# taz.de -- Kunst des Knotens: „Makramee hat mein Leben gerettet“ | |
> Manfred Hall aus Mannheim hat im Ruhestand ein neues Hobby gefunden: | |
> Makramee. Auf Instagram hat er mehr als 55.000 Follower. | |
Bild: Am Rhein geht Manfred Hall gern spazieren | |
wochentaz: Herr Hall, Sie haben den Großteil Ihres Lebens mit Ihrer Arbeit | |
auf der Baustelle oder im Betrieb verbracht, zuletzt 33 Jahre in derselben | |
Firma. Vermissen Sie irgendetwas aus dieser Zeit? | |
Manfred Hall: Nein. Nichts. | |
Wirklich, überhaupt nichts? | |
Ich bin froh, dass ich schon so alt bin. Aber ich bin auch traurig, dass | |
ich so alt bin. Ich möchte einfach meine letzten Jahre genießen, wer weiß, | |
wie lange noch. Ich hoffe, ich werde 120 Jahre alt. | |
Wann ist man alt? | |
Man ist immer so alt, wie man sich fühlt. | |
Wie alt fühlen Sie sich? | |
Um die 40 oder 45. | |
Wie alt haben Sie sich denn zu dem Zeitpunkt gefühlt, als Sie in Rente | |
gingen? | |
Damals fühlte ich mich so alt, wie ich war, 65 Jahre alt. | |
Wie haben Sie sich den Ruhestand damals vorgestellt? | |
Ich habe schon mit 50 angefangen, mich darauf zu freuen. Es dauert nicht | |
mehr lange, dachte ich mir damals – es sind nur noch 15 Jahre, das schaffe | |
ich schon. Ich träumte von der Freizeit, die man nicht hat, wenn man | |
berufstätig ist. Man könnte in den Urlaub fahren, egal wann. | |
Sie haben sich also auf die Rentenzeit gefreut? | |
Ja, auch weil ich drei Tage vor meiner Rente einen Rollerunfall hatte. Ich | |
hätte es fast nicht überlebt. Das kann nicht wahr sein, dachte ich mir. | |
Drei Tage bevor ich endlich in Rente gehen kann, werde ich umgefahren. Ich | |
habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, nur um meinen Ruhestand nicht | |
genießen zu können. Das wäre mein Albtraum gewesen. | |
Wie war Ihr letzter Arbeitstag? | |
Ich fuhr um 6 Uhr morgens zur Arbeit, stand an der Maschine, füllte | |
Farbdosen, wie immer. Meine Kollegen verabschiedeten sich und ich räumte | |
meinen Spind aus. Meine Werkzeuge habe ich meinem Kollegen gegeben. Am Ende | |
war es schmerzhaft, die Firma zu verlassen. | |
Warum schmerzhaft? | |
Ich wusste, dass ich meine Kollegen nicht mehr so oft sehen würde. Sie | |
waren zwar mehr wie Betriebsfreunde, wirklich enge Freunde sind sie nicht | |
geworden. Trotzdem hatten wir immer eine gute Zeit zusammen. Das habe ich | |
schon vermisst. | |
Sie sind zum Jahreswechsel 2018 in Rente gegangen. War es so, wie Sie es | |
sich vorgestellt haben? | |
Die ersten paar Monate waren großartig. Ich konnte endlich ausschlafen. Im | |
Sommer arbeitete ich im Garten und erledigte einige Aufgaben am Haus. Aber | |
dann kam der Winter. Ich konnte nicht mehr draußen im Garten arbeiten, die | |
Decke fiel mir auf den Kopf. | |
Sie hatten zu viel Zeit. | |
Ich vermisste meine Kollegen. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu Menschen. | |
Ich fiel in ein Loch. Ich bin eingeschlafen, wurde traurig, hatte keine | |
Lust mehr auf das Leben. | |
Was haben Sie getan, um sich die Zeit zu vertreiben? | |
Ich saß in meinem Sessel und schaute aus dem Fenster: wer vorbeiging, | |
welche Autos vorbeifuhren. Ich dachte mir nur: Was bietet mir dieses Leben | |
noch? Was kann ich in diesem Alter noch tun? Es fiel mir schwer, Dinge zu | |
tun, die ich früher gerne getan habe. | |
Zum Beispiel? | |
Der Flur in unserem Familienhaus musste neu tapeziert werden. Ich konnte | |
das, was ich früher gerne gemacht habe, nicht mehr tun. Ich hatte einfach | |
keine Lust mehr. Ich weiß nicht, warum. | |
Tapezieren haben Sie schon als Jugendlicher gelernt, nach der Schule haben | |
Sie eine Ausbildung zum Maler gemacht. Wollten Sie schon immer Maler | |
werden? | |
Ich habe schon immer viel gemalt. In der Schule habe ich Karikaturen | |
gezeichnet. | |
Aber Karikaturen zeichnen und Fassaden streichen sind zwei ganz | |
verschiedene Dinge. | |
Ich wollte erst eine Lehre machen und dann auf die Universität gehen, um | |
Zeichner zu werden. Aber das hat nicht geklappt, weil mein Vater in dieser | |
Zeit gestorben ist. | |
Warum konnten Sie dann nicht studieren? | |
Meine Mutter ging wieder arbeiten, aber das reichte nicht aus. Ich war das | |
mittlere von fünf Kindern, meine beiden jüngeren Geschwister waren noch in | |
der Schule und meine beiden älteren Brüder arbeiteten bereits. Meine Eltern | |
hatten gerade ein Haus gebaut. Es wäre wirklich knapp geworden, wenn ich | |
weggezogen wäre und mein Gehalt verloren hätte. | |
Später konnten Sie diesen Traum nicht mehr verwirklichen? | |
Das wollte ich zwar machen, es hat aber nie geklappt. Das bedaure ich bis | |
heute. | |
Heute haben Sie vier Kinder und fünf Enkelkinder. Haben sie Ihnen geholfen, | |
aus dem Loch herauszukommen, in das Sie geraten sind, nachdem Sie in Rente | |
gegangen waren? | |
Meine Tochter hat mir Makramee gezeigt, das hat mir wirklich das Leben | |
gerettet. Wir sind gemeinsam ins Internet gegangen und haben uns Videos | |
darüber angeschaut. Ich habe dann verschiedene Knoten ausprobiert. Wenn es | |
mal nicht geklappt hat, habe ich die Knoten wieder aufgemacht und es noch | |
mal probiert. | |
Die gescheiterten Knoten haben Sie nicht demotiviert? | |
Nein, ganz im Gegenteil. Wenn überhaupt, dann haben sie mich motiviert, | |
weiterzumachen. Heute mache ich das alles blind, ich brauche nicht einmal | |
mehr ein Muster. Ich schaue mir einfach ein Bild an und weiß schon, wie ich | |
es knüpfen muss. | |
Was war das erste Kunstwerk, das Sie selbst hergestellt haben? | |
Ein Ring, bei dem die Kordeln in der Mitte zusammenlaufen – eine nach links | |
und eine nach rechts gezogen und dann verknotet. Die Freundin meiner | |
Tochter wollte den allerersten haben. | |
Und wie sehen die Projekte heute aus? | |
Heutzutage mache ich größere Projekte, die zwei bis drei Wochen dauern. Es | |
macht mir immer noch Freude, wenn ich ein Projekt fertig stelle. Ich fühle | |
mich innerlich sehr glücklich, wenn ich das Makramee ansehe und sagen kann: | |
Das hast du selbst gemacht. | |
War das am Anfang der Ansporn, mehr Makramee zu machen? | |
Ja, klar. Aber Makramee hat mich auch ruhiger gemacht, mein Leben ist | |
angenehmer geworden. Meine Frau empfindet das auch und unterstützt mich, wo | |
sie kann. | |
Wie haben Sie Ihre Frau kennengelernt? | |
1973 lernten wir uns in einer Disco kennen, wie es damals üblich war. Wir | |
gingen tanzen. Heute sind wir seit 50 Jahren verheiratet. | |
Jetzt haben Sie eine Menge Zeit. Was machen Sie gemeinsam mit dieser Zeit? | |
Wir gehen viel spazieren, oft hier am Rhein. Ich versuche immer, das mit | |
der Suche nach Stöcken für meine Makramee-Projekte zu verbinden. Treibholz | |
ist wunderschön, sehr glatt und sauber. Dann trockne ich es bei mir zu | |
Hause und schleife es ein wenig ab. Wenn es die Zeit erlaubt, machen wir | |
auch einen Spaziergang durch den Wald oder über die Felder. | |
Sie kommen immer noch in Zeitnot? | |
Ja, aber nicht nur von meiner Seite aus, sondern auch von der meiner Frau. | |
Der Haushalt ist eine Menge Arbeit. Sie hilft mir auch mit dem Makramee. | |
Sie schneidet die Fäden immer auf die Länge, die ich brauche. Dann liegen | |
sie bereit, wenn ich flechten will. | |
Woran denken Sie, wenn Sie flechten? | |
Ich habe immer ein Bild in meinem Kopf, wie das Stück am Ende aussehen | |
soll. Dann beginne ich zu knüpfen und hoffe, dass es so bleibt. Wenn ich | |
knüpfe, bin ich in meinen Gedanken versunken. Ich muss immer zählen und | |
darauf achten, dass ich die richtige Reihenfolge einhalte. | |
Das klingt fast wie Meditation. | |
Ja, ein bisschen. Ich höre und sehe nichts als mein Makramee. Neben mir | |
kann sonst noch etwas passieren, aber das interessiert mich im Moment | |
nicht. | |
Und die negativen Gedanken? | |
Früher konnte ich sie nie abschalten, egal was ich tat. Ich saß dann in | |
meinem Stuhl und war traurig. Mit Makramee fällt es mir leichter, mich von | |
negativen Gedanken zu lösen. Ich bin wieder positiver und ruhiger geworden. | |
Sie haben als „[1][Makramee Opa]“ auch eine Menge Follower auf Instagram. | |
Der Kontakt mit Menschen auf Instagram hat mich auch wieder aufgemuntert. | |
Nach dem Renteneintritt war der Kontakt zur Außenwelt verschwunden. Ich | |
finde es immer noch toll, dass die Leute mir schreiben. | |
Was schreiben Ihnen Ihre Follower? | |
Ich bekomme zwischen 40 und 100 Nachrichten pro Tag auf Instagram. Sie | |
schreiben immer: „So einen Opa hätte ich auch gerne“. Oder „Du bist unser | |
Opa“. | |
Freuen Sie sich darüber? | |
Natürlich freue ich mich darüber. Aber ich kann nicht für jeden ein Opa | |
sein. Ich habe aber auch Liebesanfragen erhalten. | |
Von wem? | |
Eine junge Frau schrieb mir, dass ihre Mutter auch Rentnerin und einsam | |
ist. Ich wäre eine gute Ergänzung für sie, wir sollten uns einmal treffen. | |
Sie hatte wahrscheinlich nicht gelesen, dass ich glücklich verheiratet bin. | |
Sind Follower echte soziale Kontakte? | |
Ja, das würde ich so sagen. Andere sehen das vielleicht nicht so, sie | |
sagen, dass E-Mails und Nachrichten keine persönlichen Kontakte sind. Aber | |
ich freue mich über jeden, der mir im Internet folgt. Das gibt mir einen | |
sozialen Kontakt, vielleicht keinen persönlichen. Sie sehen meine Bilder | |
und ich sehe ihre Bilder. Wir sind also schon miteinander in Kontakt. | |
Können Onlinefreundschaften echte Freundschaften ersetzen? | |
Nein, das können sie nicht. Dafür sind sie zu oberflächlich. Aber es ist | |
trotzdem schön, dass es sie gibt. | |
Haben Sie in Mannheim Freunde? | |
Nein. Ich war früher nicht so ein Freundschaftspfleger. Ich hatte einen | |
besten Freund, als ich jung war. Aber dann habe ich geheiratet, und er ist | |
nach Berlin gezogen. Das hat sich dann aufgelöst. Am Ende gab es keine | |
Freunde mehr. | |
Warum eigentlich? | |
Wir hatten vier Kinder. Zusätzlich zu meinem Job arbeitete ich auch auf dem | |
Bau, um genug Geld zu verdienen. Ein paar Jahre lang habe ich auch samstags | |
und sonntags gearbeitet, um über die Runden zu kommen. Mit einem | |
Vollzeitjob und einer Familie bleibt da nicht viel Zeit für Freundschaften. | |
Vermissen Sie Freundschaften, jetzt, wo Sie mehr Zeit haben? | |
Nein. Man kann nur vermissen, was man verloren hat. Das habe ich schon so | |
lange nicht mehr gehabt, dass ich es nicht vermissen kann. | |
Haben Sie noch ein enges Verhältnis zu Ihren Kindern? | |
Meine Kinder helfen mir sehr viel. Ich glaube auch, dass sie das von meiner | |
Frau übernommen haben. Sie hat elf Geschwister. Sie war immer für ihre | |
Geschwister und Eltern da. | |
Nicht alle Eltern haben das Glück, von ihren Kindern unterstützt zu werden. | |
Ja, aber es fühlt sich nicht immer gut an. Manchmal fühle ich mich, als | |
wäre ich 100 Jahre alt – als könnte ich nichts mehr alleine machen. Die | |
Kinder wollen helfen und alles machen. Obwohl ich immer noch Bäume fällen | |
könnte. Das kommt mir total seltsam vor. | |
Wie gehen Sie damit um? | |
Es hat sich eingespielt. Jetzt sitze ich da und gebe Anweisungen und lasse | |
den Chef raushängen (lacht). Aber am Anfang war es ein Kampf. | |
9 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.instagram.com/makrameeopa/?hl=de | |
## AUTOREN | |
Clara Suchy | |
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