# taz.de -- Silvesterböllerei: „Der Nahostkrieg hat damit nichts zu tun“ | |
> Die propalästinensischen Demonstrationen seien Ausdruck der Betroffenheit | |
> über die grausamen Bilder aus Gaza, sagt der Sozialpädagoge Hamad Nasser. | |
Bild: Unter Beobachtung: eine Pro-Palästina-Demonstration durch Kreuzberg | |
taz: Herr Nasser, mit was für einem Gefühl blicken Sie als Palästinenser in | |
diesen Wochen auf Gaza und Israel? | |
Hamad Nasser: Mit [1][Schmerz und Enttäuschung und auch Ohnmacht]. Es gab | |
auch gute Phasen in der langen Zeit des Nahostkonflikts und auch Hoffnung. | |
Jetzt sieht alles nach Ruin aus. | |
Als Leiter des Nachbarschaftszentrums Schöneberg kommen Sie auch viel in | |
der palästinensischen Community in Berlin herum. Entspricht das dem | |
allgemeinen Gefühl? | |
Ja. Und es gibt noch ein Empfinden bei vielen Menschen: Sie fühlen sich | |
eingeschüchtert und mundtot gemacht. | |
Inwiefern? | |
Die gesamte Berliner Politik hat nach dem Überfall der Hamas einen sehr | |
harten Kurs gefahren. Was die israelische Bevölkerung am 7. Oktober erlebt | |
hat, war das Schlimmste nach der Shoa. Viele deutsche Menschen waren | |
betroffen, aber das triggerte sie auch in unsere Richtung. | |
Wie meinen Sie das? | |
Berliner mit palästinensischen Wurzeln wurden per se als Hamas-Anhänger | |
angesehen. Leute, die überhaupt nicht radikal sind, hat das sehr irritiert. | |
Es gibt viel Druck gegen die palästinensische Community. Es gibt den | |
Generalverdacht, dass wir alle extremistisch sind. | |
Das inzwischen verbotene extremistische palästinensische Netzwerk Samidoun | |
hatte nach dem Terroranschlag Süßigkeiten in der Sonnenallee verteilt. Die | |
Polizei hatte die anschließenden Demoverbote damit begründet, dass | |
antisemitische Straftaten zu erwarten seien. | |
Es gab einige Leute, die mit Freude auf den Anschlag reagiert haben. Die | |
palästinensischen Organisationen distanzieren sich von ihnen. Die Mehrheit | |
der politischen Akteure verurteilt den Terroranschlag. Aber viele fühlen | |
sich vorverurteilt, wenn sie pro Gaza sind. Was sich da im Gazastreifen | |
durch den israelischen Militärangriff abspielt, die Liquidierung von so | |
vielen Zivilisten, ist grauenvoll. Die Zahl der in Gaza getöteten | |
Zivilisten übersteigt die Zahl der in zwei Jahren Ukrainekrieg getöteten | |
Zivilisten schon jetzt bei Weitem. Aber die Kritik an Israel wird mit | |
Antisemitismus gleichgesetzt. Jeder Kritiker, selbst wenn es ein | |
israelischer Kritiker ist, wird als antisemitisch bezeichnet. Was mich auch | |
sehr geärgert hat, war, dass die Polizei die Demoverbote sehr radikal | |
umgesetzt hat. | |
Auch die Demonstranten waren zum Teil sehr aggressiv. Polizisten wurden | |
bedrängt und geschubst. | |
Es sind größtenteils junge Menschen. Die grausamen Bilder aus Gaza treiben | |
sie um. Als Berliner mit palästinensischen Wurzeln bestehen sie auf ihrem | |
Recht, zu protestieren, wie andere Menschen auch. Die Polizei hätte | |
gemäßigter vorgehen können. Mittlerweile gibt es anscheinend auch in der | |
Politik die Erkenntnis, dass es besser ist, wenn die Polizei bei | |
propalästinensischen Demonstrationen nicht mehr so martialisch auftritt. | |
In Berlin geborene Palästinenser identifizieren sich also genauso mit den | |
Menschen in Gaza wie ihre Eltern und Großeltern, die einst nach Deutschland | |
geflohen sind? | |
Das Gefühl von Ohnmacht, Verzweiflung und Enttäuschung ist | |
generationsübergreifend. Bei deutsch-palästinensischen Kindern ist das | |
genauso wie bei palästinensischen Jugendlichen. Bei der Jugend ist die | |
interessante Entwicklung zu beobachten, sich vermehrt kulturell und | |
politisch in Clubs und Vereinen zu organisieren. „Palästina spricht“ ist | |
zum Beispiel ein studentischer Verein, der sich verstärkt äußert. | |
Wie erklären Sie sich das? | |
Der Weg der Integration war sehr steinig. Der größte Teil der Palästinenser | |
ist nie wirklich angekommen. Sie haben Rückschläge erlitten, das | |
Asylverfahren hat lange gedauert, die Anerkennung der Berufsabschlüsse | |
verlief schleppend. Die Diskriminierungserfahrungen sind sehr hoch. Das | |
überträgt sich bis zur dritten Generation, die es mittlerweile schon gibt. | |
Das kollektive Gedächtnis darf man nicht unterschätzen. Wir haben es mit | |
einer traumatisierten Gesellschaft zu tun. Die Nakba … | |
… die Flucht und Vertreibung im Zuge der israelischen Staatsgründung | |
1947/48 … | |
… ist sehr präsent im Empfinden und Denken der Familien. Die brutale | |
Vertreibung, die Zerstörung der Struktur Palästinas und der | |
palästinensischen Gemeinschaft. Die Perspektivlosigkeit dauert fort, weil | |
es keine politische Lösung gibt. Sie sind als Volk immer weniger ein Thema. | |
Wir verlangen von den Palästinensern, bevor sie den Mund aufmachen: | |
Vorsicht, Existenzrecht Israel. Die jungen Leute sagen aber: Wer redet denn | |
über unsere Existenzberechtigung? | |
In Berlin leben immerhin rund 40.000 Palästinenser. | |
In Berlin haben wir die größte Gruppe von Palästinensischstämmigen, die | |
aufgrund ihrer Vorgeschichte eher scheitern auf ihrem Bildungsweg. Da zeigt | |
sich wieder einmal, wie sich bei Familien, die Bildungsprobleme haben, die | |
Benachteiligung reproduziert. In den letzten Jahren gab es zwar deutlich | |
mehr Anstrengungen, aber wir sind bis heute nicht in der Lage, gute | |
integrative Konzepte zu entwickeln, um alle Menschen mitzunehmen. Umso | |
erfreulicher ist, dass es allen schlechten politischen Rahmenbedingungen | |
zum Trotz, nicht wenige Palästinenser geschafft haben, weitergekommen. | |
Sie gehören dazu? | |
Ich hatte viel Glück. Ich war neun Jahre alt, als ich mit meinen Eltern | |
nach zweifacher Vertreibung 1976 aus dem Libanon nach Berlin gekommen bin. | |
Ich konnte die Schule beenden und studieren. | |
2004 haben Sie das Nachbarschaftszentrum in der Steinmetzstraße in | |
Schöneberg aufgebaut. Was ist die Zielgruppe? | |
In dem Kiez leben viele Einwanderer, die Lebensverhältnisse sind oftmals | |
prekär. Viele kommen aus dem Libanon, Türkei, Sri Lanka, Maghreb, | |
Kurdistan. Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene sind unser zentrales | |
Thema. Unter den Geflüchteten finden sich auch viele jüdisch Gläubige. Der | |
Glaube hat keinen Stellenwert bei uns, es geht um Wertschätzung und | |
Akzeptanz. | |
In wenigen Tagen ist Silvester. [2][Seit 2019 gibt es im Steinmetzkiez eine | |
Böllerverbotszone – die erste, die in Berlin ausgerufen wurde], nachdem es | |
sechs Jahre auf der Straße ähnlich heftig zuging wie letztes Silvester in | |
Neukölln. Sind Sie ein Befürworter des Böllerverbots? | |
Sehr sogar. Ich finde das im Interesse der Kinder und der Jugendlichen | |
richtig. Es war hochgefährlich, was hier passiert ist. | |
Nach den Ausschreitungen beim letzten Jahreswechsel darf nun auch im | |
Neuköllner Reuterkiez und Teilen der Sonnenallee nicht mehr geböllert | |
werden. | |
Wenn es nach mir ginge, gäbe es ein berlinweites Böllerverbot. Ich weiß, | |
dass das auf Bundesebene entschieden werden muss. Die jetzige Praxis sieht | |
aber so aus, dass nur an Ecken, wo Migranten zusammenleben, Feuerwerk | |
verboten wird. | |
Was stört Sie daran? | |
Da entsteht das Gefühl von Ungleichbehandlung: Warum wir und nicht auch die | |
anderen? [3][Die Angriffe auf die Feuerwehr vergangenes Silvester waren | |
dramatisch]. In den Verbotszonen leben aber auch sehr viele migrantische | |
Jugendliche, die nett und artig sind und die Feuerwehr mögen. Wenn ich mit | |
Familien und Jugendlichen rede, höre ich eine deutliche Verurteilung der | |
Vorkommnisse. Die Mehrheit der Menschen weiß, wie wichtig Feuerwehr und | |
Polizei sind. | |
Was für ein Bild wird mit einem begrenzten Böllerverbot erzeugt? | |
Dass es größtenteils migrantische Jugendliche sind, die mit Feuerwerk nicht | |
umgehen können. | |
Die vergangenen Silvesterkrawalle wurden stark ethnisiert, etwa durch die | |
von CDU-Chef Kai Wegner angestoßene Vornamendebatte. | |
Das war problematisch. Zunächst hieß es, 134 Araber seien beteiligt | |
gewesen. Letztendlich waren es 40. Das ist schon ein Unterschied. | |
Die Polizei befürchtet, dass neue Silvesterkrawalle durch den Krieg im | |
Nahen Osten und propalästinensische Demonstrationen zusätzlich angeheizt | |
werden könnten. Wie sehen Sie das? | |
Die Leute sind sehr betroffen, mittlerweile gibt es jeden zweiten Tag | |
Demos, die sehr unterschiedlich sind. Die einen rufen Parolen, die anderen | |
machen Laternenumzüge. Aber mit der Silvesterböllerei hat der Nahostkrieg | |
nichts zu tun. | |
Finden Jugendliche nicht immer einen Grund, Krawall zu machen? | |
Aber die sind [4][ein Fall für die Jugendarbeit]. | |
Was wollen Sie damit sagen? | |
Man muss sich mit ihnen beschäftigen und Angebote machen. Ich habe das in | |
den 90er Jahren erlebt. Die Straßensozialarbeit hat eine Brücke bauen | |
können. In dem Moment, wo wir die Unterstützung reduzieren, rächt sich die | |
Jugend. | |
Tragen die Eltern nicht auch Verantwortung? | |
Natürlich. Die haben eine Vorbildfunktion. Geflüchtete Eltern müssen aber | |
erst mal Strukturen für sich selbst schaffen und sind oft überfordert mit | |
der Situation. Wir im Nachbarschaftszentrum arbeiten sehr eng mit den | |
Familien. Ein Glücksfall war, dass sich eine Vätergruppe etabliert hat. Bis | |
zu 13 Männer, die Hälfte palästinensisch, kommen zu den Treffen. Viele | |
unserer Bildungsbotschafter haben einen palästinensischen Hintergrund. | |
Und die Frauen? | |
Sie sind auch Bildungsbotschafterinnen. Ich betone das mit den Vätern | |
deshalb, weil das eine Besonderheit ist. Mütter sind größtenteils ohnehin | |
engagierter in der Erziehungsarbeit als Väter, das ist in deutschen | |
Familien nicht anders als in den arabischen. | |
Was wünschen Sie sich für Silvester? | |
Das ist nicht zur Eskalation kommt. Dass wir langfristige Projekte | |
etablieren für die Jugendlichen in bestimmten Stadtteilen. Und dass wir bei | |
der Bildungsarbeit auch das Thema Nahost nicht ausklammern. | |
Und was wünschen Sie sich für den Nahen Osten? | |
Frieden. Dass die Menschen an den Verhandlungstisch zurückkehren. Es gibt | |
im Krieg keinen Gewinner. In diesem so wenig wie in anderen. | |
Haben Sie Hoffnung? | |
Wenig. | |
28 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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