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# taz.de -- Evakuierung aus Gaza-Stadt: Unsere Reise ins Elend
> Evakuieren oder nicht? Unsere Autorin in Gaza erinnert sich an die ersten
> Tage des Kriegs. Bis heute konnte sie nicht in ihr Zuhause zurückkehren.
Bild: Palästinenser*innen fliehen in Richtung der südlichen Gebiete des Gazas…
Da ich besorgt war, dass der Veranstaltungsort für elf Personen zu klein
sein könnte, reservierte ich einen Tisch im Restaurant Nu Level in
[1][Gaza-Stadt] und wartete auf Bestätigung. Wenige Augenblicke später
erhielt ich eine positive Antwort. Es war der 6. Oktober und meine Familie
hatte geplant, am nächsten Morgen in dem Restaurant mit der Dachterrasse zu
frühstücken.
Wir freuten uns darauf, uns zu treffen, Geschichten auszutauschen und zu
lachen. Die Kinder telefonierten schon den ganzen Tag über und planten
aufgeregt den kommenden Tag. An diesem Abend des 6. Oktobers, während wir
uns auf das Frühstück am nächsten Morgen einstellten, gingen wir alle mit
einem Gefühl des Friedens ins Bett – ein Gefühl, nach dem wir uns jetzt
sehnen.
Geräusche der Zerstörung unterbrechen die Ruhe
In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober durchbrachen Geräusche der
Zerstörung unsere Ruhe und kündigten etwas an, das unser Leben verändern
sollte. Erschrocken stolperten meine Eltern und ich aus dem Bett, ohne zu
wissen, was passiert war. Nach rund 15 Minuten anhaltender Bombardierung
erfuhren wir von dem [2][Angriff am 7. Oktober] und dem Beginn des Krieges.
Als jemand, der bereits Kriegserfahrungen gesammelt hatte, dachte ich
zunächst, es würde ähnlich sein wie bei den vier Kriegen, die ich bislang
erlebt hatte. Die Situation eskalierte jedoch schnell und am Ende des Tages
waren überall die nicht aufhörenden Bombenangriffe zu hören.
Trotz der Bombardierung waren die folgenden drei Tage zu Hause
überraschenderweise weniger beängstigend, sogar eher erleichternd. Unser
Haus bot uns Trost und Schutz. Es ließ uns nicht gehen.
Eine Welle der Angst
Am 10. Oktober entdeckten wir im Laufe des Tages eine [3][von der
israelischen Armee veröffentlichte Karte], auf der die Blöcke verzeichnet
waren, die aus Sicherheitsgründen evakuiert werden mussten. Wir wohnten
östlich von [4][Gaza-Stadt] und wussten nicht genau, wo sich unser
Wohnblock befand. Nach einer angespannten und angsterfüllten Suche
entdeckten wir, dass unser Haus nicht auf der Evakuierungskarte verzeichnet
war, sich aber in der Nähe des letzten Blocks befand, der für die
Evakuierung vorgesehen war.
Es folgten Momente ängstlicher Stille. Dann, plötzlich, ertönte eine Reihe
heftiger Bombardements, als ob sie uns befehlen würden: „Raus jetzt!“
In extremer Panik rannten wir umher, kauerten uns zusammen und beteten für
unsere Sicherheit. Als ich die Tür öffnete, um nachzusehen, was los war,
sah ich meine Onkel die Treppe hinunterlaufen. Ihre Kinder zitterten vor
Angst. „Wir müssen sofort weg!“, rief mein Onkel.
Schweren Herzens packten wir unsere Wertsachen und die wichtigsten
Dokumente zusammen und machten uns auf den Weg zum Haus meines Onkels im
Westen von Gaza-Stadt. Dort verbrachten wir drei Tage in einer kleinen
Wohnung und sehnten uns vom ersten Tag an nach Hause zurück.
Ist heute der Tag des Jüngsten Gerichts?
Am 13. Oktober um 3 Uhr morgens wurde ich durch die leisen Geräusche von
Benachrichtigungen meines Handys aus dem Schlaf geweckt. „Hend, wach auf!“,
flüsterte meine Schwester eindringlich. Verschlafen blinzelte ich sie an.
„Was ist denn los?“, murmelte ich. „Hast du etwas von deiner Arbeit gehö…
Dass du in wenigen Stunden in den Süden des Gazastreifens evakuiert
wirst?“, fragte meine Schwester besorgt. „Was?“, rief ich ungläubig aus.
Wenige Minuten ging es im ganzen Gebäude nur noch um die Evakuierung in den
Süden. Kaum jemand konnte in dem Durcheinander eine Entscheidung treffen,
bis wir eine Stunde später draußen Lärm hörten. Als wir vom Balkon
blickten, sahen wir zu unserem Entsetzen Hunderte von Menschen, die in
Richtung Süden strömten. „Ist das der Tag des Jüngsten Gerichts?“, fragte
ich mich laut. Es kam mir vor wie ein Alptraum, aus dem ich hoffte, bald zu
erwachen.
Bevor wir eine endgültige Entscheidung trafen, kehrten wir schweren Herzens
noch einmal nach Hause zurück. Trotz der Ungewissheit klammerte ich mich an
die Hoffnung, dass das alles nur ein böser Traum war. Dann erklärte meine
Mutter entschlossen: „Wir werden alle zusammen in den Süden gehen, ob wir
leben oder sterben.“
Als wir unser Haus besichtigten, rangen wir erneut mit der Entscheidung,
was wir mitnehmen sollten, da wir nicht wussten, wohin wir gehen würden.
Nur mit unseren wichtigsten Sachen verließen wir das Haus. Wir dachten
immer noch, dass wir nicht länger als eine Woche von zu Hause wegbleiben
würden.
Doch aus der Woche sind mittlerweile sechs Monate geworden. Als wir uns
damals von unserem geliebten Zuhause verabschiedeten, begann unsere Reise
ins Elend …
Hend Al Qataa, 32 Jahre alt, ist als Lehrerin für das UN-Hilfswerk UNRWA
tätig. Sie lebt mit etlichen anderen Personen in einer Wohnung in Zawaida
im mittleren Gazastreifen. Übersetzung: Jannis Hagmann
In der Reihe „Gaza-Tagebuch“ berichten unsere Autor*innen von ihrem
Leben im Gazastreifen. Alle Beiträge finden Sie [5][hier.]
29 Mar 2024
## LINKS
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[2] /Angriffskrieg-der-Hamas-gegen-Israel/!5965603
[3] /Krieg-im-Nahen-Osten/!5963392
[4] /Vorgeschichte-des-Angriffs-auf-Israel/!5966215
[5] /Kolumne-Gaza-Tagebuch/!t5999816
## AUTOREN
Hend Al Qataa
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