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# taz.de -- Aufklärung von Hanau-Anschlag: Angst vor den Unfehlbaren
> Solange die Polizei nicht gegen sich selbst ermittelt, muss man sich vor
> ihr fürchten. Für die Wahrheit kämpfen nur die Angehörigen der Opfer von
> Hanau.
Bild: Filmemacher*innen auf der Berlinale gedenken im Februar 2024 der Opfer vo…
Ich habe Angst vor der deutschen Polizei. Manche würden das sicher
irrational nennen. Ich glaube, es ist sehr vernünftig. Denn bei der Polizei
kommen zwei Dinge zusammen: Sie besitzt im Namen des Staats das
Gewaltmonopol. Und: Dieser Staat zieht sie nicht zur Rechenschaft, wenn sie
Fehler macht. Das ist keine gute Mischung.
Am Freitag letzter Woche sprach der [1][Comedian Jan Böhmermann in seiner
Sendung „ZDF Magazin Royale]“ über das Verhalten beziehungsweise über
verhängnisvolle Fehler der hessischen Polizei im Zusammenhang mit [2][den
rassistischen Anschlägen von Hanau]. Zwar waren einige neue Details dabei.
Gleichzeitig bestätigte die Sendung vor allem: Polizei und Behörden helfen
nicht bei der Aufklärung der Tat, sondern behindern sie.
Die [3][Angehörigen der Ermordeten von Hanau] kämpfen seit Jahren darum,
dass endlich aufgeklärt wird, was in dieser Nacht passiert ist. Warum
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza
Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan
Velkov sterben mussten. Man könnte denken, dass es das größte Anliegen der
Polizei sei, bei dieser Aufklärung zu helfen.
Zwei Tage nach der Sendung gab die Bildungsinitiative Ferhat Unvar eine
Stellungnahme heraus. Serpil Temiz Unvar gründete nach dem Tod ihres Sohnes
in seinem Namen diese Bildungsinitiative. In ihrer Stellungnahme schreibt
die Initiative, dass es die Familien der Opfer nicht überrascht, erst durch
Medien von neuen Erkenntnissen zum Versagen der Behörden zu erfahren.
## Wer die Polizei kritisiert, gilt sofort als linksradikal
Dabei sollten sie solche Informationen eigentlich von den
Ermittlungsbehörden erhalten. Ein Satz, der besonders schmerzt: „Als
Familien können wir nicht über die Medien erfahren, wie offensichtlich
unsere Kinder ermordet wurden.“
Nein, wer einen geliebten Menschen verloren hat, sollte nicht am späten
Freitagabend in einer Comedysendung erfahren, dass dieser Mensch vielleicht
noch leben würde, wenn nicht ein BKA-Beamter den ohnehin schon völlig
überlasteten Notruf besetzt hätte.
Oder dass der Täter Jahre vor den rassistischen Morden dem
Generalbundesanwalt eine Mail mit rassistischen Fantasien geschrieben und
sogar eine Antwort erhalten hat – aber die Behörden ihn trotzdem legal eine
Waffe tragen ließen. Der Polizeinotruf funktionierte nicht – der dafür
verantwortliche Beamte wurde danach sogar befördert. Der Notausgang in
einem der Anschlagsorte war verschlossen, was vermutlich mehrere der Opfer
das Leben kostete – keine Konsequenzen.
Warum kommt diese Aufklärung nicht von den Behörden? Weil die Polizei in
Deutschland als unfehlbar gilt. Und auch weiterhin gelten soll. Wer die
Polizei kritisiert, gilt als Linksextremist oder als Anarcho. Dass es
Ausdruck demokratischer und rechtsstaatlicher Kontrolle ist, Fehlverhalten
in der Polizei zu untersuchen und zu sanktionieren, wird dabei von der
Politik sehr erfolgreich weggewischt.
## Behörden verhindern Studien zur Polizei
Strafwürdiges oder falsches Verhalten hat in polizeilichen Strukturen nur
in seltenen Fällen Konsequenzen. Diese postulierte Unfehlbarkeit, die sonst
nur dem Amt des Papstes zugestanden wird, ist eine Katastrophe für einen
Rechtsstaat. Weil es bedeutet, dass vor dem Recht nicht alle gleich sind.
Natürlich gibt es dazu kaum Statistiken. So verhindern Landes- und
Bundesinnenminister:innen seit Jahren umfassende Studien zur
Polizei. Der Nimbus der Unfehlbarkeit darf keinen Kratzer bekommen. Wie
antidemokratisch eine solche Haltung ist, scheint nicht zu stören. So kann
man sich nur an Annäherungen orientieren, zum Beispiel durch
wissenschaftliche Untersuchungen zu Polizeigewalt.
Im Jahr 2019 veröffentlichte die Ruhr-Universität Bochum einen solchen
Bericht. Einige Zahlen: In 86 Prozent der Fälle wurde ein Strafverfahren
gar nicht erst angestrengt. Nur 9 Prozent der Befragten erstatteten
überhaupt Anzeige. Und das Dunkelfeld schätzten die Forscher:innen auf
etwa sechsmal höher als das Hellfeld.
Für die Polizei gelten ganz offenbar andere Regeln als für den Rest der
Bevölkerung. Denn bei Verdacht auf rechtswidriges Verhalten werden im Falle
von Polizist:innen keine normalen Ermittlungen geführt. Das ist auch
gar nicht möglich. Denn die Polizei ermittelt gegen sich selbst. Solche
Ermittlungen sind nicht unabhängig und entsprechen damit nicht den gängigen
rechtsstaatlichen Prinzipien. So verwundert es nicht, dass in der
Untersuchung der Ruhr-Universität viele Betroffene als Grund dafür, keine
Anzeige erstattet zu haben, angaben, dass sie ohnehin kaum Chance hätten,
zu gewinnen.
## Angst vor der Polizei ist eine rationale Reaktion
Das ist korrekt. Denn, nochmal: Für die Polizei gelten andere Regeln.
Allein dadurch wird jedes Problem bei der Polizei systematisch. Die Theorie
der „Einzelfälle“ wird folglich irrelevant. Egal, wie viele oder wie wenige
„Einzelfälle“ es gibt.
Ich habe Angst vor Menschen, die sich für unfehlbar halten. Oder die sagen:
„Ja, ich mache auch mal Fehler“, nur um sich dann nicht mit ihnen
auseinandersetzen zu müssen. Fehler sind unschätzbar wertvoll. Sie sind wie
Wegweiser. Sie zeigen uns, woran wir arbeiten müssen. Sie zeigen uns, wo
wir besser werden können.
Wer stolz darauf ist, keine oder nur wenige Fehler zu machen: Herzlichen
Glückwunsch. Das bedeutet aber auch, dass man nicht lernt, nicht wächst,
nicht dazugewinnt. Wie arm jene, die alles „richtig“ machen. Wie verloren
jene, die lieber wegschauen.
Wer der Institution der Polizei am meisten schadet, sind jene, die sie für
unfehlbar erklären. Dieser Staat sollte den Angehörigen der Ermordeten von
Hanau die Füße dafür küssen, dass sie so unermüdlich, so unerbittlich und
trotz großen Schmerzes im Herzen für Aufklärung kämpfen. Sie sind die
Einzigen, die die Polizei verbessern wollen. Sie sind die Einzigen, die
noch dafür kämpfen, Vertrauen in einen Staat zu erschaffen, der vertuscht,
anstatt aufzuklären. Solange das aber anhält, wird es weiterhin vernünftig
sein, Angst vor der Polizei zu haben.
2 May 2024
## LINKS
[1] https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale
[2] /Hanau-und-das-Staatsversagen/!5990146
[3] /Vater-von-Hanau-Opfer-ueber-Gerechtigkeit/!6001142
## AUTOREN
Gilda Sahebi
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
Rechtsextremismus
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