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# taz.de -- Kirschkernweitspucken-WM: Leckerster Wettbewerb auf Erden
> Bei der 47. Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken in Düren feiern
> Mädchen und ein Sachse Triumphe.
Bild: Vor dem Spucken abkauen, knabbern und dann viel lutschen, ausdauernd luts…
Düren Der Wettkampf beginnt mit Kauen, genauer: Abkauen, Knabbern und dann
viel Lutschen, ausdauernd lutschen. Jede [1][Restfaser Fruchtfleisch sollte
möglichst ab vom Kirschkern], damit er aerodynamisch glatt ist, dadurch
besser fliegt und vor allem weit ausrollt. Und so sieht man ringsum lauter
oral tätige Menschen, die herumlutschen, die Kerne immer wieder aus dem
Mund nehmen, sorgsam prüfen und weiternagen. Die Kirschen, also die
Sportgeräte, werden von den Veranstaltern gestellt. Sie, also die Kirschen,
sind paradiesisch dick, zuckersüß und dunkelrot. Willkommen zur 47.
Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken.
Wir sind in Düren zwischen Köln und Aachen neben der Annakirmes, einem der
größten Rummelfeste im Rheinland. Die WM ist eine Art Joint Venture: Die
Wiese stellt der Verein Hundefreunde Düren 1997, die Kirmesgeschäfte locken
Interessierte an, Eventveranstalter ist die Stadt. Deren tatkräftige Leute
haben auch die feuerrote Bahn gezimmert mit gespannter Hartplastikfolie
zwischen Holzbohlen, 25 Meter lang und sehr eng mit kaum mehr als einem
Meter. Da soll der Kern nicht seitlich weghopsen?
JedeR kann teilnehmen und hat drei Versuche. Es gibt die Stehspucker, die
sich nur nach hinten biegen, teils schräg teils gerade, dann mit dem Kopf
vorschnellen, die Zunge rollen – und raus. Andere nehmen sogar ein paar
Schritte Anlauf. Immer wieder gibt es Regenschauer und Unterbrechungen. Die
Bahn wird ständig neu gefegt und abgezogen, weg mit dem Nass,
wischwischwisch, als wäre man beim Eisstockschießen.
Nach jedem Teilnehmer wird die Bahn ohnehin entkernt. Ein feuchter
Untergrund (wie auch zu große Hitze) lässt keinen Weltrekord zu, eine Frau
im kirschroten Hemd hatte kurz vor dem Start Holzpflöcke mit den Bestmarken
neben die Piste gehämmert: 16,01 Meter bei den Frauen, bei den Männern
22,52 Meter, beide aufgestellt 2017.
## „Schade, aber da wird ein Baum draus.“
Und wieder Regenpause. Zur Stärkung gibt es im Vereinsheim der Hundefreunde
selbstgemachten Blechkuchen mit Kirschen. „Der Wettergott“, sagt derweil
der launige Moderator, „meint es gut mit uns, er weint schon mit den
Verlierern.“ Als ein Kern von der Bahn ins Aus kullert, kommentiert er
routiniert: „Schade, aber da wird ein Baum draus.“ Einem rutscht der erste
Kern vorzeitig aus dem Mund: 2,24 Meter. „Es heißt Weitspucken, nicht
fallen lassen …“ Großes Gelächter. Humorlos verzichtet der Gefoppte auf
weitere Versuche und trollt sich beleidigt. Schafft jemand eine gute Weite,
sagt der Moderator: „Das war der beste Spuck.“
Jüngster Teilnehmer ist der Diego mit zwei Jahren, sein Bestspuck rollt bei
umjubelten 1,58 Meter aus, also fast das Alter in Metern. Diego wäre
souveräner Weltmeister, gäbe es eine eigene Starterklasse U2.
Jugend-Championesse bis 14 wird die erst 11-jährige Paulina Lehre aus
Willich bei Krefeld mit saftigen 10,62 Metern im letzten Versuch. Strahlend
vor Glück stemmte sie nachher den WM-Pokal in die Höhe und freute sich über
einen dicken Kirmesgutschein. Alle drei ersten Plätze schafften Mädchen.
Bei den Frauen siegte Titelverteidigerin Patricia Sanchez-Sanchez aus
Koblenz mit 12,49 Metern.
Kirschkernweitspucken – klingt gaga? Nun, auf dieser rekordesüchtigen
Wettbewerbswelt gibt es auch Weltmeisterschaften im Luftgitarrespielen, im
Kopfrechnen, im Käse rollen oder sogar im Zehendrücken, was man sich als
Armdrücken unten vorstellen möge. Andere beweisen sich bei der
Schlammfußball- oder Arschbomben-WM, Papierflieger möglichst lange segeln
lassen, Pfeifen möglichst langsam rauchen. Die besonders humoresken
FinnInnen rufen zu Championaten im Gummistiefel- oder Handy-Weitwerfen. Und
es gab, solange es noch kalt genug war, [2][bis 2001 in Grönland das
Kräftemessen im Eisgolf] auf dem zugefrorenen Nordmeer. Alles hieß und
heißt Weltmeisterschaft.
Warum dann nicht auch eine WM mit Kirschkernen? Klingt sinnlicher und
filigraner als es etwa Avocadokernweitspucken wäre oder Ausdauer-Jonglage
mit Wassermelonen. Und was sonst gibt es an Weltmeisterschaften mit dem
Mund? Vielleicht Dauerküssen oder Musikinstrumente möglichst lang beblasen.
Oder gleich was mit Blasrohren? In den Anfangsjahren, erzählt in Düren ein
Kirschkernveteran, hätten tatsächlich ein paar Leute eine zweite Disziplin
mit Blasrohr etablieren wollen, „aber bei denen fanden wir die Kerne nicht
wieder“.
## Der richtige Winkel
Kern ist nicht gleich Kern. Je runder desto roll, also desto besser, das
sagen alle. Der einheimische Hans-Peter Iven ist achtfacher Champion
(zwischen 1983 und 2013; Bestweite 20,59 Meter). Warum er das so gut kann?
„Wirklich keine Ahnung. Hat sich so ergeben.“ Ein Geheimtipp? „Wichtig ist
der richtige Winkel. Viele Anfänger spucken zu hoch.“ Und: „Manche
versuchen auch, die kleine Spalte im Kern vorher zuzubeißen.“ Iven grinst
dazu. Wer das wirklich versuchen würde, landet auf dem Zahnarztstuhl. Ivens
Versuche enden in diesem Jahr bei gut 12 Metern. „Ich muss wohl langsam dem
Alter Tribut zollen.“ Er ist 75.
Szenekenner in Düren berichten, Leute hätten schon mit Feilen die Kerne
geschliffen, einer habe gar mal versucht, Bleikügelchen zu implantieren,
fiel aber auf und wurde disqualifiziert. Zum Doping scheint es da nicht
mehr weit – nur, wie würde das gehen? Epo-Injektionen für den Zungenmuskel?
Inhalieren mit Kirschbränden?Erstaunlich: Angemessene Sponsorenbanner
fehlen. Liköre wie Eckes Edelkirsch böten sich doch an oder Mon Chéri mit
den Piemontkernen. „Gute Idee“, sagt Organisator Marcus Steffens, der
Leiter des Amtes für Stadtentwicklung in Düren, „da sind wir noch nicht
drauf gekommen, das könnten wir mal versuchen.“
Steffens berichtet auch, wie es überhaupt zur WM kam. Im Jahr 1974 hatten
ein paar Leute diese Kirschschnapsidee, trafen sich zum Wettkampf und
nannten sie WM. „Damals hast du das einfach gemacht. Heute würde man im
Netz suchen, ob es das vielleicht schon gibt.“ Gab es damals wirklich
nicht, also wurde Düren zum Welthotspot im Kirschkernweitspucken.
Richtig rund ist kein Kern. Eher ähneln sie Baby-Rugbyeiern oder Minikiwis
in hellbraun. Jemandem aus Neuseeland müsste das sehr zupasskommen, dem
Land der Erstzüchter von Kiwi-Früchten und den All Blacks als dreifachem
Rugby-Weltmeister. Und tatsächlich hatte mit Ernst-Bernhard Wipperfürth aus
Christchurch, 73, Landesmeister im Tischtennis Ü70 und auf
Deutschlandbesuch nebenan in der Voreifel, erstmals ein Wettkämpfer von
Down Under antreten wollen. Eine Erkältung zerstörte alle Titelträume. So
blieb es bei Teilnehmenden aus Großbritannien, Belgien und der Schweiz.
„Dynamo, Dynamo“ schallte es nach der Männer-Konkurrenz lautstark über die
Wiese. Die Rufe galten dem neuen Weltmeister Daniel Uhlemann, Beamter aus
Köln, der lange in Düren gelebt und 16,38 Meter weit gespuckt hatte. Der
Mann mit dem kecken Zöpfchen ist 1990 in Dresden geboren („ja, so gerade
noch richtig in der DDR, das ist doch bestimmt gut für die Story, oder?“)
und hatte die halbe Sippe dabei. Die Choräle angestimmt hatte eine Frau,
die sich sächselnd mit „Ich bin die Muddi“ vorstellte. Danach sprach
länglich der Ortsvaddi, Dürens Bürgermeister.
Unser Autor schied bei seiner WM-Premiere mit 10,76 Metern im Vorkampf aus.
Die Kirschen waren aber wirklich köstlich. Leckerer kann eine WM kaum sein.
Abkauen, Knabbern und dann viel Lutschen, ausdauernd lutschen.
2 Aug 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Bernd Müllender
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Obst
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