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# taz.de -- Entlassene Gefangene im Westjordanland: Grüne Fahnen in Ramallah
> Israel hat im Austausch gegen Geiseln mehr als 200 palästinensische
> Gefangene entlassen. Im Westjordanland feiern viele das als Erfolg der
> Hamas.
Bild: Ein entlassener Häftling wird enthusiastisch in Ramallah begrüßt, es w…
Ramallah/Silwad taz | Auf der Toilette einer Turnhalle in Ramallah binden
sich vier Jugendliche Palästinensertücher um den Kopf, bis nur noch ihre
Augen zu erkennen sind. Darüber ziehen sie gelbe Stirnbänder der
palästinensischen Fatah. Ein prüfender Blick in den Spiegel, dann geht es
nach draußen. Vor den Toren des Gemeindezentrums im Westjordanland haben
sich mehrere hundert Menschen versammelt. Sie wollen die palästinensischen
Gefangenen empfangen, die im Austausch gegen Geiseln der Hamas in Gaza
freigelassen werden.
Etwas abseits steht Raed Dudeen, 47 Jahre alt. Auf dem Arm hält er seine
kleine Tochter, an der Hand einen seiner drei Söhne. Gemeinsam wartet die
Familie in der klammen Kälte auf Raeds Frau Manal. „Sie wurde vor einem
Monat wegen eines Posts auf Facebook festgenommen, seitdem habe ich nichts
mehr von ihr gehört“, sagt er. Erst heute Morgen habe ihn der israelische
Inlandsgeheimdienst Schin Bet angerufen und ihn über die Freilassung
informiert. „Ich bin sehr erleichtert, dass sie freikommen soll. Ich mache
mir große Sorgen um sie.“
## Hamas als Teil des Widerstands
Seit die Hamas im Süden Israels mehr als 1.200 Menschen brutal ermordet und
rund 240 Menschen nach Gaza entführt hat, steigt die Zahl der Palästinenser
in israelischen Gefängnissen. Razzien der Armee im von Israel besetzten
Westjordanland sind an der Tagesordnung. Im Rahmen einer einwöchigen
Feuerpause hatten Israel und die Hamas sich auf einen Austausch
verständigt. [1][Bis zur Wiederaufnahme der Kämpfe am Freitag] kamen so
mehr als einhundert Geiseln der Hamas frei. Im gleichen Zeitraum entließ
Israel rund 240 gefangene Palästinenser.
In Ramallah schwenken zwischen den gelben Fatah-Flaggen am Dienstagabend
auch viele die grüne Fahne der Hamas. Zwei junge Frauen tragen Schals der
Miliz. Dass Hamas-Terroristen am 7. Oktober das schlimmste Massaker an
Zivilisten in Israels Geschichte verübten? Vor der Turnhalle sehen viele
die Taten und die Gruppe als Teil des „palästinensischen Widerstands“. Die
hohe Zahl an zivilen Opfern durch israelische Angriffe in Gaza verstärkt
diese Haltung noch.
## Die Fatah hat wenig zu bieten
Saßen vor dem 7. Oktober rund 5.200 Palästinenser in israelischen
Gefängnissen, [2][wurden seitdem laut der palästinensischen
Gefangenengesellschaft mehr als 3.000 weitere festgenommen]. Für die
Wartenden stehen diese Zahlen und die Zustimmung zur Hamas nicht im
Widerspruch. Es gehe um die symbolische Bedeutung, sagt der 23-jährige
Talal aus Ramallah, der nur seinen Vornamen nennen will. „Endlich gibt es
jemanden, der uns beschützt, der für uns kämpft und etwas bewirken kann.“
Dieses Gefühl kann die regierende Fatah den Palästinensern im
Westjordanland, das größtenteils unter israelischer Militärverwaltung
steht, schon lange nicht mehr bieten. Auch wenn auf dem gelben Banner noch
bedrohlich gekreuzte Sturmgewehre prangen – seit die Fatah im Rahmen des
Oslo-Friedensprozesses in den 1990er Jahren die Verwaltung der verbliebenen
palästinensischen Gebiete übernahm, hat ihre Bedeutung stark abgenommen.
Besonders die Zusammenarbeit mit israelischen Sicherheitsbehörden nehmen
ihr viele junge Palästinenser übel. Die Hoffnung auf einen eigenen Staat
hat sich nie erfüllt, und [3][Mahmud Abbas], der Fatah-Vorsitzende und
Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), hat kaum noch
Rückhalt in der Bevölkerung.
## Fast die Hälfte werde bei der Festnahme verletzt
Als in den vergangenen Jahren die Gewalt durch bewaffnete Siedler stetig
zunahm, taten Fatah und PA wenig. Die NGO [4][Save the Children] hat im
Juli einen Bericht veröffentlicht, dem zufolge zwischen 500 und 1.000
Minderjährige jedes Jahr vom Militär festgenommen werden. 80 Prozent würden
in Gewahrsam psychische und physische Gewalt erfahren. Fast die Hälfte
werde bei der Festnahme verletzt.
Bereits vor dem Krieg waren 2023 rund 200 Palästinenser von israelischen
Soldaten erschossen worden, die höchste Zahl seit Jahren. Israel bezeichnet
die meisten der Getöteten als Kämpfer oder Terroristen, immer wieder waren
darunter aber auch Unbeteiligte und Kinder.
„Sie haben Jugendliche erschossen, weil sie mit Steinen geworfen haben“,
sagt Talal vor der Turnhalle. „Keines der Länder, die jetzt die Hamas
kritisieren, hat dazu etwas gesagt.“ Deswegen habe er kein Problem mit der
Hamas.
## Sie feiern die Kassam-Brigaden
Als der Reisebus des Roten Kreuzes mit den Gefangenen sich nähert, läuft
die Menge ihm entgegen. Sie begrüßen die aus der Haft entlassenen Frauen
und Jugendlichen mit Jubel und Parolen: „Das Volk steht hinter den
Kassam-Brigaden.“ Also dem bewaffneten Arm der Hamas.
In dem Durcheinander der feiernden Menge sucht Raed seine Frau Manal und
hält seine Kinder dicht bei sich. Nach einer Viertelstunde findet sich die
Familie. Manal, eine kleine Frau mit schwarzem Wintermantel und Kopftuch,
weint, als sie ihre jüngste Tochter in die Arme schließt. Fernsehteams
drängen sich um die Familie, doch Manal antwortet nur knapp: „Ich hoffe,
dass wir vor besseren Tagen stehen und dass alle palästinensischen
Gefangenen freikommen.“
## UN-Experten bezeichnen die Praxis als „unmenschlich“
Israel hat ausgeschlossen, Häftlinge freizulassen, die Israelis getötet
haben. Unter denen, die jetzt freigekommen sind, waren aber einige, die
etwa wegen Messerangriffen verurteilt wurden. Dazu zählt die heute 26 Jahre
alte Schoruk Dwaiyat, die im Jahr 2015 auf einen 35-jährigen Israeli
einstach und ihn verwundete. Anderen Freigelassenen wurde vorgeworfen,
Steine und Brandsätze geworfen zu haben.
Die meisten der 350 Personen auf der Liste aber waren ohne Gerichtsurteil
im Gefängnis, viele in sogenannter Verwaltungshaft. Diese Praxis erlaubt es
israelischen Behörden, Menschen ohne Angabe von Gründen bis zu sechs Monate
in Gewahrsam zu nehmen. Die Haftdauer kann beliebig oft verlängert werden.
„Theoretisch soll damit eine künftige Bedrohung abgewendet werden“, sagt
Jessica Montell, Vorsitzende der israelischen Menschenrechtsorganisation
[5][HaMoked]. Praktisch würden israelische Behörden jedoch massenhaft
verwenden, um Gerichtsverfahren zu umgehen, besonders wenn sie ihre
Informationsquellen nicht preisgeben wollten. UN-Experten haben die Praxis
als „unmenschlich“ bezeichnet. Die israelische NGO [6][B’Tselem] spricht
von einem „groben Verstoß gegen internationales Recht“.
## Sie sprengten die Türe auf
Obeida Chalil hat dieses Verfahren hinter sich: Eineinhalb Jahre war er im
Gefängnis, ohne dass eine Anklage gegen ihn vorlag. Jetzt ist der
18-Jährige im Rahmen des Gefangenenaustausches freigekommen und seit drei
Tagen zurück im Haus seiner Eltern in Silwad, rund 10 Kilometer nördlich
Ramallahs.
Ein Holzofen in der Mitte des Raumes vertreibt die Novemberkälte. Um ihn
drängen sich Freunde und Geschwister. Immer wieder klingelt Obaida Chalils
Telefon, immer wieder kommen neue Gäste, um ihn zu beglückwünschen. „Wir
wissen bis heute nicht, was sie ihm vorgeworfen haben“, sagt seine Mutter
Badria.
Im Juni 2022 seien am frühen Morgen Dutzende Soldaten am Haus der Chalils
erschienen. Sie sprengten die Türe auf, drangen bewaffnet in die
Schlafzimmer der Familie ein und durchsuchten die Wohnung. Obaida Chalils
Bruder Ahmed zeigt Fotos der verwüsteten Wohnung und wie ein Soldat den
Jugendlichen mit gefesselten Händen abführt. Seitdem blieb seiner Mutter
nur einmal im Monat ein Besuch.
## Die Verurteilungsrate liegt bei 98 Prozent
Die Familie habe einen Anwalt eingeschaltet, ohne Erfolg. „Ich dachte, sie
lassen ihn überhaupt nicht mehr frei“, sagt Badria Chalil. Während für
Israelis im Westjordanland Zivilrecht gilt, unterliegen Palästinenser dem
Militärrecht. Die Richter sind Soldaten. Die Verurteilungsrate liegt laut
den Vereinten Nationen bei 98 Prozent – wenn überhaupt Anklage erhoben
wird. Jeder fünfte Palästinenser saß bereits einmal in israelischen
Gefängnissen.
Die Besucher wissen, was diese Zahlen bedeuten: Einer erzählt von seinem
Vater, der ebenfalls ohne Angabe von Gründen in Haft sei. Ein anderer sagt,
er sei nach einem Streit mit einem Siedler 40 Tage festgehalten worden. Ein
Dritter möchte von dem Freigelassenen wissen, ob er seinen Bruder im
Gefängnis gesehen habe. Seit dem 7. Oktober habe er nichts mehr von ihm
gehört.
## Gerüchte über die bevorstehende Freilassung
„Sie haben uns schon am Morgen des Angriffes alles abgenommen“, sagt Obeida
Chalil. Fernseher, Radios, jeden Zugang zur Außenwelt. Informationen kamen
nur durch neue Häftlinge in die Zellen und durch einen, der es geschafft
hatte, ein kleines Radio zu verstecken.
Irgendwann kamen Gerüchte auf, dass eine Freilassung bevorstehen könnte.
„Als sie mich rausgeholt haben, habe ich ihnen nicht geglaubt“, sagt Obeida
Chalil. Er dachte zunächst, es sei ein Verhörtrick, um ihm Informationen zu
entlocken. „Erst als ich die Treppen zum Haus hochstieg und meine
Geschwister gesehen habe, konnte ich es glauben.“
## Israel macht die Hamas stärker
„Ich bin so glücklich, dass mein Sohn zurück ist“, sagt seine Mutter. Doch
es mache sie traurig, wie viel Blut dafür vergossen worden sei. Der Krieg
in Gaza gehe weiter. Und auch im Westjordanland nehme die Gewalt zu. „Die
Armee macht mehr Razzien, und natürlich gehen viele Jugendliche raus und
werfen Steine. Dann wird geschossen, es gibt eine Beerdigung, und die Armee
kommt noch häufiger.“
Obeida Chalils Bruder Ahmed schaut aus dem Fenster auf die Lichter des
Dorfes. In fast jedem der Häuser sei ein Familienmitglied verletzt oder
getötet worden oder sitze im Gefängnis. „Die Israelis wollen die Hamas
auslöschen“, sagt er. „Aber im Westjordanland machen sie sie gerade
stärker“.
1 Dec 2023
## LINKS
[1] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5977369
[2] /Palaestinensische-Haeftlinge/!5975573
[3] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5972163
[4] https://www.savethechildren.de/
[5] https://hamoked.org/
[6] https://www.btselem.org/
## AUTOREN
Felix Wellisch
## TAGS
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