| # taz.de -- Film „Ein Schweigen“ über Missbrauch: Nicht mit der Sprache he… | |
| > Der Film „Ein Schweigen“ von Joachim Lafosse erzählt von einem belgischen | |
| > Missbrauchsfall. Die Handlung bleibt angedeutet, die Kamera auf Distanz. | |
| Bild: Ein Anwalt im Fokus der Medien: François Schaar (Daniel Auteil) in „Ei… | |
| Mit einer Autofahrt eröffnet der Film. Von der Frau, die fährt, sieht man | |
| kaum mehr als die Augen im Rückspiegel, eine gezielte Indirektheit, das ist | |
| und bleibt die Methode des Films. Die Unruhe der Frau ist spürbar, sie ist | |
| unterwegs zu einem Polizeirevier. | |
| Etwas Schreckliches ist geschehen, ihr Teenager-Sohn wurde verhaftet. Was | |
| genau da passiert ist, was dazu geführt hat und wer hier die Schuld woran | |
| hat, was also die Hintergründe der Tat sind und die Tat selbst – das alles | |
| bleibt lange so unklar wie das Leben auf der Straße, das die Kamera bei der | |
| Autofahrt in der Unschärfe hält. | |
| Von diesem Beginn, der die Sache an ihrem Ende packt, geht es per | |
| Rückblende in die Vorgeschichte zurück. Nicht an den Anfang, denn der liegt | |
| Jahrzehnte zurück, sondern zu dem Moment, an dem die Fassade des häuslichen | |
| Glücks zu bröckeln beginnt. Wirkliche Orientierung stellt sich dabei lange | |
| nicht ein, nach und nach erst wird der Fall, um den es hier geht, | |
| zusammengesetzt. | |
| Eine Kriminalromantechnik, aber „Ein Schweigen“ ist nicht als Whodunit, | |
| sondern als „Wie konnte es dazu kommen“-Geschichte erzählt. Die Spannung | |
| entsteht nicht aus der Spurensuche nach einem Täter, nicht aus dem | |
| Begleiten einer Ermittlung, sondern daraus, wie die Zusammenhänge von Szene | |
| zu Szene kenntlicher werden. | |
| Die Frau im Auto ist Astrid Schaar, von Emmanuelle Devos mit unterdrückter | |
| Gehetztheit gespielt. Etwas lastet auf ihr, beschwert das Verhältnis zu | |
| ihrem Mann, zu Raphael, dem Adoptivsohn. Einmal tanzt sie mit diesem, es | |
| liegen zugleich Zärtlichkeit und Verzweiflung darin. Man spürt und ahnt, | |
| bevor man es wirklich versteht, dass diese Frau etwas zusammenzuhalten | |
| versucht, das ihr unter den Händen zerbröselt. | |
| ## Grau, wuchtig, zerfurcht | |
| Einmal schreckt sie mitten am Tag aus dem Schlaf am Pool hoch und bricht in | |
| heftiges Schluchzen aus. Angst und Entsetzen sind im Traum durch den | |
| Schutzschild gelangt, hinter dem sie ihr Leben sonst lebt: ihr Leben am | |
| Pool, in einem Haus, das eher ein Anwesen ist. Ihr Mann ist vermögend, er | |
| ist berühmt als Anwalt, vor allem, weil er gerade in einem spektakulären | |
| Fall die Opfer eines Kindermörders vertritt. Am Tor lauern darum ständig | |
| Reporter. | |
| Dieser Mann, der Staranwalt François Schaar, wird von Daniel Auteuil | |
| dargestellt: grau, wuchtig, zerfurcht, unnahbar, für Frau und Kind kaum | |
| noch erreichbar. Man sieht ihn häufig im Halbdunkel, zurückgezogen in | |
| seinem Haus wie in eine Höhle, an seinem Rechner, am Telefon, schweigend | |
| und grübelnd. Es geht aber, das begreift man irgendwann, gar nicht um den | |
| Prozess, in dem er als Anwalt tätig ist. Es geht vielmehr um diesen Mann | |
| selbst als Verbrecher. | |
| Er steht unter Verdacht, ein Pädophiler zu sein, der die furchtbaren Videos | |
| auf seinem Rechner, die Beweisstücke in seinem Fall sind, selber genießt. | |
| Eine sexuelle Missbrauchsgeschichte aus der Vergangenheit, auch das wird | |
| nach und nach klar, wurde nicht zuletzt mit Hilfe seiner Frau unter den | |
| Teppich gekehrt. Das ist das Schweigen des Titels, das ist die Schuld, die | |
| auf Astrid Schaar lastet. | |
| ## Nah an einer wahren Geschichte | |
| Man muss es, um dem Film zu folgen, nicht wissen, aber es ist so, dass der | |
| Regisseur Joachim Lafosse sich hier in großer Nähe zu einer wahren | |
| Geschichte aus der jüngeren Vergangenheit in Belgien bewegt. Victor Hissel | |
| war Anwalt der Eltern zweier Opfer des Kindervergewaltigers und Mörders | |
| Marc Dutroux. Er wurde seinerseits wegen Besitzes von Kinderpornografie | |
| angeklagt und verurteilt. Joachim Lafosse imaginiert zu dieser vor rund | |
| zwanzig Jahren durch die Öffentlichkeit gegangenen Geschichte gemeinsam mit | |
| einer ganzen Reihe von Drehbuch-Mitarbeiter*innen eine Innenansicht. | |
| Das passt zum bisherigen Werk des Regisseurs, in dem er immer wieder | |
| Familiendynamiken seziert, von „Nue Propriété“ (2006), in dem Isabelle | |
| Huppert eine Frau spielt, die ihre Familie verlässt, über [1][„Die Ökonomie | |
| der Liebe“ (2016)] über ein Paar mit Kindern, dessen Liebe erlischt, bis zu | |
| [2][„Die Ruhelosen“ (2021)], in dem ein bipolarer Mann seine Frau und | |
| seinen Sohn an die Grenzen ihrer Kraft bringt. | |
| All diese Filme sind psychologisch genaue Beobachtungen aus der Nähe, die | |
| ihre Stärke in der Mikrobetrachtung des Impliziten im Zwischenmenschlichen | |
| haben. Nicht zuletzt sind sie deshalb ein Fest für Schauspieler*innen, die | |
| bei Lafosse auf engem Raum viel Platz für subtile Darstellungen haben. | |
| ## Etwas Entscheidendes bleibt seltsam verdeckt | |
| Das gilt auch für „Ein Schweigen“. Emmanuelle Devos und Daniel Auteuil | |
| geben ihren Figuren eine enorme Intensität, Devos aus oft großer Nähe, aber | |
| nicht nur bei der Autofahrt zu Beginn zugleich nie ganz im Bild. Auteil | |
| dagegen von Anfang bis Ende auf Abstand, als wäre etwas Entscheidendes noch | |
| bei voller Präsenz seltsam verdeckt. | |
| Bei beiden – und auch beim Adoptivsohn Raphael (Matthieu Galoux) – gibt der | |
| Film nie vor, die Motive, die Handlungen und auch das Selbstbild der | |
| Figuren erklären zu können. Er urteilt nicht, er zeigt viel und wahrt im | |
| Kern doch etwas Opakes, es bleibt an der ganzen Sache etwas, das sich dem | |
| Verstehen entzieht. | |
| Und während sich die Kamera in anderen Filmen von Lafosse mit Vorliebe und | |
| oft als Handkamera mitten unter die Darsteller*innen begibt, wahrt sie | |
| hier immer wieder Distanz. Bei Blicken durch Türen und Fenster bleiben die | |
| Rahmen im Bild, einmal ist die Mutter nur klein, unscharf und indirekt auf | |
| einem Computerbildschirm zu sehen, die Atmosphäre ist oft von Dunklem und | |
| Schatten bestimmt. Im Haus als dem Ort, an dem sich Körper träge verteilen, | |
| die Mutter wie leblos alleine im Bett, der Vater am Tisch, ohne Worte, der | |
| Sohn, den die Last des Schweigens der Eltern immer stärker bedrückt. | |
| Dazu die vielen Autofahrten, die geradezu ein Leitmotiv sind. Nicht als | |
| Bewegung ins Freie, sondern als Abkapselung gegen das Außen, als | |
| Verdichtung von Nähe und Enge, aber so, dass der Blick nie ganz an die | |
| Körper herankommt. Am Ende wechselt „Ein Schweigen“ sein Genre in Richtung | |
| Gerichtsfilm. Räume und Wörter und Körper nun in einem sachlicheren, der | |
| Konfession näheren Aggregatzustand. Was aber nur umso deutlicher macht: Das | |
| Schweigen und Verdrängen ist ganz und gar eingekörpert. Sie könnten, selbst | |
| wenn sie wollten, nicht mit der Sprache heraus. | |
| 13 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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