# taz.de -- Olympiasieger über Leichtathletik-Krise: „Es geht zu sehr um Pfr… | |
> Hochsprung-Olympiasieger Dietmar Mögenburg vermisst in der zuletzt so | |
> erfolglosen deutschen Leichtathletik Eigenständigkeit und | |
> Risikobereitschaft. | |
Bild: Undankbarer vierter Platz: Speerwerfer Julian Weber erreichte die beste d… | |
taz: Herr Mögenburg, die deutsche Leichtathletik steckt in einer tiefen | |
Krise. Zum ersten Mal seit 1983 überhaupt gab es [1][bei den | |
Weltmeisterschafen, in Budapest, keine Medaille]. Was steckt, aus Ihrer | |
Sicht, dahinter? | |
Dietmar Mögenburg: Da gibt es sicher mehrere Gründe. Aber mein Eindruck | |
ist, dass die deutsche Leichtathletik ein strukturelles Problem hat. Sie | |
ist überorganisiert. Das hemmt bei den Athleten die Eigeninitiative. Es hat | |
sich da ein hypertroph aufgeblähter Apparat gebildet aus Verein, | |
Stützpunkt, Kader, Leistungszentren. Darin werden die Athleten aufgerieben, | |
sie verlieren ihre Selbstständigkeit, die eine wichtige Voraussetzung zur | |
Erbringung von Leistung ist. | |
Leiden die Athleten unter einem Übermaß an Zuwendung? | |
Eine gewisse Eigenständigkeit ist eine Voraussetzung für überragende | |
Leistungen. Die großen Trainer haben ihre Athleten immer auch zu großer | |
Selbstständigkeit erzogen; das fehlt mir heute ein bisschen. Nichts etwa | |
gegen Psychologen, aber heute wird jedes Problem des Athleten an die | |
jeweilige Instanz delegiert, die Seele wird ebenso analysiert wie die | |
Bewegungsabläufe; das muss nicht schlecht sein, aber man muss dem Athleten | |
auch die Chance einräumen, Probleme eigenständig zu bewältigen. Das fördert | |
die Leistung und die Persönlichkeitsentwicklung gleichermaßen. | |
Der Ruf nach mehr Geld wird allerorten laut. | |
Das kann nur eine begleitende Maßnahme sein. Mit dem Geld müsste das | |
richtige angefangen werden. Es müsste individuell und zielgerichtet | |
eingesetzt werden. Es geht schon jetzt viel zu sehr um Pfründe, die die | |
Beteiligten sichern wollen. Es ist ja gut, dass die Trainer, die ja auch | |
oft gut sind, sozial abgesichert sind. Aber manchmal wünsche ich mir eine | |
größere Risikobereitschaft bei den Betroffenen. Dieses Prinzip der oft | |
gemütlichen Aufgehobenheit im Schoß dieses Systems müsste vielleicht | |
häufiger aufgebrochen werden. | |
Beim DLV hat es nach dem Debakel von Budapest erste personelle Konsequenzen | |
gegeben; die bisherige Cheftrainerin Annett Stein wurde von ihren Aufgaben | |
entbunden, der neue starke Mann ist Sportdirektor Jörg Bügner. | |
Frau Stein, die ja sehr engagiert war, ist wohl das Bauernopfer. Herrn | |
Bügner wünsche ich viel Glück, aber ich glaube auch, dass der Verband | |
selbst sehr ratlos ist. | |
Es gibt beim DLV auch ein Problem mit dem Nachwuchs. Die Felder bei den | |
deutschen Nachwuchs-Meisterschaften dünnen immer mehr aus. Warum verliert | |
die Leichtathletik so drastisch an Zuspruch? | |
[2][Der Fußball ist natürlich ein übermächtiger Konkurrent.] Außerdem wird | |
das Individuelle in dieser Gesellschaft nicht mehr so gefördert. Das | |
Gruppendenken ist sehr beherrschend. Individualität wird hier häufig mit | |
Egoismus verwechselt. Mannschaftssport soll ja das Sozialverhalten fördern. | |
Das ist ja auch gut und wichtig. Aber die Leichtathletik sollte den Mut | |
haben zu sagen: Wir wenden uns an Individualisten. Denn ohne Individualität | |
gibt es auch keine funktionierende Gesellschaft. | |
Sie leben seit fast zwanzig Jahren mit Ihrer norwegischen Frau und Ihren | |
zwei Kindern in der Nähe von Oslo. Norwegen ist in Bezug auf die | |
Einwohnerzahl im Vergleich zu Deutschland ein winziges Land, hat in | |
Budapest aber vier Medaillen geholt. Darunter zweimal Gold mit Karsten | |
Warholm (400 Meter Hürden) und Jacob Ingebrigtsen (5.000 Meter). Was läuft | |
in Ihrer Wahlheimat anders? | |
Grundsätzlich hat der Sport in Norwegen, einem übrigens wirtschaftlich sehr | |
gesunden Land, einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland. Er wird | |
mehr als Kulturgut betrachtet. Es herrscht ein sehr solidarisches | |
Gesellschaftsgefüge. Davon profitiert auch der Sport. Schon in der Schule | |
hat er hier einen anderen Stellenwert als in Deutschland, die Schüler haben | |
im Regelfall an drei bis vier Tagen Sportunterricht. Es gibt in diesem Land | |
auch kein Ressentiment gegenüber der Leistung eines Einzelnen. Im | |
Gegenteil, [3][Athleten wie Warholm] und Ingebrigtsen sind Nationalhelden. | |
Was in Norwegen sehr gut funktioniert, ist eine mit viel Geld und Know-how | |
ausgestattete Institution, die sich Olympiatoppen nennt. Das ist eine | |
zentralistische Einrichtung für den Spitzensport, in der sich alle Kräfte | |
bündeln. Dort wird zielgerichtet explizit der Spitzensport gefördert. | |
Ließe sich dieses norwegische Modell auch auf Deutschland übertragen? | |
Ein bisschen verwandt damit sind die Olympiastützpunkte. Doch die | |
funktionieren nicht reibungslos; da gibt es schöne Schlagworte, hehre | |
Zielsetzungen, doch das sind häufig potemkinsche Dörfer, hinter denen nicht | |
viel ist. | |
Es heißt, Deutschland ist in der Leichtathletik nicht schlechter geworden, | |
aber die anderen Nationen besser. | |
Es hat in den vergangenen Jahren einen enormen internationalen | |
Wissenstransfer gegeben. Auch durch die neuen Medien, die ja so neu gar | |
nicht mehr sind. Das, was man fast schon antiquiert „Globalisierung“ nennt, | |
kommt im Sport immer mehr zum Tragen. Da passiert es dann aber eben auch, | |
dass ein indischer Speerwerfer – Neeraj Chopra – Olympiasieger und | |
Weltmeister wird – mit einem deutschen Trainer: Klaus Bartonietz. Ich finde | |
das im Prinzip nicht schlecht, das ist mir lieber, als wenn sich im Sport | |
Nationalismus breit macht wie leider ja oft in anderen gesellschaftlichen | |
Bereichen. Wenn der Sport da zum Vorbild werden könnte, wäre das eine | |
Funktion, die ihm guttäte. | |
28 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Paul Frommeyer | |
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