# taz.de -- Christian Streich hört auf: Abschied vom Guten | |
> Christian Streich sieht seinen letzten beiden Spielen als | |
> Bundesligatrainer entgegen. Der Übungsleiter galt als Mann, der etwas zu | |
> sagen hat. | |
Bild: Er winkt zum Abschied: Christian Streich | |
Christian Streich hat in den letzten Jahren gar nicht so wenige Titel | |
gewonnen. „Das soziale Gewissen der Bundesliga“ wäre einer. „Die Seele d… | |
Bundesliga“ ein anderer. Nicht unerwähnt bleiben soll „Die moralische | |
Instanz der Bundesliga“. Die Sphäre des Fußballs verlassend kürte ihn die | |
[1][New York Times 2020 zum „philosopher of the black forest“]. | |
Und wurde ihm vor Jahren noch vom satirischen Fußballportal Fums das Amt | |
des Bundespräsidenten angetragen, unterstützten in jüngster Vergangenheit | |
einige aus seiner Verehrerschaft dieses Anliegen mit wachsender | |
Ernsthaftigkeit. Zurückhaltendere forderten Streichs Aufnahme in den | |
„Deutschen Ethikrat“. | |
Die Abschiedstournee von Christian Streich nähert sich unerbittlich ihrem | |
Ende. Der letzte Auftritt im eigenen Stadion gegen den 1. FC Heidenheim | |
steht an und der wirklich finale folgt die Woche darauf beim 1. FC Union | |
Berlin. Der ehemaliger Freiburger Stürmer Nils Petersen hatte kürzlich die | |
verdienstvolle Idee, in einem ZDF-Beitrag daran zu erinnern, dass der | |
58-Jährige obendrein ein richtig guter Fußballtrainer ist. In den letzten | |
Monaten wurden vor Interviews mit Streich die Journalisten vom Verein | |
gebeten, doch die Arbeit mit dem SC in den Mittelpunkt zu stellen. Offenbar | |
war das Gefühl aufgekommen, mit der Dosierung stimme etwas nicht mehr. | |
Die erwähnte Titelsammlung von Streich erzählt wenig Konkretes über ihn, | |
sondern vielmehr Unkonkretes über das, was vielen Menschen andernorts | |
offenbar fehlt. Ein Gewissen, eine Seele, eine Haltung. Das öffentliche | |
Bild von Streich hat eine nicht so kleine Projektionsfläche. Für seine | |
klaren Worte gegen die AfD im Januar („Wer jetzt nicht aufsteht, der hat | |
nichts verstanden. Es ist fünf Minuten vor zwölf“) hat er besonders viel | |
Lob erhalten, weil in seiner Branche derlei Vorträge unüblich sind. | |
## Er war Letzter | |
Als er 2012 das Profiteam auf dem letzten Tabellenplatz vor der Rückrunde | |
übernahm und binnen weniger Wochen sich der spätere erstaunlich souveräne | |
Klassenerhalt andeutete und dem eigenwilligen Neuling mit dem eigenwilligen | |
alemannischen Dialekt bundesweit Sympathien zuflogen, stellte der damalige | |
Sportdirektor [2][Dirk Dufner gegenüber der FAZ] fest: „Wenn einer völlig | |
normal ist und nicht dem Bild entspricht, wie ein Trainer zu sein hat – | |
dann fällt er wahnsinnig auf. Das ist doch eine Verrücktheit.“ Streich | |
hatte bei Jobantritt angekündigt, sich und seine Herangehensweisen nicht | |
ändern zu wollen. Falls er so scheitern sollte, würde er eben wieder in die | |
Jugendabteilung gehen. | |
Dufners Bemerkung war so besonders, weil er wiederum von einer Sehnsucht | |
nach Normalität angetrieben war. Die 16-jährige Ära von Trainer Volker | |
Finke, in welcher der ambitionslose Zweitligaklub überhaupt erst zum | |
Bundesligastandort wurde und sich der Ruf eines linken Vereins gebildet | |
hatte, der die herrschenden Verhältnisse clever auf den Kopf stellte, war | |
unschön geendet. | |
Das Gebilde hing zu sehr von Finke ab, die Risse wurden in | |
Misserfolgsphasen zu groß. Dufner wollte nun in der Nach-Finke-Ära seine | |
Arbeit einfach wie andernorts machen und von dem so anderen Verein nichts | |
mehr hören. Das klappte auch ganz passabel, bis dieser unnormal normale | |
Christian Streich das Profiteam übernahm. Der alte Geist des Vereins wurde | |
auf neue Weise geweckt. | |
Die Freiburger Fußballschule, die zum großen Pfund des Vereins werden | |
sollte, baute er ab 1995 mit auf, weil er zwei Kriterien erfüllte, die | |
Finke wichtig waren. Spielerfahrung auf höherem Niveau (Streich bestritt | |
für den FC Homburg gar 10 Erstligaspiele) und eine pädagogische Ausbildung. | |
Wie Finke hatte er Geschichte und Sport auf Lehramt studiert, dazu noch | |
Germanistik. Mit der Kombination aus Fach- und Menschenkenntnis führte er | |
den SC Freiburg einmal zur Deutschen A-Juniorenmeisterschaft und dreimal | |
zum DFB-Juniorenpokalsieg. | |
## Von K nach D | |
Der [3][Freiburger Kabarettist und Autor Jess Jochimsen] hat sowohl Finke | |
als auch Streich kennen und schätzen gelernt. Auf einer Tournee, erzählt | |
er, sei er Streich einmal zufällig im Regionalexpress von Köln nach | |
Düsseldorf begegnet. Auf der kurzen Strecke hätten sie sich darüber | |
unterhalten, wie sich mit der Zeit auch die Pädagogik verändert. Sie hätten | |
sich an eine gemeinsame Weihnachtsfeier des Vereins erinnert, für die | |
Jochimsen engagiert war. Finke hatte sich damals als Nikolaus verkleidet, | |
und die Spieler kamen einzeln zu ihm vor. | |
Wie man mit Menschen umgeht, wie Menschen miteinander umgehen, was sie | |
trennt und zusammen stärker macht, gut und böse werden lässt, ist ein Leib- | |
und Magenthema von Christian Streich, das sich durch all seine | |
Pressekonferenzen zieht. Bei solch großen Fragen wird die Welt des Fußballs | |
schnell zu klein. | |
Jochimsen erinnert sich daran, wie ihm Streich mal von einem Spieler | |
erzählte, der aus einer Kriegsregion zum SC kam und dessen Spielweise | |
extrem auffällig war: immer vorneweg, ohne Rücksicht auf eigene Verluste, | |
immer zu viel wollend. Er habe versucht, das dem Spieler in einem sehr | |
emotionalen Gespräch zu spiegeln und seine Spielweise zu verändern, damit | |
das Team auch von seinem kreativen Potenzial profitieren kann. „Dieser | |
Blick für so etwas, diese Sensibilität, das ist einzigartig. Ich kann mir | |
nicht vorstellen, dass ein anderer Bundesligatrainer so arbeitet.“ | |
Solche Geschichten treiben und beschäftigen Streich offensichtlich auch | |
nach der Arbeit. Woher kennt Jochimsen Streich überhaupt? „Freiburg halt, | |
Uni, gemeinsame Freunde, dieselbe Lieblingskneipe, das Schreibbüro um die | |
Ecke von der Fußballschule.“ Streich ist in der Stadtgesellschaft | |
verwurzelt, geht abends aus und ist auch im Supermarkt anzutreffen, er | |
meidet keine Gespräche, sondern sucht sie eher. Jochimsen sagt: „Christian | |
Streich ist echt ein guter Typ. Den will man einfach zum Freund haben. Mit | |
ihm unterhält man sich wahnsinnig gern. Er ist klug, verarscht dich nicht, | |
ist kein Angeber. Er ist ein netter, beseelter Mensch.“ | |
## Leidenschaft | |
Schiedsrichter, die mit ihm in den letzten Jahrzehnten auf dem Rasen | |
Bekanntschaft schlossen, dürften sich an Begebenheiten erinnern, die | |
letzteren Eindruck nicht bestärken. Dieser streichstechende Blick, die | |
wutverzerrten Gesichtszüge und gestikulierenden Hände vor den | |
Unparteiischen sind tausendfach im Internet festgehalten. | |
Streich weiß um seine Schwächen und hat sich oft dafür entschuldigt. Jess | |
Jochimsen glaubt, dass er aber auch gerade für diese absolute | |
bedingungslose Leidenschaft und Hingabe für seine Arbeit geliebt wird. Das | |
habe etwas Faszinierendes. | |
Streich kann wie kaum ein anderer während einer Fußballpartie den Eindruck | |
vermitteln, dass es nichts Wichtigeres auf dieser Welt gibt als das, was | |
sich zwischen den beiden Toren abspielt. Und mit ein wenig Abstand zu den | |
Spielen gibt es kaum einen Trainer, der dem ganzen Zirkus so das Gewicht | |
nehmen kann. | |
Auf einer Pressekonferenz vor der nächsten Bundesligabegegnung beendete er | |
einen über achtminütigen Monolog zur Lage der Flüchtlinge in Deutschland | |
mit der Feststellung: „Jetzt haben wir wenig über Fußball geredet, gell. | |
Aber es gibt wichtigere Themen.“ Auch andere vermeintliche Widersprüche | |
sind augenfällig. Bildschön in Szene gesetzt ist das auf einem | |
Youtube-Video einer Pressekonferenz des SC Freiburg mit dem Titel „Der | |
Neokapitalismus zerstört“. | |
Hinter Streich laufen auf einem Bildschirm die Namen der ganzen | |
Wirtschaftsunternehmen durch, die den Verein unterstützen, während dieser | |
eben von den katastrophalen Folgen des Neokapitalismus auf den Fußball und | |
die Gesellschaft spricht. Das passt nicht zusammen; die Notwendigkeit | |
darüber zu reden, gerade auf dieser Bühne, verspürt Streich dennoch. | |
Er macht das auf so schlichte und anschauliche Weise, dass | |
Übersetzungsbüros für Einfache Sprache bei der Transkription kaum etwas | |
verändern müssten. Der Metzgerssohn hat über den zweiten Bildungsweg sein | |
Abitur erst parallel zu seiner Fußballkarriere gemacht, bevor er studierte. | |
Gestelzte Akademikersprache dürfte Streich ein Graus sein. Er will | |
verstehen und verstanden werden. | |
Diese Woche gilt die volle Konzentration noch einmal dem Fußball. Der SC | |
Freiburg, über Jahre Stammkraft im Abstiegskampf, könnte sich zum dritten | |
Mal in Folge für die Europa League qualifizieren. 2022 stand der Verein | |
erstmals im DFB-Pokalfinale. Anders als in der Finke-Ära ist der Klub | |
längst kein Ein-Mann-Unternehmen mehr. Das Trainerteam ist gewachsen, die | |
Verantwortung über viele Schultern verteilt. Oliver Leki, Jochen Saier und | |
Clemens Hartenbach sind wichtige Entscheider in der Führungsetage. | |
Christian Streich jedoch, so viel lässt sich dann schon sagen, ist so etwas | |
wie die Seele des Vereins. Für viele ist der Klub ohne Streich schlicht | |
nicht vorstellbar. 4.300 Mitglieder hatte der SC, als der ewige | |
Jugendtrainer Streich 2012 das Profiteam übernahm. Mittlerweile haben mehr | |
als 65.000 Menschen einen Mitgliedsausweis. Julian Schuster, ehemals | |
Kapitän unter Christian Streich, wird ab Sommer das schwere Erbe auf der | |
Trainerbank antreten. Und nun? Die Frage lässt sich aus Platzgründen am | |
besten mit einem klassischen Streich-Satz beantworten: „Ich weiß nicht, was | |
morgen ist. Wenn ich das wüsste, das wäre ja furchtbar.“ | |
10 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/2020/06/13/sports/soccer/bundesliga-freiburg-streic… | |
[2] https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/fussball-trainer-stre… | |
[3] /!301886/ | |
## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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