# taz.de -- Syrisches Dialogtreffen in Berlin: Die Suche nach einem Ausweg | |
> Einflussreiche Syrer haben sich in Berlin getroffen. Auch Vertreter aus | |
> Regimegebieten ließ das Assad-Regime nach Deutschland ausreisen. | |
Bild: In Damaskus hat Präsident Baschar al-Assad alles im Blick, Straßenszene… | |
An diesem Dienstagvormittag im Hinterzimmer eines Berliner Hotels geht es | |
um die syrische Identität. Draußen ziehen Touristen ihre Rollkoffer hinter | |
sich her, ein Kellner stellt seine Cafétische auf den Bürgersteig. Drinnen | |
im holzvertäfelten Besprechungsraum sind die Kaffeetassen schon geleert. | |
„Wollen wir unsere verschiedenen Identitäten verschleiern oder multiple | |
Identitäten zulassen, etwa im Religionsunterricht?“, fragt eine | |
Teilnehmerin. „Auf keinen Fall verschleiern“, sagt ein anderer. Diversität, | |
das müsse der Ausgangspunkt sein. | |
13 Jahre nach Ausbruch des Syrienkriegs haben längst andere Konflikte das | |
Land aus den globalen Schlagzeilen verdrängt. Doch eine [1][Lösung steht | |
weiter aus]. Das Regime von [2][Baschar al-Assad] hat nur zwei Drittel des | |
Landes von Aufständischen zurückerobert; zwischen den unterschiedlichen | |
Herrschaftsbereichen verschieben sich die Grenzen schon seit Jahren nicht | |
mehr. Was aber die Versammelten in Berlin beschäftigt: Auch | |
gesellschaftlich ist Syrien ein Flickenteppich und Trümmerhaufen zugleich. | |
Der Krieg, die jahrelange Gewalt und Hetze wirken nach, [3][in den Köpfen], | |
in den Herzen. | |
Vor mehr als zehn Jahren, nachdem Assad zunächst friedliche Proteste brutal | |
niederschlagen ließ und einen landesweiten Aufstand provozierte, trafen | |
sich – ebenfalls in Berlin – einflussreiche Oppositionelle, um mit | |
Unterstützung der Bundesregierung Grundlagen für einen politischen Übergang | |
zu legen. Pläne für den „Tag danach“ wollten sie schmieden, für die Zeit | |
nach dem erwarteten Sturz des Diktators. Dass der „Tag danach“ noch kommen | |
wird, davon scheint in dem Berliner Besprechungszimmer in der ersten | |
Juniwoche 2024 keiner mehr auszugehen. | |
Die Gruppe, die nun in Berlin zusammengekommen ist, ist schwer zu fassen. | |
Auffällig viele der Versammelten stammen aus Tartus, also aus dem vom | |
Regime kontrollierten Gebiet, und sind für das Treffen nicht etwa aus dem | |
Exil angereist, sondern aus Syrien selbst. Die Stadt an der Mittelmeerküste | |
ist eine Hochburg der Alawiten, jener Bevölkerungsgruppe, zu der auch Assad | |
gehört. Wenn man den komplexen Syrienkonflikt herunterbrechen müsste, dann | |
wären die Alawiten als gesellschaftliche Basis des Regimes der Antagonist | |
der syrischen Opposition, zu der besonders viele Sunniten zählen. | |
Doch genau diese konfessionellen, ethnischen und ideologischen Gräben | |
möchte die Gruppe überwinden. Sie nennt sich „Rat der syrischen Charta“. | |
Die Original-Charta mit ihren elf Prinzipien liegt auf dem Tisch. Zu den | |
Unterzeichnern gehören neben Alawiten und Sunniten auch [4][Kurden], | |
Christen und Turkmenen. Die Oppositionelle Basma Kodmani, die letztes Jahr | |
in Paris verstorben ist, hat unterzeichnet, wie auch der Islamgelehrte und | |
Ex-Parlamentsabgeordnete Mohammed Habash, der 2012 in die Emirate | |
auswanderte. | |
Nach Berlin gekommen ist dieses Mal die Richterin Iman Shahoud, aus ihrem | |
schwedischen Exil. Auch Mitglieder altehrwürdiger Großfamilien sind | |
vertreten „Familien, nicht Stämme!“, betont ein Anwesender. Gemeinsam | |
meinen sie, die syrische Gesellschaft zu repräsentieren, auch wenn hier | |
natürlich keiner irgendwie gewählt worden ist. | |
## Willkürliche Verhaftungen und systematische Folter | |
„Diese Initiative bringt alle Teile der Gesellschaft zusammen, die im In- | |
und Ausland Einfluss haben“, sagt ein Teilnehmer mit tiefer Stimme. Wie | |
alle im Raum hat er sich zwar namentlich vorgestellt, mit ihrem Klarnamen | |
in der Zeitung stehen wollen aber nur wenige. Was die Versammelten vereint, | |
ist die Überzeugung, dass es in Syrien so nicht weitergehen darf. Dass es | |
möglich ist, etwas zu verändern. | |
Der erste Artikel ihrer Charta, die 2017 unterzeichnet wurde, lautet ganz | |
einfach: „Einheit der syrischen Territorien“. Das klingt wenig kontrovers, | |
ist aber bedeutsam. Derzeit haben im Nordwesten Syriens islamistische | |
Rebellen und protürkische Milizen das Sagen, während sich kurdisch | |
dominierte Kräfte im Nordosten einen von Damaskus unabhängigen Quasi-Staat | |
aufgebaut haben. Sie streben zwar offiziell nicht nach kompletter | |
Unabhängigkeit, aber das Autonomiegebiet werden sie sich freiwillig nicht | |
wieder nehmen lassen. | |
Am meisten Sprengstoff birgt Artikel 5: „Rechenschaftspflicht“, heißt es | |
da, „ist der Schlüssel zum Wiederaufbau des Landes. Dies darf nicht mit | |
Rache oder kollektiven Anschuldigungen verwechselt werden. | |
Rechenschaftspflicht ist individuell. Kein Mitglied einer Gemeinschaft darf | |
für die Untaten eines Angehörigen oder Mitglieds seiner Gemeinschaft | |
verurteilt werden.“ Wer die Forderung nach Rechenschaft weiterdenkt, landet | |
schnell bei hohen Vertretern des Assad-Regimes, das mit willkürlichen | |
Verhaftungen, systematischer Folter und zahlreichen Kriegsverbrechen seit | |
Jahren die eigene Bevölkerung terrorisiert. | |
In der ersten Sitzung im Jahr 2017 hätten Exil-Oppositionelle und Alawiten | |
aus Syrien getrennt gesessen, erinnert sich der deutsch-syrische Jurist | |
Naseef Naeem, der die Gespräche damals moderierte und auch jetzt wieder am | |
Kopfende des Tisches Platz genommen hat. Aber damit sei es schon nach der | |
Raucherpause vorbei gewesen. | |
## Im Visier der Regierung | |
„Das Regime“, sagt Naeem, „kommt nicht vom Mars, sondern aus der Mitte der | |
Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, dass das vielen in Europa nicht bewusst | |
ist.“ Aber unabhängig von der Frage, ob Assad an der Macht bleibt, müsse | |
man sich fragen, wie die miserable Lage in Syrien zu managen ist. Den Zweck | |
des „Rats der syrischen Charta“ sieht er darin, sowohl den Syrern als auch | |
der internationalen Gemeinschaft vor Augen zu führen, dass Verständigung | |
auf gesellschaftlicher Ebene durchaus möglich ist. | |
Die Bundesregierung erklärte auf taz-Anfrage, ihr sei die Initiative | |
bekannt und sie unterstütze „die Zielsetzung, eine innersyrische Plattform | |
zu bieten, die langfristig einen Beitrag zu einer politischen Lösung | |
leisten kann.“ Man sei aber nicht involviert. | |
„Wenn irgendwann all die bewaffneten Gruppen abgezogen sind, werden die | |
Syrer [5][mit all ihrem Leid auf sich allein gestellt sein]“, sagt Faissal | |
Mulhem aus Tartus. Darauf müsse man sich vorbereiten. Mulhem ist einer der | |
wenigen aus Syrien Angereisten, die ihren Klarnamen freigeben. Dem | |
syrischen Regime, sagt er, sei die Initiative ohnehin bekannt. | |
Dass die Verantwortlichen in Damaskus wissen, was vor sich geht, zeigte | |
sich vergangenes Jahr. Im Herbst musste ein Treffen fast ausschließlich mit | |
Exil-Syrern stattfinden. Die Teilnehmer aus Syrien wurden an der Ausreise | |
gehindert und mussten sich beim Geheimdienst melden. Dieses Mal lief | |
dagegen alles glatt. „Sie lassen uns machen“, sagt der Mann mit der tiefen | |
Stimme selbstbewusst, weil man auch in den Reihen des Regimes wisse, dass | |
es so nicht weitergehen kann –„weil es einen Exitplan aus der Krise | |
braucht.“ | |
15 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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