# taz.de -- Aktivist über Familiennachzug: „Alle müssen sich verstecken“ | |
> Wahed Khan kam mit 15 als afghanischer Flüchtling nach Berlin. 11 Jahre | |
> später versucht er noch immer, seine Familie nachzuholen – bislang | |
> vergeblich. | |
Bild: Öffentliche Räume werden für Frauen in Afghanistan immer enger | |
taz: Herr Khan, Sie sind als Jugendlicher vor elf Jahren nach Berlin | |
geflohen – und noch immer versuchen Sie vergeblich, ihre Eltern | |
nachzuholen. Erzählen Sie bitte. | |
Wahed Khan: Meine Familie ist aus Afghanistan, wir haben aber damals in | |
Iran gelebt, weil meine Eltern schon lange Probleme hatten mit den Taliban. | |
Aber auch in Iran geht es den Afghanen sehr schlecht, wir werden | |
diskriminiert, haben keine Rechte, die Kinder dürfen oft nicht zur Schule | |
gehen, Erwachsene nicht arbeiten und so weiter. 2018 oder 2019 wurde meine | |
Familie zurück nach Afghanistan abgeschoben. Seit die Taliban zurück an der | |
Macht sind, ist die Situation dort aber noch schlechter geworden, es ist | |
sehr gefährlich für meine Familie. Die Taliban suchen meinen Vater, er | |
hatte früher mehrere Anzeigen bei der Polizei gegen Taliban gemacht und | |
mehrere Drohungen von ihnen erhalten. Darum lebt meine Familie getrennt, | |
meine Geschwister in einer Stadt, mein Vater in einer anderen, alle müssen | |
sich verstecken. | |
Was ist mit Ihrer Mutter? | |
Sie ist 2015 in Iran gestorben, sie hatte Magenkrebs. Später, nach der | |
Machtübernahme der Taliban 2021, wollten mein Vater und meine Geschwister | |
zurück in den Iran. Dort ist es zwar schwierig … | |
… aber immer noch besser als in Afghanistan? | |
Ja, zumindest können dort die Frauen ohne Unterdrückung auf der Straße | |
laufen. | |
Na ja, die Iraner*innen kämpfen ja auch gegen ihre Unterdrückung durch | |
das Regime. | |
Ja, ich weiß, aber dort geht es um die nächste Stufe der Freiheit. In Iran | |
dürfen die Frauen nicht alles machen, was sie wollen, [1][aber im Vergleich | |
mit Afghanistan ist es doch besser]. Zumindest können die Frauen vor die | |
Tür gehen und sie können arbeiten. | |
Kommen wir zurück zu Ihrer Familie. | |
Also wenn die Taliban meinen Vater finden, wird es wirklich schlimm, das | |
möchte ich mir gar nicht vorstellen. Und jetzt gibt es ja eigentlich das | |
Aufnahmeprogramm der Bundesregierung für gefährdete Menschen aus | |
Afghanistan – aber es ist so gut wie unmöglich, jemanden auf diese Liste zu | |
bekommen. | |
Welche Liste? | |
Wer auf die Liste kommt, bei dem wird geprüft, [2][ob er oder sie nach | |
Deutschland kommen darf]. Um auf die Liste zu kommen, muss man sich | |
bewerben bei bestimmten deutschen Organisationen, die von der Regierung | |
autorisiert sind, Menschen auf die Liste zu setzen. Ich habe viele, viele | |
E-Mails geschrieben an diese Organisationen, aber erst mal keine Antwort | |
bekommen. Ich habe mich auch für andere Menschen erkundigt, denn viele | |
Menschen aus Afghanistan schreiben mir, ob ich ihnen helfen kann | |
rauszukommen. Sie kennen mich als Aktivisten und weil ich viel mache bei | |
Instagram und Facebook. | |
Aber was können Sie tun? | |
Ich versuche, ihre Namen weiterzugeben, über die Kontakte, die ich durch | |
mein politisches Engagement beim Berliner Beratungszentrum für junge | |
Geflüchtete BBZ und bei Jugendliche ohne Grenzen (JoG) habe, ich kenne auch | |
Leute bei Pro Asyl. Zum Glück konnte ich über einen Aktivisten der | |
Kabul-Luftbrücke den Link bekommen, wo ich meine Familie direkt selber auf | |
die Liste setzen konnte. Aber diese Formulare sind sehr kompliziert, die | |
wollen so viele Sachen wissen. Man soll zum Beispiel Beweise bringen, dass | |
man von den Taliban bedroht ist. | |
Wie soll das gehen? | |
Ja, genau. Das ist auch der Grund, warum viele Menschen eine Ablehnung | |
bekommen – du kannst das nicht immer beweisen. Es ist auch lächerlich: Die | |
Taliban wurden 20 Jahre lang von der Nato bekämpft – und jetzt, wo sie an | |
der Macht sind, soll alles gut sein? Allein eine Frau zu sein, ist ein | |
Grund, das Land zu verlassen. Jeder Mensch hat die Freiheit zu leben, wie | |
er oder sie will. | |
Kennen Sie jemanden, der eine positive Antwort bekommen hat? | |
Ich habe bei JoG einen Aktivisten getroffen, der kennt eine Familie mit | |
Zusage. Aber sie sind noch immer in Afghanistan – bislang wurde noch | |
niemand evakuiert. | |
Ihre Familie ist jetzt aber auf der Liste? | |
Ja, ich habe es am Ende geschafft. Aber sie haben noch keine Antwort, weder | |
eine Zusage noch eine Ablehnung. Wir warten jetzt seit Dezember. Ich hatte | |
mich so gefreut, dass ich meine Familie endlich herbringen kann – aber noch | |
ist alles ungewiss. Und jetzt ist mein Vater krank geworden, er hat Zucker. | |
Ich habe das erst vor ein paar Tagen erfahren, am nächsten Tag musste ich | |
Klausur schreiben, das war schwierig – das betrifft mich ja auch als | |
Mensch. | |
Was machen Sie beruflich? | |
Ich bin in der Ausbildung zum Immobilienkaufmann. Das war kein einfacher | |
Weg, diesen Platz zu bekommen – in Berlin ist es bedauerlicherweise so. Ich | |
habe Fachabi und trotzdem hat es vier Jahre gedauert. Ich habe so viele | |
Absagen bekommen! | |
Hatten Sie schlechte Noten? | |
Nein, gar nicht. Ich hatte auch einen dreiseitigen, wirklich guten | |
Lebenslauf, den ein Experte für so was durchgelesen hat, da stand auch | |
drin, dass ich schon längere Zeit als Menschenrechtsaktivist arbeite, dass | |
ich Moderator bin, Radio gemacht habe, sechs Sprachen beherrsche und alles. | |
Aber viele haben mir gesagt: Für jemanden wie dich ist es schwierig, etwas | |
anderes als eine Ausbildung als Pfleger oder Reinigungskraft zu bekommen. | |
Warum? | |
Wenn ich mich per E-Mail beworben habe, kam oft schon nach fünf Minuten | |
eine Ablehnung zurück. Einmal habe ich meinen Namen nicht geschrieben, da | |
haben sie geantwortet, ich solle alle Details schicken. Als die dann meinen | |
Namen bekamen, hatte ich wieder nach fünf Minuten die Ablehnung. | |
Wie haben Sie es dann geschafft? | |
Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe Abi gemacht, Mittleren Schulabschluss, | |
Hauptschulabschluss, ich mache 1.000 Sachen. Alle Leute in meinem Umfeld | |
machen Sachen in Richtung Bildung, deswegen habe ich mir gesagt, ich muss | |
das auch schaffen, sonst hat mein Leben keine Bedeutung. Ich habe mich so | |
angestrengt, um eine bessere Zukunft zu haben, und jetzt soll ich als | |
Reinigungskraft arbeiten? | |
Das wäre nicht so toll. | |
Ich sage mal so, ich kann immer als Reinigungskraft arbeiten, wenn ich | |
keine andere Stelle kriege. Ich mache das gerne, habe das auch nach dem Abi | |
gemacht. Auch Immobilienmakler war nicht meine erste Wahl, am Anfang wollte | |
ich Automechaniker machen oder etwas mit IT. Irgendwann, als nichts | |
klappte, habe ich mir gesagt, ich bin Aktivist für Menschenrechte, ich | |
begleite Geflüchtete und helfe ihnen bei allem Möglichen. Aber es ist so | |
schwer für Geflüchtete, ob über 18 oder unter 18, eine Wohnung zu finden. | |
In der Ausbildung habe ich aus erster Hand mitbekommen, warum. Es gibt | |
wirklich Eigentümer oder Vermieter, die sagen zu Immobilienmaklern: Geben | |
Sie unsere Wohnung nicht an Ausländer! Solche Dinge will ich ändern. | |
Sie wollen versuchen, mehr Wohnungen an Geflüchtete zu vergeben? | |
Ja, an Geflüchtete und allgemein an Menschen, die nicht deutsche Namen | |
haben. Ich selbst hatte so viele Schwierigkeiten mit meinem Namen und | |
meiner Herkunft: Da denke ich, diese Arbeit könnte helfen, anderen in | |
ähnlicher Lage zu helfen. Oder auch Menschen, die sich ihre Miete nicht | |
mehr leisten können, wenn sie in Rente gehen. Ich kenne eine alte Frau, die | |
ihre Wohnung verlassen muss – nach 40 Jahren Arbeit! Solche Dinge will ich | |
angehen, wenn ich mit der Ausbildung fertig bin. | |
Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen? | |
Ich war 15. Meine Familie habe ich seither nur noch einmal gesehen. Kurz | |
bevor meine Mutter 2015 starb, bin ich deswegen in den Iran gefahren. | |
Damals war ich wirklich fertig, ich steckte in Berlin im Abitur und konnte | |
auch nicht lange bleiben wegen meines Passes, sonst hätte ich | |
Schwierigkeiten mit dem deutschen Staat bekommen. Aber meine Mutter war | |
mein Engel, meine Eltern haben mir alles gegeben! Ihnen verdanke ich, dass | |
ich hierherkommen konnte und eine gute Zukunft haben kann. Aber wegen der | |
gesetzlichen Bestimmungen musste ich nach einem Monat zurück und war nicht | |
bei meiner Mutter, als sie starb. | |
Wie schrecklich! | |
Ja, sie wurde nur 55 Jahre alt. In Ländern wie Iran oder Afghanistan, | |
Pakistan werden die Menschen oft nicht so alt, die Zustände dort sind | |
einfach zu schwierig. | |
Was ist mit Ihren Geschwistern? | |
Ich habe noch drei Schwestern und zwei Brüder. Die Große ist jetzt 30 Jahre | |
alt und hat es im Iran irgendwie geschafft, eine private Schule zu | |
besuchen. Das ist schwierig für Afghanen, aber wenn man zahlen kann, geht | |
es – ich habe ihr auch Geld geschickt, sooft es ging. Nachdem sie nach | |
Afghanistan abgeschoben wurde, hat sie weiter die Schule besucht und sich | |
als Aktivistin für andere Mädchen eingesetzt. Nach der 12. Klasse hat sie | |
sogar die Aufnahmeklausuren für ein Medizinstudium bestanden. Aber dann | |
kamen nach ein oder zwei Monaten die Taliban an die Macht – und Frauen | |
wurden aus den Unis und Schulen ausgeschlossen. | |
Und die anderen? | |
Meine kleinste Schwester ist 15 und hat immer zu Hause gelernt von der | |
großen, auch sie wollte so gern zur Schule gehen – aber es hat nicht | |
geklappt. Wenn ich jetzt mir ihr telefoniere, sagt sie: Bruder, was soll | |
ich machen? Ich bin zu Hause, in einem Raum, ich kann nichts machen, es | |
gibt keine Schule. Ich könnte mich so aufregen über diese Taliban, diese | |
Idioten – alles, was sie sagen, widerspricht dem Islam. Denn der sagt nicht | |
nur, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, sondern auch, dass man | |
lebenslang lernen soll, sich zu verbessern. Ich bin jetzt 26 und habe schon | |
graue Haare wegen diesem ganzen Stress. Aber als normaler Mensch kann man | |
ja einfach nichts machen. | |
Aber Sie machen doch ziemlich viel! | |
Ja, zum Glück habe ich JoG. Wir sind eine Initiative von jungen Menschen | |
aus vielen Ländern mit allen Religionen. Wir treffen uns und reden über | |
alles, auch über Probleme in unseren Heimatländern. Das hilft mir. Oder ich | |
gehe zum BBZ, wenn ich ein Problem habe und Hilfe brauche – auch mit | |
anderen Flüchtlingen, denen ich helfe. Ich glaube ja, das ist meine | |
Bestimmung. | |
Was, das Helfen? | |
Ja. Es gab nämlich schon mehrere Situationen, wo ich eigentlich hätte | |
sterben müssen. Einmal, in Afganistan, ist fünf Meter von mir entfernt eine | |
Bombe explodiert – ich wurde nicht getroffen. Darum denke ich: Wenn es | |
einen Gott gibt da oben, hat er mich gewählt, sich für die Menschen | |
einzusetzen. Es ist schwierig, man bekommt graue Haare. Aber wenn du ins | |
Bett gehst und sagen kannst, ich habe manchen geholfen, ich habe etwas | |
Gutes gemacht – das ist das Tollste, was man haben kann. | |
24 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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