| # taz.de -- Das war das taz lab 2024: Wir, nur anders | |
| > Das taz lab ist so etwas wie der Kirchentag für Linke. Inklusive Gefühl, | |
| > dass viel möglich ist, wenn man sich irgendwie zusammenrauft. Wie | |
| > beruhigend. | |
| Bild: Besucher*innen auf der Dachterrasse des frizzforums am Besselpark währen… | |
| BERLIN taz | April, der 27. – und es ist fast Sommer. Die Sonne scheint | |
| großzügig. Kinder spielen ausgelassen auf einem Stück der abgesperrten | |
| Friedrichstraße, gutgelaunte Menschen halten volle Biergläser in den Händen | |
| und hören gebannt politischen Diskussionen zu. Im und am taz-Haus am | |
| Kreuzberger Besselpark ist wieder taz lab, [1][obendrein feiert die taz | |
| ihren 45. Geburtstag]. | |
| Auch wenn es manchmal so wirkt, ist dieser Kongress kein Volksfest, sondern | |
| ein „Volxfest“ – wie taz-lab-Kurator Jan Feddersen nicht müde wird zu | |
| betonen. An diesem Ort kommen die Teilnehmer*innen nicht zusammen, weil | |
| sie sich in einem irgendwie identitär verfassten „Wir“ wiedererkennen. | |
| Viele von ihnen verbindet zunächst nur die tägliche Lektüre der taz und das | |
| Interesse für politische Themen wie Kapitalismus, Europa oder Ökologie. | |
| Allerdings unterscheidet sich die Veranstaltung deutlich von einem | |
| Parteitag. Das taz lab ist bestens organisiert, hat sich aber den | |
| selbstgemachten Charme der „Neuen Linken“ bewahrt. Selbst wenn die | |
| Soundanlage einmal versagt, bleiben die Technikverantwortlichen gelassen | |
| und versuchen geduldig, ein Problem zu lösen. | |
| ## Miteinander sprechen trotz Differenzen | |
| Manchmal entstehen sogar Nebenevents, ungeplante, neben den 90 Panels und | |
| Workshops, wenn inmitten des Diskussionsbetriebs plötzlich eine | |
| Menschentraube Geburtstag feiert. Rund um die Bühnen haben Organisationen | |
| und Initiativen wie Omas gegen Rechts ihre Stände aufgebaut. Wer die | |
| politische Linke kennt, fühlt sich an die kommunistische „Fête“ der | |
| französischen Zeitung L’Humanité erinnert, wer christlich sozialisiert ist, | |
| mag an den Kirchen- oder Katholikentag denken. Das taz-lab-Publikum, am | |
| Samstag tausendfach, ist aber ein bisschen anders. | |
| Theoretisch versierte Geister versuchten lange Zeit, dieses Anderssein als | |
| „Mosaiklinke“ zu definieren. Zum Beispiel sitzen der Historiker Ilko-Sascha | |
| Kowalczuk, der die DDR aufgrund seiner Ostsozialisation naturgemäß kritisch | |
| sieht, und die ehemalige Jacobin-Redakteurin Ines Schwerdtner, die am | |
| „demokratischen Sozialismus“ festhalten möchte, zusammen. Und sprechen | |
| trotz offenkundiger Differenzen miteinander. Dieser Anspruch wird auch an | |
| der Art und Weise deutlich, wie das übergeordnete Thema „Alles Osten. Oder | |
| was?“ im tiefsten Westberlin verhandelt wird. Ob Ostdeutschland, Osteuropa, | |
| der sogenannte Nahe Osten oder der aus europäischer Perspektive eher „Ferne | |
| Osten“ – biografische, wissenschaftliche und politische Zugänge mischen | |
| sich hier. | |
| Das taz lab will einer der wenigen Orte sein, an dem sich verschiedene | |
| Formen des Wissens über den Osten begegnen. In diesem Umfeld gibt sich auch | |
| die politische Prominenz leutselig. Die grüne Bundesvorsitzende Ricarda | |
| Lang läuft ohne großes Gefolge, nur mit obligatorischem Wachschutz, über | |
| den Platz. Auch sie hat ein Bierglas in der Hand. Allerdings sind nicht nur | |
| die üblichen Verdächtigen vor Ort. | |
| Als langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Beauftragter der | |
| Bundesregierung für die Neuen Bundesländer stellt sich der Sachse Marco | |
| Wanderwitz den kritischen Fragen des taz labs. Er spricht mit brennender | |
| Sorge [2][über die anstehenden Wahlen in Brandenburg, Sachsen und | |
| Thüringen]. Auf seinen ehemaligen Parteifreund Maximilian Krah | |
| angesprochen, der nun als Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl antritt, | |
| reagiert er besonnen und gleichzeitig selbstkritisch. Am Ende der | |
| Diskussion dankt Wanderwitz den Organisator*innen für die Einladung, | |
| die nicht selbstverständlich sei. | |
| ## Was es nicht gibt: Kulturpessimismus | |
| Augenblicklich wird ein Ausspruch des Philosophen Hans-Georg Gadamer wahr, | |
| der in mehreren Runden als Gewährsmann aufgerufen wurde: „Ein Gespräch | |
| setzt voraus, dass der andere recht haben könnte.“ Auch sonst sind die | |
| anderen in Gestalt von Passant*innen, die sich in das bunte Treiben im | |
| Besselpark hineinziehen lassen, anwesend. Familien rasten an den | |
| bereitgestellten Biertischen und Freizeitsportler*innen bahnen sich | |
| ihren Weg durch die Menschenmenge. Manche hören eine kurze Zeit zu und | |
| verschwinden dann wieder. | |
| Was es hier nicht gibt: Kulturpessimismus. Der [3][Berliner Künstler Leon | |
| Kahane] erinnerte in einem Gespräch an diese politische Gefahr, die der | |
| jüdisch-amerikanische Historiker Fritz Stern mit analytischem Blick auf das | |
| NS-Regime ausgemacht hatte. Die Diskutant*innen kritisieren zwar | |
| ausgiebig die gesellschaftlichen Verhältnisse und beschwören manchmal den | |
| baldigen Untergang der Welt. Auf den Bühnen und im Publikum gewinnt aber | |
| nie die Verzweiflung die Oberhand. Es bleibt das beruhigende Gefühl zurück, | |
| dass viel möglich ist, wenn man sich nur irgendwie zusammenrauft. Wenn | |
| Menschen in der Diskussion zu einem nichtidentitären Wir finden. Damit | |
| fasst das taz lab 2024 auch die an Widrigkeiten nicht arme Geschichte der | |
| taz prägnant zusammen. | |
| Nein, dieses Kreuzberg ist nicht überall. Aber dieser an einem Tag im April | |
| spürbare Geist ist ein Versprechen. Trotz alledem und alledem. | |
| 29 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
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| ## AUTOREN | |
| Louis Berger | |
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