| # taz.de -- Brief an den Weihnachtsmann: Dichtung und Wahrheit | |
| > Meine Tochter Hatice hat dem Weihnachtsmann geschrieben. Ich habe den | |
| > Brief auch zu lesen bekommen und war sprachlos. | |
| Bild: Hatice ist mit ihrem Brief nicht allein: Post für den Weihnachtsmann gib… | |
| „Mein lieber Onkel Weihnachtsmann, wie geht’s Dir? Und wie geht’s deinen | |
| Rentieren dort oben am Nordpol? Ich weiß, dass Du mich in ein paar Tagen | |
| besuchen wirst, um mir meine Weihnachtsgeschenke zu überreichen. Ich | |
| schreibe Dir jetzt auch früh genug, damit Du noch reichlich Zeit hast, bis | |
| dahin alles zu besorgen. | |
| Lieber Onkel Weihnachtsmann, mein Name ist Hatice Engin. Ich bin acht Jahre | |
| alt und mir geht’s leider nicht so gut. Meine richtigen Eltern sind vor | |
| drei Jahren gestorben. | |
| Seitdem bin ich nur noch am Weinen. Davor eigentlich auch, aber alles der | |
| Reihe nach: Mein brutaler Vater Osman und meine schlimme Mutter Eminanim | |
| sind an einem Wintermorgen mit ihrem Auto die Klippen hinunter gestürzt. | |
| Natürlich hatte mein Vater wie immer morgens jede Menge Alkohol getrunken, | |
| bis er dann sturzbesoffen auf mich und meine Geschwister eingeprügelt hat. | |
| Meine Mutter, die eine richtige Schlampe war, hatte auch keine Lust für uns | |
| Essen zu kochen und wollte lieber mit meinem Vater in die [1][Kneipe] | |
| gehen, um sich richtig einen zu ballern. | |
| Lieber Onkel Weihnachtsmann, mit drei Jahren hat mein Vater mich zu einem | |
| Schuster gegeben. Ich musste den ganzen Tag dreckige Schuhe putzen und habe | |
| nichts zu Essen gekriegt. Jede Nacht habe ich in meinem kalten Zimmer | |
| fürchterlich geweint. Und mindestens einmal im Monat haben mich meine | |
| Eltern im [2][Wald] oder auf der [3][Autobahn] ausgesetzt. | |
| Als ich einmal sehr schlimm krank war und nicht mehr bei dem bösen Schuster | |
| arbeiten konnte, haben meine grausamen Eltern mich dann zum Betteln | |
| gezwungen. Und anschließend auch noch das Geld weggenommen, damit sie sich | |
| noch mehr besaufen können. Dafür hat mir meine Mutter ständig vergiftete | |
| Äpfel zum Essen gegeben, weil sie nicht damit klar kam, dass ich viel | |
| hübscher war als sie. | |
| Lieber Onkel Weihnachtsmann, das Leben als Vollwaise ist kein | |
| Zuckerschlecken, sag ich Dir! Aber ich möchte nicht, dass Du Mitleid mit | |
| mir bekommst und mich anschließend mit Deinen Geschenken über alle Maßen | |
| bevorzugst. Aber wenn doch, dann sage ich nicht nein. Das ist Deine | |
| Entscheidung und ich muss es akzeptieren.“ | |
| Als ich Hatices Brief an den Weihnachtsmann lese, bin ich sprachlos! „Sag | |
| mal, meine liebe Tochter Hatice, du glaubst also, dass wir dich adoptiert | |
| haben?“, zische ich. | |
| „Papa, hast du mir nicht gesagt, dass man keine fremden Briefe lesen | |
| darf?“, tut sie auch noch beleidigt. | |
| „Das ist richtig! Aber du bist ja nicht fremd. Du bist meine Tochter, | |
| obwohl du anscheinend anderer Meinung bist.“ | |
| „Papa! Ist doch klar, dass der Weihnachtsmann für so ein armes, kleines | |
| Waisenkind mehr Geschenke ranschleppt, als für die anderen. Zuerst wollte | |
| ich ihm ja auch die Wahrheit sagen, dass du noch lebst und was für ein | |
| elender Geizkragen du bist. Aber warum stellst du dich denn überhaupt so | |
| an? Außer, dass ihr tot seid, stimmt doch alles!“ | |
| 16 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Osman Engin | |
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