| # taz.de -- Argentinien vor der Wahl: Bis auf die Knochen | |
| > Am Sonntag wird in Argentinien gewählt. Sollte der rechte Kandidat die | |
| > Wahlen gewinnen, könnte das die Aufklärung der Militärdiktatur | |
| > erschweren. | |
| Bild: Die Forensiker:innen des EAAF untersuchen Knochen der „desparecidos“,… | |
| Auf einem fahrbaren Tisch liegen die Knochen eines menschlichen Skeletts. | |
| [1][Analía Gonzáles Simonetto] beugt sich über einen Oberschenkelknochen, | |
| aus dem ein wenige Zentimeter langes Rechteck herausgefräst wurde. „Diese | |
| Knochen sind leider nicht sehr gut erhalten“, sagt Gonzáles Simonetto, | |
| „deshalb mussten mehrere Schnitte vorgenommen werden.“ | |
| Die Knochenrechtecke wurden in ein Labor für genetische Analysen geschickt, | |
| erklärt Gonzáles Simonetto. Die Ergebnisse werden dann mit der nationalen | |
| DNA-Datenbank abgeglichen. Gibt es ein Match, können die Reste des Körpers | |
| einer Familie zugeordnet und so identifiziert und beerdigt werden. | |
| Doch was nach einem einfachen Vorgang klingt, ist ein Prozess, der sich oft | |
| über Jahre hinzieht. Gonzáles Simonetto und ihre Kolleg:innen versuchen, | |
| Morde aus der Zeit der Militärdiktatur aufzuklären. Jahre bevor die | |
| menschlichen Knochen überhaupt auf ihrem Tisch liegen, analysieren sie | |
| Schriftstücke, die etwa Hinweise auf versteckte Folterorte oder Gräber | |
| geben. Viele solcher Dokumente gibt es nicht, [2][die Militärs haben dafür | |
| gesorgt, dass Beweisstücke über ihre Verbrechen verschwanden]. | |
| Gibt es nur grobe Hinweise auf einen Ort, wird auf Lasertechnik | |
| zurückgegriffen. Aus einem Flugzeug heraus werden mit Laserstrahlen | |
| Unregelmäßigkeiten im Erdboden gemessen, denn wer ein Grab gräbt, | |
| hinterlässt Spuren, egal wie tief die Höhle liegt. Ein anderer Weg zur | |
| Wahrheit führt über die Schilderungen von Überlebenden, die Zeug:innen | |
| von Verschleppungen wurden. | |
| Doch es könnte sein, dass die Arbeit der Anthropolog:innen schon bald | |
| noch schwieriger wird. | |
| [3][Am Sonntag sind knapp 46 Millionen Argentinier:innen aufgefordert, | |
| ihre Stimme abzugeben.] Aus den Vorwahlen am 13. August ist der | |
| ultrarechte, libertäre Javier Milei mit über 30 Prozent als Sieger | |
| hervorgegangen. Seine Agenda ist es, die „politische Kaste“ abzulösen, den | |
| Staat zu bekämpfen, Steuern abzuschaffen. Milei reiht sich ein in die Riege | |
| ultrarechter Politiker Lateinamerikas, die eines eint: die Ablehnung „des | |
| Systems“, die Zersetzung der Demokratie. Für Argentinien ist diese | |
| Entwicklung neu, und das Timing könnte kaum symbolischer sein. Erst 1983, | |
| also vor 40 Jahren, war das Land nach 7 Jahren Militärdiktatur zur | |
| Demokratie zurückgekehrt. Die Bilanz: 30.000 Menschen hatte das Regime | |
| entführt und ermordet, sie gingen als desparecidos, die Verschwundenen, in | |
| die Geschichte ein. | |
| ## Wie lange noch? | |
| Javier Milei hat diese Zahl mehrfach öffentlich angezweifelt. Sein Wahlsieg | |
| wäre ein Hieb für jene, die sich für die Aufklärung der Verbrechen der | |
| Militärs einsetzen. | |
| Genau darin besteht die Arbeit des Equipo Argentino de Antropologia Forense | |
| (EAAF), des Teams für forensische Anthropologie. Die nichtstaatliche | |
| Organisation aus Argentinien wird heute von Kolumbien über Kosovo bis in | |
| den Kongo für Ausgrabungen oder Trainings angefragt. Finanziert wird die | |
| Arbeit durch Projektgelder, Universitäten, Gerichtshöfe oder Regierungen. | |
| Die Frage ist: Wie lange werden sie der Arbeit im eigenen Land noch | |
| nachgehen können? | |
| Die taz war im Oktober 2022 zu Besuch beim EAAF in Buenos Aires und hat vor | |
| den anstehenden Wahlen wieder mit den Forensiker:innen gesprochen. Das | |
| Gebäude, eine alte Lagerhalle, die zum forensischen Labor und Archiv | |
| umfunktioniert wurde, liegt auf dem Gelände der ehemaligen Militärschule | |
| ESMA. Es ist einer der wichtigsten Orte der argentinischen Geschichte. Hier | |
| haben die Militärs über Jahre hinweg Zehntausende Entführte festgehalten, | |
| gefoltert und getötet. | |
| Doch auch in anderen Teilen des Landes wurde gemordet und verscharrt. So | |
| geschah es im Falle eines Massengrabes in der Provinz Tucumán. Drei Männer | |
| – zwei ehemals politische Verfolgte und ein Nachbar aus der Gegend – gaben | |
| im Februar 2002 Hinweise auf den Ort des Grabes. Zwei Monate später | |
| begannen die Ausgrabungen. Zwei Jahre lang legten Forensiker:innen und | |
| Archäolog:innen unter anderem des EAAF in weißen Schutzanzügen und | |
| blauen Gummihandschuhen Quadratzentimeter für Quadratzentimeter unzählige | |
| menschliche Überreste mit zerfallener Kleidung frei. Bald war klar: Was vor | |
| ihnen lag, war das bisher größte gefundene Massengrab Lateinamerikas. Doch | |
| was zum Vorschein kam, waren nicht etwa feinsäuberlich aufgereihte | |
| Skelette, sondern ein Haufen Knochen. | |
| ## Wahrheit in blauen Kisten | |
| Ein großer Teil dieses Haufens liegt 20 Jahre später in einem hohen kahlen | |
| Raum des EAAF. Eine Forensikerin steht verloren an einem der Tische. Sie | |
| hält einen Oberschenkelknochen in der Hand. Vor ihr liegen Dutzende weitere | |
| Exemplare. Langsam arbeitet sie sich vor, vergleicht jeden Knochen auf dem | |
| Tisch mit dem Knochen in ihrer Hand auf der Suche nach dem passenden | |
| zweiten Bein. Das ist mit bloßem Auge möglich, weil die Knochen eines | |
| Menschen individuelle Merkmale haben, erklärt sie. Die Überreste jedes | |
| Menschen werden in einer blauen Plastikkiste aufbewahrt. Die Kiste ist so | |
| lang wie der Oberschenkelknochen des Menschen, denn er ist der längste | |
| Knochen, den Menschen haben. Wenn die Knochen zugeordnet sind, wird | |
| trotzdem noch einmal eine DNA-Analyse gemacht, um sicherzugehen, dass eine | |
| Familie am Ende nicht das Bein eines Fremden begräbt. | |
| Doch die Arbeit der Anthropolog:innen besteht nicht nur aus der | |
| Analyse von totem Material, sie beschäftigen sich auch intensiv mit den | |
| Lebenden, den Suchenden, den Angehörigen der Vermissten. So auch Virginia | |
| Urquizu. Sie ist keine forensische, sondern Sozialanthropologin. „Jede | |
| Familie ist ein eigenes Universum“, sagt Urquizu in einem Büro nahe dem | |
| EAAF-Labor. Die Grundvoraussetzung sei, dass die Familie „diese Tür | |
| wirklich öffnen will“. Die Tür zur Wahrheit, wie viel Schmerz sich auch | |
| hinter ihr verbirgt. Da müsse sie zu Beginn immer erst vorfühlen, auch wenn | |
| die meisten Familien sich von sich aus beim EAAF meldeten. „Es ist immer | |
| eine Abwägung zwischen der historischen Aufarbeitung und dem emotionalen | |
| Schutz der Familien.“ | |
| Oft seien es die Geschwister von Vermissten, die sich meldeten, und weniger | |
| die Eltern. „Sie wollen das Suchen nicht aufgeben, können nicht loslassen. | |
| Sie wollen ihre Kinder lebend wiedersehen.“ Doch gerade, weil die | |
| Geschwister selbst unter der endlosen Suche der Eltern so litten, hofften | |
| sie auf Erlösung durch die Wahrheit. | |
| So ein Interview mit den Angehörigen dauere manchmal ein paar Stunden. Oft | |
| erzählten die Betroffenen ihre Lebensgeschichte. Auch weil es die | |
| Erzählenden beruhige, sie dabei die Angst verlören. Dann fragt Urquizu die | |
| Erinnerungen an die vermisste Person ab. Jedes Detail kann wichtig sein: | |
| Welche Kleidung trug die Person, wo ging sie wann hin mit welchem Ziel? Und | |
| die körperlichen Merkmale: Hatte die Person Narben, Knochenbrüche, | |
| Zahnlücken? | |
| Beim Gebiss wird akribisch nach Eigenarten gesucht, denn die Zähne verwesen | |
| besonders langsam. „Wir fragen auch immer nach Fotos von früher, auf denen | |
| die vermisste Person lächelt. Wir hatten schon einen Fall, da konnten wir | |
| an einem besonders schiefen Zahn, den das Lächeln auf dem Foto entblößte, | |
| sehr schnell einen Kiefer eines Skeletts zuordnen und so die Person | |
| identifizieren.“ Urquizus Begeisterung ist spürbar. Dann schiebt sie nach: | |
| „Natürlich ist es nicht leicht für die Familien, alte Fotos ihrer | |
| Vermissten anzuschauen. Wir müssen da sehr behutsam vorgehen.“ | |
| ## Abschied mit Gitarre | |
| Nach dem Interview gibt die Familie eine DNA-Probe ab. Urquizu versucht, | |
| keine allzu großen Erwartungen zu wecken. Denn auf das Interview folgen | |
| meist Monate des Wartens und nicht immer ein Match. In den darauffolgenden | |
| Monaten halte sie oft Kontakt. „Manchmal kommt danach dem Interview einiges | |
| hoch, nach 40 Jahren Schweigen. Oft hatten die Familien die Trauer und die | |
| Angst vor der Wahrheit verdrängt.“ | |
| Meldet das DNA-Labor ein Match, versucht Urquizu, die Nachricht persönlich | |
| zu überbringen, nicht am Telefon. „Es ist wichtig, dass die Person nicht | |
| allein ist.“ Sie überreicht ein Dossier über die Funde, dann wird ein | |
| Termin vereinbart für die Übergabe der Reste der Angehörigen. „Manche | |
| weinen, bei anderen regt sich keine Miene. Es kommt ihnen unwirklich vor.“ | |
| In einigen Fällen hätten Angehörige ein Ritual vorbereitet, sie umarmten | |
| die Knochen, sangen oder spielten Gitarre. | |
| Die Familien seien paradoxen Gefühlen ausgesetzt. Da sei Erleichterung, | |
| endlich Gewissheit zu haben, und gleichzeitig ein tiefer Schmerz, die | |
| Hoffnung, die vermisste Person lebend wiederzufinden, wortwörtlich begraben | |
| zu müssen. | |
| Bis heute hat der EAAF etwa 1.000 Vermisste aus der Militärdiktatur | |
| identifizieren können. An die 600 gefundene und analysierte Überreste | |
| liegen in blauen Plastikboxen im Archiv des EAAF. Weil ihre Angehörigen | |
| verstorben sind oder weil sie nicht mehr suchen. Der EAAF hat deshalb 2020 | |
| eine Kampagne für die Enkelkinder der Vermissten gestartet, um sie zum | |
| Suchen zu animieren. | |
| Aus dem Pozo de Vargas, der Grube von Vargas in Tucumán, konnten bisher 116 | |
| Personen identifiziert werden. Der an den Ausgrabungen beteiligte | |
| Anthropologe Ruy Zurita zog 2022 gegenüber dem Online-Medium elDiarioAR | |
| eine bittere Bilanz: 20 Jahre nach Beginn der Ausgrabungen gebe es | |
| angesichts der schleppenden Fortschritte „nicht viel zu feiern“. Es fehle | |
| an politischem Willen und einer stabilen Finanzierung. Die Folge sei ein | |
| „Auf und Ab“ für die Arbeit der Forensiker:innen und ihre Bezahlung, | |
| das demoralisiere sie. | |
| Das EAAF möchte sich dazu und auch zu einem eventuellen Regierungswechsel | |
| zugunsten des ultrarechten Lagers von Javier Milei offiziell nicht äußern. | |
| Zu groß ist wohl die Angst, dass ihr die staatliche Unterstützung gekürzt, | |
| wenn nicht ganz gestrichen werden könnte – auf Kosten jener Familien, die | |
| noch immer suchen und hoffen. | |
| Die Recherche fand im Rahmen eines Austauschprogramms des Vereins | |
| [4][Internationale Journalisten Programme e.V.] (IJP) in Argentinien statt. | |
| 21 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://eaaf.org/en-la-mente-de-una-antropologa-forense-la-empatia-es-clave… | |
| [2] /Argentinische-Militaerdiktatur/!5895061 | |
| [3] /Praesidentschaftswahl-in-Argentinien/!5963832 | |
| [4] https://www.ijp.org/stipendien/lateinamerika | |
| ## AUTOREN | |
| Nora Belghaus | |
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