# taz.de -- Die Wahrheit: Der Fluch der Sehnsuchtsinsel | |
> Alles über Sylt, über Rechte, Deutsche und andere Problemfälle auf dem | |
> beliebtesten Urlaubseiland der Reichen und Schönen. Ein dringender | |
> Notbesuch. | |
Wieso ‚Ausländer raus‘? Hier übernachten doch eh nur Deutsche“, wundert | |
sich Geschäftsführer Herbert Sechtenstein vom Sylter Dünenhotel Vaterland, | |
einem zwölfstöckigen Minderwertigkeitskomplex aus Waschbeton, der bei | |
günstiger Witterung seinen dunklen Schatten über die gesamte Fußgängerzone | |
der Inselhauptstadt Westerland wirft. | |
In der dunkel getäfelten Rezeption hängt ein monumentales Seestück, das die | |
„Gorch Fock“ in der Seeschlacht um Berlin mit dem Panzerkreuzer „Potemkin… | |
zeigt, in der Lobby verdämmern die fossilierten Relikte einer westfälischen | |
Beamtendynastie vor einem Nordmende-Röhrenfernseher. Seit 1987 läuft dort | |
die „Schwarzwald-Klinik“ 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. | |
Seit das infame Internetvideo aus dem Kampener Vergnügungslokal Pony | |
aufgetaucht ist, in dem gutbetuchte junge Nationalisten singend die | |
Forderung „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ erhoben, ist die | |
deutsche Sehnsuchtsinsel in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten. Doch | |
warum wurde ausgerechnet das Urlaubsparadies der alten Bundesrepublik zum | |
Kinderhort rechtsextremer Gesinnungen? | |
Angeblich liegt ein uralter Fluch auf dem Eiland: Erst wenn der letzte | |
Fremde der Insel entnervt den Rücken kehrt, darf sie im Meer versinken. | |
Noch soll sich auf einem Campingplatz bei Tinnum ein Ehepaar aus den | |
Niederlanden versteckt halten, doch mehren sich nicht erst seit den | |
rechtsradikalen Pfingstgesängen die Zeichen, dass das Sylter Ökosystem | |
rettungslos überdeutscht sein könnte. | |
Schon in der Vergangenheit versuchten ausländische Touristen allzu oft | |
vergeblich, auf die Insel im toten Winkel Schleswig-Holsteins zu gelangen. | |
Doch immer wieder erwies sich der Hindenburgdamm, der das teutonische | |
Eiland vom Festland trennt, als unüberwindbares Hindernis. | |
Die strenge Selektion an der Rampe des Verladebahnhofs Niebüll überstehen | |
die auswärtigen Gäste selten – schon die Assoziationen sind ihnen | |
unerträglich. Doch nur checkheftgepflegte Fahrzeuge mit deutschem TÜV | |
werden in den Autozug nach Sylt verladen. Allein die schwarze | |
Inselsilhouette am Fahrzeugheck berechtigt zum Eintritt, aber die | |
prestigeträchtigen Aufkleber werden nicht verkauft, sondern als Erbstücke | |
in deutschen Urlauberfamilien weitergegeben. Kurz sorgte das 9-Euro-Ticket | |
für neues Leben auf der Insel, doch wurde die kurzlebige Frischzellenkur | |
vom örtlichen Gaststättenverband wieder unterbunden. | |
## Flaniermeile mit D-Mark | |
Hotelier Sechtenstein schaut in sein Hotelbuch, eine in Schweinswalleder | |
gebundene Schwarte, die wie die gesamte Insel tranig-fauligen Geruch | |
verströmt. „Doch, 1996 waren zwei Dänen hier. Aber keiner weiß, was aus | |
ihnen geworden ist.“ | |
Tatsächlich hört man auf den Flaniermeilen der Insel, auf denen man noch | |
immer mit D-Mark bezahlen muss, alle dialektalen Verirrungen des Deutschen, | |
aber keine Fremdsprachen mehr. Statt des internationalen Jetsets landen auf | |
dem Inselflughafen meist Kleinflugzeuge aus dem Sauerland, schlimmstenfalls | |
sogar Friedrich Merz. | |
Vom heruntergekommenen Hörnumer Hafenviertel, in dessen Nepplokalen wie dem | |
Beifang Rentner aus Pforzheim und Rinteln mit Fischfrikadellen aus | |
Dorschinnereien und Sägespänen abgefüttert werden, bis zum Promi-Ort List, | |
auf dessen ehemals blattgoldüberzogenen Bohlenwegen Hannoveraner | |
Herrenreiter mit BWL-Patent verzweifelt nach zuchtfähigen | |
Unternehmenserbinnen Ausschau halten, bleiben die Deutschen unter sich. | |
Vorbei sind die Zeiten, da im Kampener Gogärtchen französische Starlets für | |
eine Methusalem-Flasche Schampus an Schweizer Industrielle verhökert | |
wurden. Die Folgen der Verdeutschung sind gerade für die VIP-Populationen | |
des kleinen Nordseebiotops verheerend. Inzucht ist in den austrocknenden | |
Promi-Pools entlang der Küste an der Tagesordnung: Fast alle Insassen sind | |
miteinander oder wenigstens mit dem diensthabenden Silberrücken Günter | |
Jauch verwandt. Inzwischen gilt sogar die Hochzeit eines beinahe | |
mittellosen Bundesministers für Finanzen auf der Insel als | |
gesellschaftliches Ereignis. | |
Doch mittlerweile wehrt sich die Natur. In jeder Badesaison reißt der | |
blanke Hans ein paar unvorsichtige Reetdachvillen oder vorwitzige | |
Strandlokale mit sich. Die stets sternhagelvolle Strandhaubitze ist schon | |
untergangen, jetzt zerren die Fluten an der Sturmhaube am Roten Kliff. Auch | |
die berühmte Sansibar, letzte Abfüllstation für Besserverdienende vor dem | |
Delirium, verabschiedet sich in Richtung Ostafrika. | |
Doch das hochfahrende Sylt gönnt dem nassen Nachbarn Nordsee die | |
Landgewinne nicht, die Insel versinkt in Revanchismus. In den Andenkenläden | |
gibt es Postkarten eines Groß-Sylt in den Grenzen von 1937 zu kaufen. Der | |
Teilungsplan der UN, demzufolge der sandige Westteil der Insel dem Meer | |
zugeschlagen und der fruchtbare Osten als Blumenerde nach Dänemark verkauft | |
werden soll, wird von Westerland partout nicht akzeptiert – dabei ist die | |
Aufgabe des ökologisch gekippten Atolls längst unabwendbar. | |
## Vorhersage mit Runenorakel | |
Schon den friesischen Ureinwohnern wurde der Untergang ihrer Insel beim | |
großen Runenorakel mit Kinderschminken in der Bronzezeit vorhergesagt, auch | |
wenn damals noch nicht ganz klar war, wer dieser Schlichtliedkomponist | |
„Gigi d’Agostini“ oder was überhaupt „Deutschland“ sein sollte. Doch… | |
Jahrhunderte später ergab sich für Friesenhäuptling Ocko den Nackten die | |
Gelegenheit, die wertlos gewordenen Stammesgebiete gegen eine | |
Autogrammkarte von Ingrid Steeger einzutauschen und mit seinen Getreuen ins | |
festländische Reservat von Klanxbüll zu ziehen. | |
Auch Hotelier Herbert Sechtenstein hat von der Friesen-Prophezeiung gehört, | |
doch gibt er nicht viel auf das Gerede von Wilden, die keine Kurtaxe zahlen | |
wollen. So lange genug Billiglöhner aus Polen und Litauen in den Küchen und | |
Hotelzimmern schufteten, fühlten sich die Sylter Gewerbetreibenden gegen | |
den Fluch gewappnet, doch seit immer mehr osteuropäische Servicekräfte | |
hinschmeißen, gehen immer merkwürdigere Dinge zwischen Morsum und List vor. | |
Der Geschäftsführer unseres Hotels spricht seit heute Morgen nur noch | |
Sütterlin mit uns, sogar die Fischgerichte schmecken allesamt nach | |
Erbsensuppe und an der Musikmuschel versammelt sich schon die nächste | |
braune Meute zum völkischen Singalong. | |
Wenn sich die Nordsee nicht bald zu einer Springflut erbarmt, wird sich der | |
Mehltau des Niedergangs immer deutscher über die verfluchte Insel ziehen. | |
Schon sollen erste Sandstrände von rustikalem Eichenfurnier überzogen sein. | |
Selbst der blanke Hans fröstelt. | |
1 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
## TAGS | |
Sylt | |
Rechter Populismus | |
Reiche | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Die Wahrheit | |
Jugend | |
Maximilian Krah | |
Die Wahrheit | |
Ryanair | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach rassistischem Gegröle auf Sylt: Kampen hat sich wieder beruhigt | |
Vor einem Monat hatten Partygäste im Club Pony auf Sylt rassistische | |
Parolen gegrölt. Ein Videoschnipsel davon ging viral. Die Ermittlungen | |
dauern an. | |
Die Wahrheit: Um die klare Ecke gedacht | |
Die Metaphysik des Kantholzes: Zum 300. Geburtstag alles über den | |
Königsberger Heim- und Handwerkergott Immanuel Kant. | |
Die Wahrheit: Fußfessel für Erstwähler | |
Die Jugend von heute: Wählt denkfaul und steht als rechtsextremer | |
Verdachtsfall unter Beobachtung des elterlichen Verfassungsschutzes. | |
Die Wahrheit: Kätzchen Krah | |
Der Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl ändert seine Medienstrategie | |
und erscheint jetzt nur noch als süßes kleines Tierchen. | |
Die Wahrheit: Mehr Eskalation wagen | |
Ab in die Arena: Bei Wahlkampfsportveranstaltungen entdecken demokratische | |
Parteien jetzt den gewaltgestützten Dialog. | |
Die Wahrheit: Schinderhannes der Lüfte | |
Seit 25 Jahren macht der irische Billigflieger Ryanair in Deutschland den | |
Urlaubshimmel unsicher. Ein Erfahrungsbericht über und unter den Wolken. |