# taz.de -- Psychologin über Augenkontakt: „Der Blick bringt uns nah“ | |
> Wir haben ständig Augenkontakt – und trotzdem wissen wir kaum, was er | |
> alles mit uns anstellt. Ein Gespräch übers Erkennen, Starren und | |
> Verlieben. | |
Bild: Blickkontakt halten, um exklusive Aufmerksamkeit auf jemanden zu richten | |
taz: Frau Böckler-Raettig, warum pflegen wir Kontakt über die Augen? | |
Beim Blickkontakt treffen wir uns auf eine Art, wie wir uns sonst selten | |
treffen. Wenn wir Blickkontakt haben, sind wir gleichzeitig aktiv und | |
passiv, wir sind Schauende und werden selbst angeschaut. Wir erfahren etwas | |
über unser Gegenüber und geben gleichzeitig Informationen über uns preis – | |
manchmal auch welche, die wir vielleicht gar nicht preisgeben wollen. | |
Manchmal interpretiert unser Gegenüber eventuell ein Gefühl in unserem | |
Blick, das wir gar nicht haben. Der zentrale Aspekt ist, dass wir Emotionen | |
besser erkennen, und weil Menschen visuelle Tiere sind, sind Augen gute | |
Kanäle, um Veränderungen wahrzunehmen. | |
Die wären? | |
Tränen in den Augen wäre ein Beispiel. Die Tränen des anderen stecken uns | |
an, und das nimmt wiederum unser Gegenüber wahr. Das ist sehr berührend für | |
die [1][weinende Person], weil sie merkt, dass ihre Trauer gesehen wird. | |
Der Blickkontakt löst also einen Spiegeleffekt aus: Wir erkennen kleine | |
Veränderungen im anderen und spiegeln sie. Diese schnelle Rückkopplung | |
erlaubt einen sehr engen Kontakt. | |
Was heißt das für Menschen mit einer Sehbehinderung? | |
Viele Wege führen nach Rom, und das gilt auch für soziale Nähe. Menschen, | |
die nur eingeschränkt oder gar nicht sehen können, sind in unserer | |
visuellen Welt durchaus benachteiligt. Aber Visualität ist auch | |
kompensierbar, zum Beispiel durch Berührung oder Akustik. Wenn ich zittere | |
und der andere spürt das durch eine Berührung, oder wenn ich etwas | |
Persönliches von mir erzähle, erzeugt das auch Nähe. Wir ersetzen also | |
Kanäle, die wir nicht haben. | |
Kann man sich durch intensiven Blickkontakt verlieben? | |
Blickkontakt ist nicht zwingend notwendig, um sich zu verlieben. Zum | |
Verlieben braucht es etwas, was uns gefällt, zum Beispiel eine Reaktion, | |
die wir sympathisch finden. Ebenso können wir uns [2][in Menschen | |
verlieben], die wir nur am Telefon gehört haben oder von einem Foto kennen. | |
Aber Blickkontakt ist ein tolles Mittel, um exklusive Aufmerksamkeit auf | |
jemanden zu richten. | |
Telefonate können keine exklusive Aufmerksamkeit erzeugen? | |
Doch, natürlich. Aber wir können nicht ausschließen, dass die Person gerade | |
durch Hintergrundgeräusche abgelenkt ist oder sich nebenbei die Nägel | |
macht. Die Augen sind ein sehr guter Kanal für Aufmerksamkeit, sie richtet | |
nämlich den Fokus nur auf mich. Das ist eine Zugewandtheit, die Interesse | |
zeigt, die schön ist, und sich gut anfühlt. | |
Blickkontakt ist nicht immer schön, es kann auch eine aggressive Wirkung | |
haben. | |
Das stimmt, Starren ist ein dominantes Signal. Wenn man in einer Situation | |
ist, in der man nicht weggehen kann, wird ein langer Blick auf uns [3][auch | |
unangenehm]. | |
Wann ist es sinnvoll, den Blick abzuwenden? | |
Der Blick bringt uns dem anderen unmittelbar nah. In einer Situation, in | |
der wir nicht weg können, kann uns das zu viel werden – auch wenn es nicht | |
unbedingt eine Bedrohung ist. Den Blick abzuwenden kann dem Gegenüber auch | |
Raum geben. Zum Beispiel ist Wegschauen völlig in Ordnung, wenn uns jemand | |
etwas sehr Persönliches oder Trauriges erzählt. Es wirkt sogar | |
empathischer, denn Blickkontakt schafft Nähe, und manchmal braucht ein | |
Gegenüber davon etwas weniger. | |
Warum fühlen wir uns besser, wenn wir den Blick abwenden, selbst wenn uns | |
unser Gegenüber weiter anstarrt? | |
Wenn wir den Blick abwenden, füllt das Starren des anderen nicht mehr so | |
unmittelbar unser ganzes Blickfeld aus. Wir können etwas in den Blick | |
nehmen, das uns beruhigt oder zumindest weniger bedroht. Und wir können | |
unsere eigenen Regungen, unsere Gefühle besser vor dem Blick des anderen | |
verbergen, wenn wir wegschauen. Wir haben quasi einen Riegel vor uns | |
geschoben. | |
In bestimmten Situationen sagen Eltern zu ihren Kindern, dass sie gewisse | |
Menschen nicht allzu lange anstarren sollen. | |
Es entspricht nicht der sozialen Norm, Leute anzustarren, besonders Leute, | |
denen wir eine Minderheitenrolle oder eine vulnerable Position zusprechen. | |
Also zum Beispiel sagen Eltern ihren Kindern, dass sie Menschen mit | |
Behinderung nicht anstarren sollen. Ähnlich bei [4][obdachlosen Menschen]. | |
Womit hat es zu tun, wenn wir vulnerable Menschen nicht intensiv anschauen | |
sollen? | |
Weil Blicke auch übergriffig sein können. Wir bringen Kindern bei, anderen | |
Menschen nicht zu nahe zu treten. Und wir nehmen bei bestimmten | |
Menschengruppen an, dass ihnen Dritte sowieso schon zu oft zu nahe treten, | |
und wollen ihnen das ersparen. | |
Es ist also kein Wegschauen im Sinne von „wir wollen nichts mit ihnen zu | |
tun haben“? | |
Es gibt bestimmt auch Leute, die sagen, dass sie mit gewissen Menschen | |
nichts zu tun haben wollen. Aber das ist zumindest nicht die soziale Norm. | |
Soziale Normen beziehen sich darauf, was sich gehört und was nicht. Und in | |
unserem Kulturkreis gehört es sich eher nicht, Menschen anzustarren, die | |
Merkmale haben, die sie in unseren Augen vulnerabel machen. | |
Von welchem Kulturkreis reden Sie denn? | |
Ich kann hier ausschließlich für Deutschland sprechen. | |
Haben Kulturen mit weniger Körperkontakt automatisch weniger Blickkontakt? | |
Zumindest haben Forschungsteams in Japan herausgefunden, dass dort weniger | |
Blickkontakt mit Fremden herrscht. Das zeigt auch, dass Kulturen Normen | |
stark prägen können. | |
Das heißt dann ja, dass wir Blickkontakt im Laufe der Jahre an- oder | |
abtrainieren. Warum starren eigentlich Kleinkinder ihr Gegenüber so lange | |
an? | |
Kinder schauen durchaus auch weg, vor allem, wenn die entsprechende Person | |
sie ebenfalls anschaut – weil sie dann unmittelbar spüren, wie unangenehm | |
das sein kann. Sie merken dann auch, dass es Scham induzieren kann. | |
Jugendliche spielen mit solchen starken sozialen Reizen auch Spielchen. Zum | |
Beispiel starren sie diejenigen besonders lange an, die schüchtern sind. | |
Dieses Verstehen, dass meine Handlungen für die andere Person Konsequenzen | |
haben kann, ist im Jugendalter noch nicht so stark ausgeprägt. | |
Warum macht es uns Angst, wenn wir Tote mit offenen Augen sehen? | |
Die Frage kann ich nur spekulativ beantworten. Aber das, was uns am meisten | |
Angst macht, sind Dinge, die unsere Erwartungen brechen. Ein böser Clown | |
wäre ein Beispiel – wir erwarten Humor und bekommen aber etwas ganz | |
anderes. | |
Auf Augen übertragen hieße es dann … | |
Augen sind der Inbegriff des Belebten und des Kontakts. Tote Augen sind | |
genau das nicht, sie zeigen nicht das, was wir von Augen erwarten. Trotzdem | |
sehen sie aus wie vorher. Dieser Kontrast ist das, was Angst auslösen kann. | |
23 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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