonders an Wochenenden. | |
Dann bringen die Bauarbeiter ihre Monturen vorbei, so wie ein Rumäne, der | |
sich als Andrew vorstellt. | |
Er kommt am Samstagabend kurz vor der Dämmerung, als sich die | |
Leuchtreklamen in den Pfützen spiegeln und der Sommerregen dem Geruch von | |
getrocknetem Dreck und Pisse eine feuchte, modrige Note verleiht. | |
Im Salon waschen vier Touristen; auf dem Tisch neben ihnen liegt ein Joint. | |
„Ich war im Krieg, wir hatten keinen Waschsalon in Kandahar, es hatte 50 | |
Grad draußen“, sagt Andrew auf Englisch und zeigt seine Narbe am linken | |
Bein, von einem Granatsplitter wurde er getroffen. „Ich war 14 Jahre in der | |
Armee, im Kosovo stationiert und vier Mal mit den Nato-Truppen in | |
Afghanistan.“ Jetzt bekomme er Rente, 200 Euro im Monat. | |
Die letzten drei Monate hat er auf dem Bau gearbeitet, sagt er, ohne | |
Vertrag und ohne Gehalt, deswegen sei er seit einer Woche obdachlos. | |
Drei Drogenabhängige kommen in den Salon und sprühen sich mit Männerdeo | |
ein. Der Geruch verdeckt kurz die Waschpulver-Note, dann verfliegt er | |
schnell. | |
„Leute wie ich kommen hierher und arbeiten für einen geringen Lohn“, sagt | |
Andrew, „wir machen dieses Land reich. Arbeitet ein Deutscher auf dem Bau, | |
bekommt er 16,17,18 Euro pro Stunde, ich bekomme elf schwarz, manche neun | |
oder zehn. Alle mächtigen Länder hängen ab von billigen Arbeitskräften“, | |
sagt er, „schau dir doch das Reinigungspersonal in den Hotels an, da siehst | |
du nicht eine einzige deutsche Person.“ | |
„Ich war gerne Soldat“, fährt er fort, „aber der Krieg in Afghanistan ha… | |
keinen Sinn für mich, es wäre anders, müsste ich Rumänien gegen Russland | |
verteidigen. Wenn man die Ukrainer sieht, die mit ihren schicken Autos | |
hierherkommen und nach Hilfe vom Staat fragen –“ | |
Den letzten Satz hat ein junger Mann mitgehört, der mit einem großen roten | |
Sack über der Schulter den Salon betritt. „Sie haben uns wie Hunde | |
behandelt“, sagt er im Vorbeigehen, „sie haben uns in kleine Zimmer | |
gesteckt und die bekommen jetzt Hotels, weil sie Christen sind und wir | |
Muslime.“ Er kommt aus dem Friseurladen um die Ecke und stellt sich als | |
Yunus vor. „Warum leben sie besser als wir damals?“ | |
Seit Jahrzehnten ist das Bahnhofsviertel für viele Zugewanderte die erste | |
Station. Manche bleiben hier, ohne wirklich anzukommen. Wie die | |
osteuropäischen Bauarbeiter, die sich zu viert oder fünft ein Zimmer | |
teilen, wie die ukrainischen Geflüchteten, die in einem Hotel unterkommen | |
und hoffen, bald zurückkehren zu können. | |
## Zwei Frauen | |
Zapp, zapp, machen die Flipflops einer jungen, schmalen Frau; kurze | |
Jeanshose, Nasenring, kein BH unter dem roten, engen Top. | |
Es ist Sonntagabend kurz vor sieben Uhr, weder der Schneider Haidari noch | |
der Hausmeister Zaim sind im Salon. | |
Die Frau geht zu einem grauen Schalenkoffer, der in der Ecke steht. Vor | |
zwei Stunden hat sie ihn dort abgestellt, da waren alle Maschinen belegt. | |
Sie legt Buntes in Maschine Nummer sechs, Bettwäsche in Nummer vier, BHs | |
und helles in Nummer fünf, Schwarzes in Nummer zwei. | |
Vor dem Bezahlautomaten kramt sie in ihrer Handtasche nach Kleingeld, fünf | |
Euro pro Maschine, das Waschpulver kostet 50 Cent. Zwei Kupfermünzen fallen | |
auf den Boden, sie hebt sie nicht auf. Das Pulver schüttet sie direkt in | |
die Trommeln, nimmt ihren Koffer und geht. Eine Stunde und 15 Minuten | |
dauert der längste Waschgang, 45 Minuten der kürzeste, je nach Menge und | |
Temperatur. | |
„Zum Wohl!“, ruft es kurze Zeit später in den Salon, eine blonde Frau tritt | |
schwankend hinein, ihr Gesicht ist verquollen, in der Hand hält sie ein | |
Bierglas. „Ich gehe gleich wieder“, sagt sie, zieht die Tür hinter sich zu | |
und läuft zum hinteren Teil des Waschsalon-Schlauchs, wo in der Mitte ein | |
Stützpfeiler steht. Sie lehnt sich am Boden sitzend daran, der Pfeiler | |
verdeckt sie jetzt, aber ihr Spiegelbild ist in einer Trocknertür zu sehen. | |
Die Frau zündet eine Crackpfeife an. Sie hustet. Kurz darauf kippt ihr Kopf | |
wie in Zeitlupe seitlich nach unten, er zieht den Körper nach, bis sie | |
schräg auf dem Boden liegt. | |
Ein Mann kommt zum Trockner neben ihr, er beachtet sie nicht, rollt | |
Handtuch, Hose, Shirts und Cappy ein; packt alles in eine Kauflandtüte, auf | |
der steht: Heimat neu entdecken. | |
Außer der Schlafenden ist jetzt niemand mehr im Raum. Ob alles okay ist? | |
Sie murmelt vor sich hin: „Ich denke nur nach, in Afrika stirbt jedes | |
Kind…, ich bin Altenpflegerin, ich will mich nur kurz ausruhen …“ | |
Die Trommeln der Waschmaschinen rotieren sanft, sonst ist es still im | |
Salon. | |
Bis die Frau mit den Flipflops wiederkommt. Sie öffnet die Waschmaschinen, | |
zieht gedankenversunken pink- und lilafarbene Bettwäsche raus und legt sie | |
in den Trockner neben dem Balken. Plötzlich stößt sie einen Schrei aus und | |
hält sich das Herz. | |
„Ich wusste nicht, dass da jemand liegt!“, sagt sie geschockt auf Englisch. | |
Sie läuft nach vorne ans Fenster und wieder zurück. | |
Sie wasche einmal die Woche hier, erzählt sie dann und dass sie Natalia | |
heißt. „Ich bin Sexarbeiterin, ich arbeite im Roten Haus, da ist es besser | |
als in den anderen Häusern“, sagt sie, „am Tag kostet das Zimmer 150 Euro.… | |
Den Sonntag mache sie frei, dafür zahlt sie dann 60, damit keine andere | |
Frau ihr Zimmer nimmt. Sie ist jetzt 25 Jahre alt, wegen einer Freundin ist | |
sie vor einem Jahr nach Frankfurt gekommen, vorher war sie in Belgien. | |
Ursprünglich kommt sie aus Rumänien, dort lebt ihre Familie noch, die weiß | |
aber nicht, womit sie ihr Geld verdient. | |
„Gestern war ein Kunde da“, sagt sie, „der hat 600 Euro für drei Stunden | |
gezahlt, ein Pädophiler, die wollen manchmal nur meinen Körper anfassen. | |
Ja, die Pädophilen lieben mich“ – sie dreht ihren Kopf nach oben und lacht | |
ihr helles Lachen – „denn ich sehe aus wie ein Kind.“ | |
## Der Notarzt | |
Um 23 Uhr liegt die Frau, die Crack geraucht hat, noch immer hinter dem | |
Pfeiler und schläft. | |
Da huscht die Schlüsselfee herein. | |
Sie kommt jeden Abend, ist immer in Eile, auffallend schick gekleidet, die | |
lockigen Haare hochgesteckt. In ihrer Hand hält sie einen großen | |
Schlüsselbund, als würde sie die Türen im ganzen Viertel abschließen. Zum | |
Schließen des Salons benutzt sie aber gar keinen; die Automatik greift, | |
sobald sie die Tür fest zuzieht. Morgens um sechs geht die Tür von allein | |
wieder auf, nur zum Zuziehen braucht es eben einen Menschen. | |
Ihren Namen will die Schlüsselfee nicht verraten, auch nicht ihr Alter, sie | |
könnte um die 50 sein. Nachts arbeitet sie am Frankfurter Flughafen in | |
einer Bäckerei, deshalb der Schlüsselbund. Auf dem Weg dorthin schließt sie | |
den Waschsalon. | |
„Oh nee“, sagt die Schlüsselfee, als sie die Schlafende hinter dem Pfeiler | |
entdeckt. Sie beugt sich mit etwas Abstand über sie, und ruft laut „Hallo! | |
Haaaalooo!“ | |
Die Frau rührt sich nicht. „Haaalooo“, ruft die Schlüsselfee immer wieder, | |
„Sie müssen jetzt raus, ich muss hier zuschließen.“ Sie zückt ihr Handy. | |
„Ich ruf sonst die Polizei!“ Keine Reaktion. Sie wählt die 110. | |
„Immer mir passiert das“, sagt die Schlüsselfee, „immer habe ich das Pec… | |
„Haben Sie hier Pfand?“, fragt es von unten zur Schlüsselfee hoch, die auf | |
der Eingangsstufe steht. Der Flaschensammler ist ein gepflegter, | |
mittelalter Mann. | |
„Ich glaube nicht, dass da Pfand ist, nur Spülflaschen“, sagt die | |
Schlüsselfee, „aber wenn Sie wollen, können Sie schauen.“ | |
Er schleicht hinein. | |
„Und wecken Sie doch die Dame mal auf“, fügt die Fee hinzu. | |
Schon steht der Flaschensammler neben der Frau und ruft „Schatzi, hey | |
Schatzi! Aufwachen, die wollen hier zumachen, sonst rufen sie die Polizei!“ | |
Aber sie rührt sich nicht. „Ich helfe dir, ich nehm deine Tasche“, sagt er. | |
Dann stolpert er über ihr Bein. Sie schreit laut, „Ahhh! Verpiss dich!“ | |
„Die schläft doch gar nicht“, sagt der Flaschensammler. | |
„Ich hoffe, dass die Polizei kommt“, sagt die Schlüsselfee. | |
„Sagen Sie, das ist ein Notfall“, ruft der Flaschensammler, „sie hat zu | |
viel Drogen, sie kriegt keine Luft, wenn Sie es so sagen, dann kommen sie | |
sofort.“ | |
„Nee, dann kriege ich Ärger“, sagt die Schlüsselfee, „das ist ne falsche | |
Aussage.“ | |
„Wieso“, fragt der Sammler, plötzlich ganz aufgeregt. „Verstehen Sie, sie | |
hat Atemaussetzer, sie bekommt keinen Sauerstoff, ich mein’s ernst.“ | |
Die Schlüsselfee schaut jetzt besorgt, der Sammler ist in Fahrt, „vier | |
Stufen“, sagt er, „Atemstillstand, Kreislaufstillstand, Herzstillstand, | |
Tod. Und dann heißt es, es war in Ihrem Hause! Wählen Sie 110, ich rede, | |
ich bin drogenabhängig, ich kenne mich da aus, mein Name ist Azimi, ich hab | |
deutschen Pass.“ | |
Vier Minuten später ist ein Krankenwagen da, kurz darauf ein Notarztwagen. | |
Sechs Ärztinnen und Sanitäter gehen in den Waschsalon, ihre Blicke sind | |
ernst, als sie die Frau am Boden untersuchen. | |
Die aber steht auf einmal auf, zieht ihre Hose runter und geht in die | |
Hocke. Das Notfallteam schaut genervt, die Schlüsselfee eilt vor die Tür. | |
Als sie fertig mit Pinkeln ist, stolpert die Frau auf die Straße, als | |
betrete sie einen Alptraum und keine kühle Sommernacht. | |
Die Schlüsselfee schaut ihr hinterher. „Ihre Tasche!“, ruft sie, „sie ge… | |
ohne ihre Tasche raus!“ Aber da ist die Frau schon um die Ecke | |
verschwunden. | |
## Die vielen | |
Jeden Tag kommen neue Kunden zum Waschen herein, manche nur ein einziges | |
Mal, andere regelmäßig. Die meisten sind Männer, viele sprechen nur | |
gebrochen Deutsch. | |
Da ist der Elektriker aus Bosnien. Er hat in einem Waschsalon im hippen | |
Nordend-Viertel seine kroatische Freundin kennen gelernt, als er ihr | |
erklärte, wie das Waschen funktioniert. „Es sind immer die Ausländer, die | |
nicht wissen, wie das geht“, sagt er, „sie verstehen kein Deutsch.“ Er | |
lacht, „ich bin ja selbst Ausländer“. | |
Da ist der durchtrainierte amerikanische Tourist. Er habe früher fürs FBI | |
gearbeitet, sagt er, auch jetzt sei er immer wachsam, unter dem Ärmel | |
seines T-Shirts klemmt ein Kugelschreiber, den könne er wie ein Messer | |
einsetzen, wenn er es bräuchte. | |
Da ist das Model aus Kolumbien mit den rot gefärbten Haaren, ihre bunten | |
Fingernägel sind so lang, dass sie kaum noch auf dem Handy tippen kann. Sie | |
reist mit einem Fitnesstrainer im olivgrünen Nike-Trainingsanzug, der aus | |
Venezuela floh, weil er gegen die dortige Regierung protestierte. | |
Da sind die zwei Roma-Frauen, die mit ihrem eigenen Waschkorb kommen; ihre | |
langen Röcke, mit Gold bestickt, schwingen mit ihren Hüften bei jedem | |
Schritt. Drei Inder im Salon beobachten sie sichtlich entzückt, aber ihr | |
Versuch zu reden scheitert, denn eine gemeinsame Sprache gibt es nicht, da | |
lachen die Frauen. Sie breiten auf dem Tisch ihre Berge von Wäsche aus, sie | |
machen Urlaub hier, übersetzt eine App, vier Erwachsene und acht Kinder, da | |
müssen sie mehrmals die Woche waschen. | |
Da ist der Obdachlose, der den anderen zeigt, wie der Bezahlautomat | |
funktioniert, er hat sein ganzes Hab und Gut auf der Bank verteilt. Er | |
hilft einem Rentner, der drückt ihm dafür zwei Euro in die Hand. Beim | |
Zusammenlegen seiner Wäsche sagt der Rentner: „Deutschland geht kaputt an | |
seiner Gründlichkeit.“ | |
## Der Koran | |
Draußen schüttet es Sturzbäche, sie spülen den Dreck mit Getöse durch die | |
Straßen. Passanten retten sich in Hauseingänge und filmen die plötzliche | |
Flut, als hätten sie noch nie in ihrem Leben so viel Regen gesehen. | |
Drinnen sitzt der Schneider Ziaullah Haidari vor seiner Nähmaschine und | |
liest im Koran: „,Da sagte sie: wie könnte ich einen Sohn bekommen, wo mich | |
kein Mann berührt hat und ich nicht unkeusch gewesen bin?' Wissen ist | |
Licht“, sagt der Schneider, und während er liest, wird das Prasseln des | |
Regens langsam leiser, bis es ganz aufhört. | |
Er steht auf, geht zur Tür und schaut auf die Straße. | |
„Gott hat diese Kraft“, sagt der Schneider. „Es gibt viele Seelen: Steine, | |
Bäume, Menschen, Tiere, jedes Wesen hat eine Bedeutung. Wenn wir sterben, | |
sind unsere Körper tot, aber unsere Seele geht zu Gott.“ | |
Er sieht gerade noch, wie die Sonne rauskommt und die nassen Straßen | |
glänzen lässt. | |
„Es gibt noch ein anderes Leben“, sagt der Schneider, „ein Leben danach.�… | |
Dann verschwindet er wieder, an den Waschmaschinen vorbei, in sein Reich. | |
## Der Maschinen-Doktor | |
Wären da nicht die neuen Waschmaschinen mit den Touchscreens, der | |
Waschsalon sähe aus wie von 1999, dem Jahr, in dem er eröffnet wurde. | |
Selbst die Schilder an der Wand sind noch original; „D-Mark“ ist | |
durchgestrichen, daneben „Euro“ gekritzelt. | |
Ebenfalls ein Original ist der Hausmeister Herr Zaim, der sich auch um die | |
anderen vier Salons des Besitzers kümmert, denn als der 1994 seinen ersten | |
Waschsalon in Frankfurt Höchst übernahm, gab es Herrn Zaim mit dazu, als | |
Bedingung des Vorbesitzers für den Kauf. | |
Herr Zaim ist ein richtiger Tüftler; wenn mal was kaputt geht, wechselt er | |
lieber einzelne Komponenten aus, anstatt was neu zu bestellen, das spart | |
viel Geld. | |
Der geduldige Hausmeister, der immer wieder das Gleiche erklärt, kann auch | |
laut werden, wenn er gehört werden will. Sein „Hallo!“ geht durch Mark und | |
Bein; an diesem Sonntag gilt es einem Mann, der gerade am Bezahlautomaten | |
steht. | |
„Drücken!“, sagt Herr Zaim und zeigt auf den Knopf für das Rückgeld. Denn | |
wenn er den nicht gleich drückt, kommt vielleicht jemand anderes und wäscht | |
mit dem fremden Geld, dann ist der Ärger groß, Herr Zaim hat schon oft | |
Ärger mitbekommen. | |
Er ist nicht mehr so flink wie früher, schließlich ist er schon 70 Jahre | |
alt und hat jetzt zwei Gehilfen für Reparaturen, die er körperlich nicht | |
mehr schafft. Aber die Fäden, die hält er weiter in der Hand. | |
Nach Deutschland kam Herr Zaim, als er 16 war, aus Marokko mit der Fähre | |
über Málaga. Die ersten zehn Jahre arbeitete er auf dem Bau, die nächsten | |
fünf pumpte er Öl in Bremsen bei Opel und stellte dann für 15 Jahre in | |
einer Glasfabrik Medikamentenflaschen her. „Ich mag es, das Arbeiten“, sagt | |
Herr Zaim, „wenn ich aufhöre zu arbeiten, dann ist es vorbei.“ Tauschen mit | |
seiner Frau, das wollte er nie, sie kümmerte sich um ihre zwei Töchter und | |
zwei Söhne. Lieber zehn Stunden arbeiten als vier Stunden mit den Kindern | |
im Haus“, sagt er, dabei werden seine ernsten Gesichtszüge ganz weich, „ich | |
hab Glück mit den Kindern, sie arbeiten alle.“ | |
## Der letzte Waschgang | |
Der Schneider sitzt auf seinem Drehstuhl vor der Nähmaschine und hört sich | |
beim Arbeiten Youtube-Videos eines iranischen Predigers an. | |
Es ist Anfang August, der Tag neigt sich dem Ende zu. | |
„Es gibt einen Beweis dafür, dass es den Teufel gibt“, sagt der Schneider, | |
er kneift die Augen zusammen und sagt: „Teuflische Gedanken. Wenn man zum | |
Beispiel jemanden schlagen will oder umbringen“, er zögert kurz, „oder | |
küssen. Das alles sind Gedanken, die vom Teufel kommen.“ | |
„Ich finde es schlecht, über andere Menschen zu urteilen“, sagt der | |
Schneider, aber wenn er mal schlechte Gedanken habe, werfe er ein paar Euro | |
in eine Spardose, das Geld gibt er einem Bekannten mit, der nach | |
Afghanistan geht. Der spendet es dort Waisenkindern, zum Beispiel letzten | |
Monat, da kamen 80 Euro zusammen. Der Schneider holt vom Tisch eine kleine | |
braune Dose, sie hat die Form eines Koffers, die Ernsthaftigkeit ist aus | |
seinem Gesicht verschwunden, er hält die Spardose hoch und lacht, „die habe | |
ich auf dem Flohmarkt gefunden.“ | |
Nach Feierabend zieht er seine schwarze Jacke über sein hellblaues Hemd. Er | |
schließt die Holztür zu seinem Laden ab, lässt die Trockner links liegen | |
und tritt nach draußen. Die Tür des Waschsalons bleibt offen. | |
Die Abendsonne taucht das Bahnhofsviertel in warmes, verzeihendes Licht. | |
Der Schneider lächelt. Er schreitet davon. | |
10 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Laila Sieber | |
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