# taz.de -- Die Wahrheit: Bodyshamen für den Arbeitsmarkt | |
> Um den Fachkräftemangel zu beheben, ist der Politik und Wirtschaft | |
> mittlerweile jedes, aber auch jedes Mittel recht. | |
Bild: Fachkräfte sind besonders in langweiligen Branchen flüchtiger als ihr e… | |
„Endlich habe ich eine künstlerisch befriedigende und gesellschaftlich | |
sinnvolle Tätigkeit gefunden“, freut sich Dominic Truder, nachdem er das | |
Telefonat beendet hat. „Ich habe gerade einen äußerst mittelmäßigen | |
autofiktionalen Roman verhindert und dafür einen vielversprechenden | |
zukünftigen Monteur für Solarlanlagen in die Ausbildung geschickt. Den | |
Literaturbetrieb wird dieser junge Mann jedenfalls nicht so schnell wieder | |
belästigen.“ | |
Der Germanist und Kulturwissenschaftler Truder führt dem leergefegten | |
deutschen Arbeitsmarkt die dringend gebrauchten Fachkräfte zu, indem er sie | |
aus entbehrlichen Branchen vergrämt. Kürzlich hat sich Truder als | |
Literaturagent selbstständig gemacht. Seine Webseite ist von denen | |
herkömmlicher Agenturen nicht zu unterscheiden, doch sorgt Truder dafür, | |
dass kein einziges eingesandtes Manuskript jemals das Licht der | |
Öffentlichkeit erblickt. | |
Finanziert von der Bundesagentur für Arbeit hat sich der | |
Literaturverhinderer zum Ziel gesetzt, möglichst viele hoffnungsvolle junge | |
Autoren zu entmutigen. „Schriftsteller in die Produktion“, zitiert Truder | |
den alten linken Schlachtruf. „Die Leute werden dort schließlich dringend | |
gebraucht.“ | |
Um seine Zielvorgaben zu erreichen, kritisiert der scharfzüngige Germanist | |
die Texte seiner Kunden in Grund und Boden, verändert sie bis zur | |
Unkenntlichkeit, ignoriert ihre verzweifelten Mails über Monate, raubt den | |
sensiblen Künstlern den Glauben an ihr Talent und versaut ihre Chancen am | |
Markt durch miserables Marketing. | |
## Das Licht der Inspiration ausblasen | |
Im Grunde arbeitet Truder wie ein richtiger Literaturagent, nur dass er im | |
passenden Moment eine berufliche Alternative aus dem Hut zaubert. | |
„Prosaautoren sind deutlich fügsamer als die hartleibigen Dichter“, | |
plaudert der Vermittler. „Aber auch dem genügsamsten Lyriker blase ich | |
irgendwann das Licht der Inspiration aus.“ | |
„es fehlt am ende / ja eben doch / das geld“, zitiert Truder die wehmütigen | |
Zeilen einer hochbegabten Poetin, die er trotz internationaler | |
Auszeichnungen erfolgreich in eine Tätigkeit als Logistikerin mobben | |
konnte. | |
„Natürlich tun mir die Leute leid, aber mein Germanistikstudium hat mich | |
die Literatur hassen gelehrt“, erzählt Truder. „Danach wurde ich vom | |
akademischen Betrieb mit schlecht bezahlten und befristeten Stellen | |
hingehalten, bis ich einen Burn-out hatte. Mit Frustration kenne ich mich | |
also aus. Oder glauben Sie etwa, ich mache das hier freiwillig?“ | |
Auch in anderen Branchen suchen demotivierende Headhunter nach | |
Wackelkandidaten, die ihren Lebenstraum für eine Handvoll Euro in der | |
Festanstellung aufgeben. | |
Für ein mittelständisches Unternehmen durchkämmt die Wirtschaftspsychologin | |
Sandra Gornesch die sozialen Netzwerke auf der Suche nach | |
Kunststoffformgebern. Zwölf Lehrstellen hat Gornesch bis Endes des Monats | |
zu besetzen. | |
„Gerade habe ich eine aufstrebende Instagramerin mit ersten Werbeverträgen | |
wieder unter 100.000 Follower gedrückt“, erzählt sie. „Wenn ich mit der | |
fertig bin, will nicht mal mehr ihre Mutter mit ihr befreundet sein.“ Über | |
ihre Methoden möchte die Psychologin nicht reden, doch fällt es auf, dass | |
die negativen Kommentare unter den Fotos stark zugenommen haben. | |
„Sie bodyshamen eine Sechzehnjährige in einen Beruf hinein, den sie für den | |
Rest ihres Lebens abgrundtief hassen wird?“, fragen wir, aber die | |
Wirtschaftspsychologin winkt müde ab. „Wenn ich damit die | |
Deindustrialisierung Deutschlands abwenden kann, bringe ich das Mädchen | |
sogar zum Heulen. Da, schauen Sie! Das sind Sie jetzt schuld!“ Gornesch | |
postet einen verletzenden Kommentar, den wir hier aus rechtlichen Gründen | |
nicht wiedergeben können. Morgen wird sie dem am Boden zerstörten Teenager | |
eine Lehrstelle anbieten. | |
„Nun zu Dir, mein Freund“, wendet sich Gornesch einem Jungen zu, der seine | |
ungelenken Tanzschritte auf Tiktok gepostet hat. Keine fünf Minuten später | |
hat der junge Tänzer jede Hoffnung auf eine erfüllte und selbstbestimmte | |
Tätigkeit zusammen mit seinem Selbstbewusstsein aufgegeben. Er wird seine | |
Tage wohl als Verfahrensmechaniker für Kunststoffverbundstoffe fristen. | |
Zweifel an ihrer Tätigkeit bekämpft die Psychologin mit kognitiver | |
Verhaltenstherapie und einem historischen Argument: „Traditionell kam dem | |
Elternhaus die Rolle zu, die Hoffnungen ihrer Kinder zu zerstören, doch | |
immer weniger Eltern sind bereit, den eigenen Nachwuchs von klein auf zu | |
entmutigen. Deswegen müssen Profis wie ich die notwendige | |
Verbitterungsarbeit verrichten. Sonst sind die jungen Leute gar nicht mehr | |
in der Lage, sich realistische Ziele zu setzen. Und mit realistischen | |
Zielen meine ich stupide, fremdgesteuerte Lohnsklaverei an einem prekären | |
Arbeitsplatz. Was soll denn daran falsch sein?“ | |
Doch nicht nur junge Menschen werden mit ungewöhnlichen Methoden an stark | |
nachgefragte Berufe herangeführt, auch aus dem Ruhestand werden die | |
benötigten Fachkräfte zurückgeholt. | |
Viktor möchte seinen Nachnamen nicht nennen, aber der ungepflegt wirkende | |
Hüne mit den glasigen Augen ist ebenfalls ein höchst erfolgreicher | |
Personal-Scout. Der Choleriker mit dem happigen Alkoholproblem ist für | |
seine Agentur gerade in eine ruhige Wohngegend gezogen, die besonders bei | |
Senioren beliebt ist. Auf dem Zettel hat Viktor einen pensionierten | |
Tiefbauingenieur, zwei Internistinnen und eine Anlagenmechanikerin, die | |
allesamt wieder dem Arbeitsmarkt zugeführt werden sollen. | |
## Pinkeln zum Einstand | |
„Ich geh dann mal Stunk machen“, grinst Viktor sein schadhaftes Lächeln und | |
pinkelt zum Einstand in den Hauseingang der Anlagenmechanikerin. Wenn der | |
Personal-Scout mit seiner Charmeoffensive an ihrem Wohnort fertig ist, wird | |
die Vorruheständlerin die langen Abende im Büro als Wohltat empfinden. | |
„Es gibt leider keinen leichteren Weg“, zuckt Viktor mit den Achseln und | |
vomiert geräuschvoll in den Briefschlitz seiner nichtsahnenden Klientin. | |
Binnen Monatsfrist wird die Endfünfzigerin wieder Überstunden für das | |
nationale Bruttosozialprodukt machen, verspricht Viktor und wischt sich den | |
Mund an der Wäsche ab, die an einem Ständer im Vorgarten trocknet. | |
Gebrochene Seele um gebrochene Seele wird sich Deutschland an die | |
ökonomische Weltspitze zurückkämpfen müssen. Immerhin geht es um nichts | |
weniger als unseren Wohlstand. | |
26 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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