# taz.de -- Wahl des Europäischen Parlaments: Wo Politiker sich mal einig sind | |
> Die Europawahl am 9. Juni ist bisher kaum ein großes Thema – nicht mal | |
> bei der Wirtschaft. Warum ist das so? Die taz hat sich im Wahlkampf | |
> umgeschaut. | |
Bild: In Brandenburg sorgen die parallelen Kommunalwahlen wie hier in Potsdam f… | |
BERLIN taz | Die Haushaltsmisere. Eine neue Verkehrssenatorin. Oder ganz | |
aktuell: doch noch ein Versuch, die Zentral- und Landesbibliothek [1][in | |
der Galerie Lafayette an der Friedrichstraße unterzubringen]. Dass am 9. | |
Juni, in nur knapp anderthalb Wochen, Europawahl ist? Bildet sich in Berlin | |
weithin nur auf den Wahlplakaten am Straßenrand ab. Für Brandenburg gilt | |
noch nicht mal das: Die dortigen EU-Plakate gehen in der Masse vieler | |
anderer schier unter. Denn zwischen Prenzlau und Senftenberg stehen am 9. | |
Juni auch Kommunalwahlen an. | |
„Leider stelle ich zur Zeit kein großes Interesse an der Europawahl fest.“ | |
Es sind der Ort und der Mann, die diese Worte so bedeutsam machen. Es | |
spricht Robert Rückel, der Vize-Präsident der Berliner Industrie- und | |
Handelskammer (IHK). Und er sagt sie an einem Abend, an dem seine Kammer | |
EU-Abgeordnete und Kandidaten zu einer „Wahl-Arena“ eingeladen hat. | |
Kein großes Interesse an Europa also auch in seinem Umfeld, der Wirtschaft? | |
In dem Bereich, in dem die heutige EU 1957 als Europäische | |
Wirtschaftsgemeinschaft entstand? Es drängt Rückel, die knapp 120 Menschen | |
im Saal, darunter viele Unternehmer, zum Wählen am 9. Juni aufzurufen: | |
„Motivieren Sie auch Ihre Mitarbeiter und Belegschaften.“ | |
Kein großes Interesse an der EU-Wahl. Wie kann das sein angesichts von | |
gigantisch wirkenden Summen, die aus dem EU-Haushalt auch in die hiesige | |
Region fließen? Drei Milliarden Euro seien es, die jährlich aus Brüssel | |
nach Brandenburg kommen, hat am selben Vormittag in Potsdam der | |
CDU-Abgeordnete Christian Ehler vorgerechnet. Er und die beiden | |
Grünen-EU-Parlamentarier Sergey Lagodinsky und Ska Keller sitzen mit | |
Journalisten zusammen, ziehen ein Fazit der auslaufenden Wahlperiode, | |
schauen auf die nächste – und wirken dabei trotz inhaltlicher Widersprüche | |
geeint in Begeisterung für Europa und Frust über wenig Widerhall. | |
## EU-Gelder helfen im ländlichen Raum | |
Dabei häufen die drei Politiker Beispiele genug dafür an, wie sehr | |
EU-Politik – und vor allem Geld – Einfluss auch im kleinsten | |
brandenburgischen Dorf haben kann. Viele Projekte im ländlichen Raum wären | |
beispielsweise ohne [2][das schon 1991 gestartete „Leader“-Programm der EU] | |
nicht möglich. | |
Warum all das nicht zu vermitteln sei? Ehler, Lagodinsky und Keller können | |
es auch nicht genau festmachen. Mal lenkten andere, gefühlt nähere Themen | |
ab vom angeblich so fernen „Brüssel“, mal fehle lokalen Medien schlicht | |
Zeit und Personal, sich in EU-Themen zu vertiefen und sie aufs Lokale zu | |
übertragen. CDU-Mann Ehler kritisiert aber auch die Brandenburger | |
Landesregierung, der seine eigene Partei angehört: Die hätte EU-Themen | |
nicht einmal zum Thema einer Debatte im Landtag gemacht. | |
Wobei sich am nächsten Morgen zeigen wird, dass es manchen Medien | |
grundsätzlich nicht recht zu machen ist. Der Senat tagte nämlich am | |
Dienstag nicht im Roten Rathaus, sondern in Brüssel. Das deutet ja | |
zumindest auf Interesse an EU-Politik hin. Aber was steht dazu im | |
[3][„Checkpoint“ des Tagesspiegel]: „Grüße an die | |
Reisekostenabrechnungsstelle“. | |
Dass überhaupt EU-Wahl ist, könnte in Brandenburg manchem erst klar werden, | |
wenn in der Wahlkabine unter den ganzen Formularen und Umschlägen auch ein | |
Zettel für ein Kreuz fürs Europaparlament ist. Warum das so ist, wird | |
gleich beim Blick über die Berliner Landesgrenze klar: An der | |
S-Bahn-Station Griebnitzsee steht zum Beispiel ein Laternenpfahl mit sechs | |
Plakaten übereinander – nur eins davon wirbt klar für die Europawahl. | |
Andere zeigen Köpfe für die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung, das der | |
Grünen wirbt irgendwie grundsätzlich für die Partei. | |
## Parallele Kommunalwahlen | |
Dabei ist diese Plakatlage noch vergleichsweise übersichtlich. Denn in | |
kleinen Ortschaften außerhalb der vier kreisfreien Städte Brandenburgs | |
werben zudem noch Kandidatinnen und Kandidaten für den Kreistag, den | |
Ortsbeirat und jene, die ehrenamtliche Bürgermeisterposten übernehmen oder | |
Ortsvorsteher werden wollen. Im Extremfall [4][sind dort am 9. Juni sechs | |
Stimmzettel auszufüllen]. | |
Für die EU-Wahl wirbt die SPD auch in Berlin mit dem Slogan „Deutschlands | |
stärkste Stimmen für Europa“. Katarina Barley ist darauf zu sehen, wie vor | |
fünf Jahren EU-Spitzenkandidatin und immerhin frühere Bundesjustizminister. | |
Die je nach Region wechselnden Köpfe daneben aber waren bisher nicht | |
wirklich als „stärkste Stimmen“, sondern teils gar nicht zu vernehmen. | |
In Berlin ist diese Stimme an Barleys Seite Gaby Bischoff, seit 2019 im | |
EU-Parlament. Sie gehört zu den Politikerinnen und Politikern, die am | |
Montagabend bei der Berliner IHK zusammen sitzen und in der „Wahl-Arena“ | |
Positionen abgleichen. Es soll dort ja darum gehen, Interesse zu mehren, EU | |
und Parlament näher zu bringen. Bei ihr wie bei anderen aber tauchen | |
schnell Fachbegriffe und Kürzel auf, die in Brüssel und Straßburg | |
sicherlich Abläufe erleichtern, hier aber wenig weiterhelfen. | |
Bischoff etwa sagt, sie plädiere für mehr Verordnungen statt Richtlinien – | |
was wohl für mehr Verbindlichkeit stehen soll. Da wäre nun eine Umfrage im | |
Saal spannend, wer überhaupt außer der Kandidatenrunde beide Begriffe | |
richtig definieren könnte. | |
## Schlichte Kritik an EU-Bürokraten | |
Denn es ist nicht so, dass in dieser Wirtschaftsrunde im Publikum die | |
Kenntnis von EU-Belangen durchweg verwurzelt ist. Auch hier schwingt das | |
alte Vorurteil vom sich nur selbst versorgenden Brüsseler Beamtenapparat | |
mit. Ein sehr selbstbewusst auftretender Unternehmer leitet seine | |
Wortmeldung damit ein, aus der „realen Welt“ zu berichten – im Kontrast | |
offenbar zu EU-Parlament und Kommission. | |
Er meint, die 32.000 EU-Mitarbeiter um ein Drittel verringern zu können – | |
wofür es Applaus gibt. Worauf der Grünen-Abgeordnete Lagodinsky daran | |
erinnert, dass das vergleichsweise wenig sind, weil etwa allein in der | |
Berliner Verwaltung über 100.000 Menschen arbeiten. Doch das ruft nur einen | |
neuen spöttischen Zwischenruf über die hiesige Bürokratie hervor. | |
Auch im IHK-Saal scheint nicht durchweg klar, dass das EU-Parlament längst | |
kein „zahnloser Tiger“ mehr ist, von dem jemand spricht. Die SPDlerin | |
Bischoff fühlt sich merklich genötigt zu klären, dass [5][die aktuell 705 | |
Abgeordneten] zwar keine Gesetzentwürfe einbringen dürfen – aber das | |
Parlament könne ändern oder auch komplett ablehnen, was die Kommission | |
vorlegt. „Was daran zahnlos ist, ist mir nicht eingängig“, sagt Bischoff. | |
Bei ihr und den anderen fünf Kandidatinnen und Kandidaten, die sich in der | |
Mitte des IHK-Saals gegenüber sitzen, gibt es eine Art | |
Zwei-Klassen-Gesellschaft. Bischoff, Lagodinsky und die CDU-Politikerin | |
Hildegard Bentele wissen nämlich schon jetzt, dass sie in jedem Fall auch | |
nach dem 9. Juni EU-Abgeordnete sind. Sie stehen auf den Listen ihrer | |
Parteien derart weit oben, dass sie auch bei einem eher schwachen | |
Stimmergebnis erneut ins Parlament rücken. Bei den beiden Vertretern von | |
Linkspartei und FDP ist das ganz anders – sie sind chancenlos, auch wenn | |
ihre Parteien doppelt so stark abschneiden würden [6][wie in der jüngsten | |
Umfrage]. | |
## Europagedanke eint auch konkurrierende Parteien | |
Auf der Kippe steht der AfD-Kandidat. Der bleibt außen vor, wenn seine | |
Partei gegenüber der jüngsten Umfrage noch zwei, drei Prozentpunkte | |
verliert. Wobei das für die Partei kein Verlust sein dürfte: Sie will ja, | |
wie auch an diesem Abend zu hören ist, das EU-Parlament auflösen, hätte | |
also langfristig gar keine Sitze zu verlieren. | |
Was am Abend bei der IHK wie auch beim Gespräch mit den Brandenburger | |
EU-Abgeordneten in Potsdam auffällt: Jenseits großer inhaltlicher | |
Knackpunkte wie bei der Migration oder beim Lieferkettengesetz gibt es oft | |
beipflichtendes Kopfnicken oder eine andere Form der Zustimmung gerade bei | |
Grünen und CDU. | |
Das liegt nicht nur daran, dass etwa Bentele und Lagodinsky per Du sind. | |
Zwar tun sich auch in Landtagen oder im Bundestag gelegentlich Abgeordnete | |
sonst konkurrierender Parteien zusammen, um ein Projekt in ihre Region zu | |
holen. Aber bei den EU-Abgeordneten wirkt es so, als seien sie nicht allein | |
als Parlamentarier, sondern auch als Lobbyisten des europäischen Gedankens | |
gewählt, der oft genug zu verteidigen ist. | |
Wie erfolgreich der Wahlaufruf ist, am Ende nochmals von der | |
IHK-„Wahlarena“ ausgeht, wird sich am 9. Juni zeigen. 2019, bei der | |
jüngsten EU-Wahl, mochten weniger als zwei Drittel der Wahlberechtigten | |
abstimmen. Die Beteiligung lag in Berlin wie in Brandenburg bei rund 60 | |
Prozent – bei der Bundestagswahl 2021 waren es jeweils knapp über 75 | |
Prozent. | |
29 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Zentral--und-Landesbibliothek-Berlin/!6010195 | |
[2] https://www.bmel.de/DE/themen/laendliche-regionen/foerderung-des-laendliche… | |
[3] https://checkpoint.tagesspiegel.de/newsletter/A7ub5q16wGbm0OkoBWDGC | |
[4] https://www.politische-bildung-brandenburg.de/kommunalwahlen-brandenburg | |
[5] https://www.europarl.europa.eu/portal/de | |
[6] https://www.wahlrecht.de/umfragen/europawahl.htm | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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