| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Malerin aus Madrid | |
| > In den stillen Gassen seiner Hauptstadt frönt der Spanier dem | |
| > Apfelalkohol in zweifelhaften Kaschemmen. Eine Reisebegehung. | |
| Bild: Reihenweise schwärmen gut gelaunte Madrider zu den Vergnügungsorten ihr… | |
| „Das einzig Gute an dem bescheuerten Lockdown war“, sagt Pep Amengual, ein | |
| hochgestellter Mitarbeiter der spanischen Naturschutzbehörde, auf der | |
| Terrasse des Goethe-Instituts, „dass wir am Himmel über Madrid zum ersten | |
| Mal seit Jahrzehnten Steinadler und Spanische Kaiseradler sahen, weil es | |
| keinen Smog gab.“ | |
| Später saßen wir auf der Plaza Mayor vor der Cervecería Jacinta, vor jenem | |
| Café, vor dem schon Thomas Bernhard geweilt, die „herben und strengen | |
| Menschen um mich herum“ gepriesen und Krista Fleischmann vom ORF ins | |
| Mikrofon diktiert hatte: „Is’ halt a herrliche Stadt, nicht? Madrid. Ideal. | |
| Für alles … Angenehme Leut’. Und a herrlicher Kaffee.“ | |
| In dem Dokumentarfilm „Die Ursache bin ich selbst“ von 1986 merkt der | |
| Objektivitätsfanatiker Bernhard noch mehrerlei zu Spanien in toto an, etwa: | |
| „Spanien is’ wie ein Händel’sches Oratorium.“ Genau. Oder: „Spanien … | |
| Wunderbares, das is’ ganz klar. Und das Strenge is’ es immer gewesen, | |
| nicht? Zum Unterschied von Italien, das ja oberflächliche Leichtigkeit zu | |
| allem zur Schau tragt, die sehr angenehm is’ für die Massen, weil die ham | |
| das ja gern.“ Womit die Italien- und die Mussolini-Frage geklärt wären. | |
| ## Hingabe in Unverantwortlichkeit | |
| Bernhards Landsmann Egon Friedell beurteilte die Spanienangelegenheit in | |
| seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ in seiner betont sachlichen Art | |
| vollkommen ähnlich. Der Iberer beherrsche „die Kunst der Heuchelei … in | |
| vollendetem Maße“, schrieb er, und neben „unsinnige Verbohrtheit, blinde | |
| Gier und unmenschliche Roheit“ träten der „Hang zur Faulheit und | |
| Genußsucht“ sowie „gespreizte Bigotterie“. | |
| In den Arkaden der Plaza Mayor reihen sich die allervornehmsten Bars und | |
| Geschäfte aneinander. Eins offeriert ganze Kompanien von Playmobil-Figuren | |
| im Design des franquistischen Militärs und der einfühlsamen Guardia Civil. | |
| Um die Ecke schütten wir das entsetzlichste Bier der Hemisphäre (Mahou) und | |
| einen jeden Gedanken augenblicklich aufs Äußerste vernichtenden Schnaps in | |
| uns hinein. Das Taxi kostet wenig mehr als die Metro, der Spanier ist gut. | |
| Im Vorgarten des Goethe-Instituts in der Calle de Zurbarán baden die | |
| gorriones in einem sehr sinnvollen Brunnen. Die Spatzen sind die ältesten | |
| Kulturfolger des Homo sapiens. Ob die neolithische Revolution eine gute | |
| Idee gewesen ist, bliebe zu eruieren, zumal angesichts dieses Benehmens. | |
| Derweil turnen zudem irgendwelche krachschlagenden Sittiche in einem | |
| nichtigen Baum herum, die hierorts allseits bejubelten Toni-Kroos-Schwalben | |
| quatschen in der riesigen Madrider Luft, und die Laune, ja die Gesinnung | |
| des Spaniers, der sich mit der allergrößten Selbstverständlichkeit an | |
| Bistrotischen niedergelassen hat, ist bereits wieder die beste. Der Spanier | |
| zelebriert sie, seine Laune, mit einem Kaffee und einer Cerveza doble, es | |
| ist die absolute Zelebration einer geradezu ganztägigen Laune, | |
| gewissermaßen eine Feier der Laune, worauf die Hingabe an nichts folgt, und | |
| diese Hingabe folgt in maßloser Unverantwortlichkeit. Der Spanier ist der | |
| Mensch an sich. | |
| ## Privatistische Genusssucht | |
| Am Flughafen abgeholt hatten uns die zauberhafte Dolmetscherin Daniela | |
| Jakobs und die ebenso betörende Übersetzerin Mariana Muñoz vom Verlag cielo | |
| eléctrico. „Übersetzer sin’ ja was Furchtbares“, faselt der blöde Bern… | |
| in genanntem TV-Streifen. „Warum übersetzt jemand? Soll er glei’ was | |
| Eigenes schreiben. Is’ a furchtbare Art des Dienens, Übersetzen.“ | |
| Unfug, grober. Mariana hat unter der Federführung von Natalia Olatz das im | |
| Grunde unübersetzbare Buch „Kritik der Vögel“ ins Spanische übertragen. | |
| Während der Fahrt ins Zentrum notiert sie auf einen Din-A5-Zettel | |
| Kneipenempfehlungen, in Lettern, die so sorgsam gesetzt sind, als führe ihr | |
| ein Typograf die Hand: „Para comer o cenar“, „Baretos cutres pero típico… | |
| (günstig, aber „schäbig“), „Café típico“, „Recomendable tomar un … | |
| de jamón de cualquier tienda del centro“. | |
| Wir entscheiden uns für eine schäbige Lokalität, für die sich Mariana vorab | |
| zu schämen scheint, die indes einen gewissen Ruf genießt – die Tapasbar | |
| oder Sidreria El Tigre im „Szenestadtteil“ Chueca. „Da schenken sie Sidra | |
| aus“, sagt Mariana in berückender Bescheidenheit, „Apfelalkohol“. | |
| Die Rollläden runtergelassen. An der Tür ein Aushang: „Wir erholen uns, | |
| aber in der … bedienen wir weiter.“ Es gebe zwei Ableger des El Tigre, | |
| erläutert Daniela. Wir latschen los, durch Gassen, die die | |
| heruntergekommensten sind. Am zweiten Standort: Rollläden, Aushang: „Wir | |
| erholen uns, aber wir bedienen weiter in …“ Friedell. Faulheit. Und | |
| Genusssucht, offenbar stark privatistisch ausgeprägt, im Land des auf dem | |
| Kopf stehenden Fragezeichens, in dem die Bedienungsverweigerung die | |
| enormste zu sein scheint. | |
| ## Vorgänge unermesslicher Freundlichkeit | |
| Die dritte Zweigstelle in der Calle de las Infantas, El Tigre del Norte, | |
| hat geöffnet und wirbt mit „Tapas caseras“, mit hausgemachten Häppchen, d… | |
| sich alsbald als nach einem Tankerunglück am Mittelmeerstrand aufgelesene | |
| ölgetränkte Leckereien entpuppen: Croquetas aus Béchamelmasse, Tortilla de | |
| patatas (Kartoffelomelette), Patatas bravas, Alitas de pollo (Chicken | |
| wings). | |
| Das El Tigre ist mehr Warte- oder Trinkhalle denn Wirtshaus: diffuses | |
| Licht, kahle Räumlichkeit, gefliester Boden, rustikale Decke, Stehtische, | |
| Holztische auf Fässern, klobige Hocker. Die vergnügungssüchtigen Gäste sind | |
| die nachlässigsten. Sie pflegen den bäurischen Habitus des Spaniers und | |
| tragen Shirts, Shorts, Basecaps, Flipflops und Turnschuhe. | |
| Es werden die nutzlosesten Vorgänge verzeichnet, in allem herrschen die | |
| außergewöhnlichste Gewöhnlichkeit und die unermesslichste Freundlichkeit. | |
| Auch Bachstelzen und Amseln lassen sich hier, in dieser Katakombe nieder. | |
| ## Bauchspeck nach Glockenschlag | |
| Immer öfter, erzählt Daniela, seien an Geschäften Aushänge zu sehen, auf | |
| denen stehe: „Wir öffnen, wenn wir ankommen, und wir schließen, wenn wir | |
| gehen.“ Die Tapas gibt’s gratis und automatisch, zentnerweise und zu jedem | |
| Glas. Wer Trinkgeld spendiert (ein in Spanien kaum bekannter Brauch), | |
| kassiert auf Grund einer solchen unerhörten Beleidigung nach einem | |
| katholischen Glockenschlag zwei Platten mit Schinken- und fetttriefenden | |
| Bauchspeckbaguettes sowie Kartoffelecken. | |
| Später sitzen wir in der opulent ausstaffierten Taberna de Ángel Sierra in | |
| der Calle de Gravina und stopfen Wermut vom Fass in uns hinein, den besten | |
| Kräuterwein Madrids. Daniela erwähnt, dass Mariana Malerin sei. Mariana | |
| nickt schüchtern, sagt, ihr Vater sei Maler, sie sei Autodidaktin, sie male | |
| ein Bild pro Jahr, bisher habe sie vier Bilder gemalt. | |
| Auf Nachfrage zeigt sie uns auf ihrem Smartphone eins ihrer vier in Öl | |
| gemalten Bilder. Vermeer war ein Versager dagegen. Wann trifft man schon | |
| mal ein stilles Genie? | |
| 10 Jul 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Roth | |
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