| # taz.de -- Roman „Die Kellertänzer“: Wild, atonal, tragisch | |
| > Nils Jockel machte eine Dachboden-Entdeckung. Entstanden ist daraus ein | |
| > Roman über die Ausdruckstänzerin Lavinia Schulz, die 1924 ihren Mann | |
| > erschoss. | |
| Bild: Präsentation der Funstücke vom Dachboden: expressive Gesten, expression… | |
| Am Anfang wie am Ende fährt unser Held nach Venedig. „Nick Lainwander“ | |
| heißt er, er ist Kurator von Beruf, und er besucht wider Willen die | |
| Biennale 2022; solide genervt vom dortigen Kunstzirkus, doch hingeschickt | |
| von seinem Schöpfer Nils Jockel. Der war seinerseits 35 Jahre lang im | |
| Hamburger [1][Museum für Kunst und Gewerbe] tätig: als Kurator. „Die | |
| Kellertänzer“ ist nach diversen kunstwissenschaftlichen Publikationen und | |
| Aufsätzen Nils Jockels Roman-Debüt. | |
| Alles beginnt 1987. Jockel streift mit einer Praktikantin durchs Haus. Es | |
| ist ein loser Freitag, nichts ist dringlich zu tun. Sie betreten den | |
| Dachboden, wo Jockel inmitten des ganzen Durcheinanders schon öfter drei | |
| Holzkisten aufgefallen waren. Müsste man mal reinschauen, bisher blieb es | |
| bei dem Gedanken. Nun aber öffnet er die Kisten: „Was wir vor uns sahen, | |
| konnten wir erst einmal überhaupt nicht einordnen“, erzählt er. Vielleicht | |
| Kostüme? Aber warum dann so barbarisch schwer? Hat die wirklich jemand | |
| getragen und wenn, zu welchem Zweck? Und was sind das überhaupt für | |
| skurrile Gestalten, die sich aus den Einzelteilen zusammensetzen lassen? | |
| „Alles war so verdreckt, wie ich das noch nie im Museum gesehen hatte: mit | |
| Taubenmist überzogen, mit einer klebrigen Schicht Staub.“ Immerhin tragen | |
| die Kisten Etiketten, auf denen zwei Namen verzeichnet sind: Lavinia Schulz | |
| und Walter Holdt. Wer waren die beiden? Jockel schaut sogleich die | |
| Inventarkarten durch: nichts. Dann erinnert er sich an seinen Großvater, | |
| den Bildhauer Richard Luksch, einst mit dem Museum verbunden. | |
| Er hat damals für seine Frau Ursula Falke, die während der frühen Weimarer | |
| Jahre als Ausdruckstänzerin unterwegs war, Masken entworfen und gebaut. | |
| „Ich hatte da so ein Gefühl“, sagt Jockel. Zu Recht, denn in einer kleinen | |
| Broschüre, seinerzeit von seinem Großvater anonym verfasst, erwähnt dieser | |
| Holdt und Schulz und erzählt von deren Auftritten als [2][Maskentänzer] bei | |
| damaligen Künstlerfesten: Wo Ursula Falke noch von den elegisch-filigranen | |
| Tanzbildern des Jugendstils geprägt war, schlüpften Schulz/Holdt in | |
| expressionistisch anmutende Ganzkörpermasken und tanzten, begleitet von | |
| wilder, atonaler Musik. | |
| Nils Jockel versucht zu finden, was noch zu entdecken ist, kennt bald auch | |
| die Eckdaten des tragischen Endes des Künstlerpaares, das jahrelang in | |
| offenbar prekären Verhältnissen gleich nebenan in der Straße Besenbinderhof | |
| mit der Nummer 6 in einer dunklen Kellerwohnung gelebt und gearbeitet hat: | |
| Lavinia Schulz, 27 Jahre alt, erschießt am frühen Morgen des 18. Juni 1924 | |
| ihren jüngeren Mann Walter Holdt, verstirbt ihrerseits tags darauf im | |
| Krankenhaus Hamburg-St. Georg an einer sich selbst zugefügten | |
| Schussverletzung. Zurück bleibt ein etwa einjähriges Kind. | |
| Damit es nicht bei einer klassisch kulturhistorischen Recherche bleibt, | |
| sondern zum Romanprojekt „Die Kellertänzer“ heranreift, gesellt sich für | |
| Jockel ein zweites Moment hinzu, einige Jahre später; die Ganzkörpermasken | |
| wurden mittlerweile von ihm ausgestellt, sind nun Teil der Sammlung: „Eines | |
| Tages steht bei uns unten in der Eingangshalle ein älterer Mann und sagt zu | |
| mir: ‚Guten Tag, ich bin das Kind, und ich würde gerne etwas über meine | |
| Eltern wissen‘“, erzählt Jockel; und wie ihn das berührt hat, ist ihm heu… | |
| noch anzumerken. | |
| „Es ist nun nicht unsere Aufgabe, über Familien zu recherchieren. Wir | |
| forschen über die Kunst. Aber dass ich dem Mann so wenig sagen konnte, dass | |
| ich ihm so viel schuldig bleiben musste, hat mich nicht losgelassen“, sagt | |
| er. Was wiederum seinen Grund hat: „Meine Eltern sind beide früh | |
| verstorben, ich bin bereits mit 19 Jahren Vollwaise geworden, und | |
| Nachforschungen zu meinen Eltern haben mich zeitlebens begleitet“, sagt er. | |
| Und damit ist ihm jenes Feld vertraut, auf das man sich da begibt: Welche | |
| Geschichten, die einem erzählt werden, sind von wem warum verändert oder | |
| überformt worden – und gibt es womöglich doch eine Kernerzählung, die am | |
| Ende wahr ist, vielleicht? | |
| „Ein großes Thema des Romans ist ‚[3][Anonymität]‘“, sagt Jockel. Den… | |
| wie die beiden Kellertänzer in den von ihnen entworfenen und gebauten | |
| Ganzkörpermasken der Welt ihr Innerstes zeigen wollten, ist über ihr | |
| eigenes Leben aus eigenen Quellen kaum etwas bekannt. Nur ein einziges Foto | |
| von den beiden gibt es – das möglicherweise ein anderes Paar zeigt. | |
| Nils Jockel lässt uns in seinem Roman an dieser Suche teilhaben. Er erzählt | |
| von der tiefen Verlorenheit eines Kunstwissenschaftlers, er begleitet ihn | |
| durch die verschiedenen Phasen der Erkenntnis, des Zweifels und des | |
| Zweifelns. | |
| „Es ist das Gefühl, da nimmt mir jemand meine Kinder weg“, beschreibt | |
| Jockel aus der Rückschau den Moment, wenn am Ende eine offene | |
| Kunstweltrecherche in eine museumsgenehme, abschließende Präsentation | |
| überführt wird. Und ergänzt: „Kunsthistoriker und Kustoden reden ja nicht | |
| darüber, was sie für ein Verhältnis zu ihren Forschungsprojekten haben, | |
| welche Befindlichkeiten und auch welche eigenen Eitelkeiten bei ihnen | |
| berührt werden.“ | |
| Und daher muss er noch ein letztes Mal persönlich werden, im Sinne der | |
| Kunst: „Als ich die Masken hier im Haus das erste Mal ausgestellt habe, | |
| habe ich gedacht: Das ist doch völliger Quatsch! Die beiden wollten in | |
| diesen Masken tanzen, es ging ihnen um Selbstexposition. Und dann standen | |
| da so lustige Comic-Figuren.“ | |
| Er schüttelt sachte den Kopf: „Ich weiß nicht, wie ich es besser machen | |
| sollte; ich versuche nur, meine Skrupel zu schildern, die ich immer hatte.“ | |
| Daraus ist am Ende ein mehrschichtiger Roman geworden, der sehr klug ist | |
| und sehr mutig; sehr spannend erzählt auch, was ja nie schaden kann. Und | |
| getragen von dem sicheren Gefühl, dass sich in der Begegnung mit dem | |
| Verborgenen noch mal eine ganz eigene Welt zeigt, voller neuer Räume. | |
| 12 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frank Keil | |
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