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# taz.de -- Politik und Krisen: Schwarze Löcher
> Es fällt schwer, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden. Es gibt kein
> richtiges Morgen mehr, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit
> verlangt.
Bild: Die Regentropfen schlagen hart gegen die Scheibe
Wie finden wir eine neue Sprache für das Politische? Oder, weitergefasst,
eine neue Sprache für das, was wir erleben? Wie drücken wir aus, dass wir
Teil sind einer sich rapide und massiv verändernden Welt und Wirklichkeit?
Weil die alten Worte diese neue Wirklichkeit nicht richtig erfassen.
Die Regentropfen schlagen hart gegen die Scheibe. Ich spüre die Präsenz
meines Sohnes im Zimmer. Auch er schaut aus dem Fenster der Wohnung. Auch
er sieht diesen Regensturz, den dritten oder vierten heute schon. Sie
kommen in Wellen, die schwarzen Wolken schieben sich über die Stadt. Sie
entladen sich heftig. Dann klart der Himmel auf, es scheint vorüber, das
Blau tritt durch die Wolken. Bis sich von Neuem die Wolken verdichten, das
Grau immer dunkler wird und der Regen wiederkehrt, [1][als Menetekel einer
Welt im Klimawandel].
Ich spüre seine Angst und Verwunderung, oder vielleicht ist es auch das,
was er bei mir sieht und nur spiegelt. Wir sprechen darüber, kurz nur, weil
wir schon öfter darüber gesprochen haben; weil ich auch nicht weiß, wie
sehr ich ihn überhaupt mit in diese Realität und Reflexionen einbeziehen
soll. Er weiß es doch sowieso. Dieser verdammte Regen, sagt er, dieser
verdammte Klimawandel. Er ist sieben. Er sagt das, was er fühlt, er sagt
das, was er um sich sieht, er sagt das, was von ihm erwartet wird. Ich kann
ihm nicht wirklich antworten, die Details verlieren sich, das Endspiel ist
überwältigend.
Was bleibt, ist die Erfahrung. Wir stehen zusammen in unserer Ratlosigkeit.
Wir warten darauf, dass der Regen vorübergeht. Wir sind verbunden in der
Wortlosigkeit. Er hat Erwartungen, an mich, an den Vater. Ich will ihm
helfen, diese Welt zu verstehen, aber ich muss erkennen, dass das schwerer
und schwerer fällt, weil die Kategorien sich so verschoben haben. Die Zeit,
zum Beispiel, sie ist nicht wirklich aus den Fugen, wie es Shakespeare
schrieb, sie ist mehr wie der Regen, sie kehrt wieder und wieder, in immer
neuen Schüben, leicht verändert, die gleiche Zeit, in unterschiedlichen
Wellen.
Wie können wir uns in dieser neuen Zeit, der verschobenen Zeit
zurechtfinden? Es gibt dieses Gestern, Heute, Morgen nicht mehr, jedenfalls
nicht mehr in der unschuldig erwartungsoffenen Klarheit. Es gibt auch kein
Morgen, weil die Gegenwart so viel Aufmerksamkeit verlangt, weil sie uns
festhält und fesselt; und es gibt nur noch das Morgen, das die Gegenwart
überragt, als Rätsel, als Drohung, als Frage zumindest, was wird, in einer
Entwicklung, die, ja, wie verlaufen wird? Linear, der Anstieg der
Temperaturen weltweit? Zyklisch, die Wiederkehr biblisch bekannter Plagen?
In Wellen, als Erkennen und Anpassen? Als Teilchen, punktuelle Erfahrung?
Niels Bohr hat diesen Widerspruch so benannt, für den „Quanten-Moment“, das
Licht als Welle und als Teilchen zugleich. Da ist die Erkenntnis, dass die
Physik unserer Welt so ganz anders ist, als wir es in der Schule gelernt
haben, als wir es uns seit Jahrhunderten vorgestellt haben: Das ist eine
neue Welt, sagt er, gerade [2][sehr eindrucksvoll im Kino zu sehen in dem
Film „Oppenheimer“], der seine ganz eigene endzeitliche Aktualität
menschlicher Hybris hat. Er sagt es aber auch zu uns: Die Paradoxie ist
real, der Widerspruch ist der Schlüssel zum Wesen unserer Zeit.
## Gemeinsame Antworten?
Das bedeutet, dass wir die Schwarzen Löcher unserer Gegenwart sehen und
anerkennen. Aber was bedeutet es, Schwarze Löcher anzuerkennen, was
bedeutet es, das überinformierte Nichtwissen zur Grundlage von Erkenntnis
und Entscheidung zu machen? Was bedeutet es für Individuen, in ihrer
Psychologie, was bedeutet es für Gesellschaften und die Politik, die dafür
zuständig ist, gemeinsame Antworten zu finden?
Wie verändert sich dadurch das Wesen der Politik, die nicht mehr mit dem
Versprechen von Lösungen oder Antworten hantiert, sondern den Zweifel in
den Mittelpunkt stellt? Wie kann eine Politik aussehen, die diese Offenheit
in sich aufnimmt, verdeutlicht, selbst zum Teil ihres Versprechens macht?
Wie kann man Wahlen mit dem Zweifel gewinnen? Und was bedeutet das für
Wahlen, die zum Fetisch der Demokratie geworden sind, die ja aber nicht
alles sind oder zumindest nur eine historisch kontingente Form der
Demokratie?
Was bedeutet es aber für die Sprache selbst, das eigentliche Medium der
demokratischen Politik? Wie benennen die Akteure das, was sie tun? Wie
benennen aber auch die Bürger*innen, was sie wünschen, fordern, fühlen? Wie
lassen sich Emotionen in ein, wenigstens der Theorie nach, rationales
Konzept von demokratischer Politik einbauen? Wie ändert sich dieses Konzept
dadurch, oder das Konzept von Rationalität? Wie kann, und das ist die
Verbindung zum „Quanten-Moment“, die Theorie auf eine Ebene mit der
Wirklichkeit gebracht werden, die sich radikal verändert hat?
## Was bedeutet Text?
Sie merken schon, dass dieser Text auch keine Antworten liefern wird. Er
stellt, wenn überhaupt, das Konzept von „Text“ in Frage, das Konzept einer
Zeitung, die an das Wesen von Zeit gebunden ist, das noch linear, an eine
Vorstellung von Aktualität gebunden ist, die davon ausgeht, dass ein
Ereignis nach dem anderen passiert, nur weil das eine einen Tag davor
geschieht und das andere einen Tag danach. Wie sähe auch hier eine andere
Form und Logik aus, die sich nicht auf singuläre Texte konzentriert (die ja
sowohl aus Autor*innen- wie aus Zeitungs-Perspektive sowieso nicht singulär
sind, sondern Teil eines Gedankenprozesses, der nur oft nicht formuliert
oder durchgehalten wird)?
Als der Regen aufgehört hatte, haben sich mein Sohn und ich die Schuhe
angezogen und wir sind hinausgegangen; wir wollten noch ein paar Sachen
einkaufen und zur Bibliothek. Auf dem Rückweg fing es wieder an zu regnen,
erst ein wenig, dann sehr plötzlich. Wir haben uns untergestellt und
abgewartet und in der Plötzlichkeit eingerichtet.
5 Aug 2023
## LINKS
[1] /Wie-Tiere-unter-Hitze-leiden/!5947461
[2] /Christopher-Nolans-Film-Oppenheimer/!5945288
## AUTOREN
Georg Diez
## TAGS
Schlagloch
Philosophie
Podcast „klima update°“
Unwetter
Atombombe
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