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# taz.de -- Nachruf auf Victoria Amelina: Ein Geschoss, das Sprache trifft
> Ihr wenige Wochen altes Gedicht „Luftalarm“ endet mit der Zeile: „Heute
> bist das nicht du. Entwarnung.“ Nun ist Victoria Amelina tot. Ein
> Nachruf.
Bild: Trauerfeier für Victoria Amelina in Kyjiw
Am 27.Juni erfolgte ein russischer Angriff mit einer Präzisionsrakete auf
eine Pizzeria in Kramatorsk, auf einen Treffpunkt von einheimischen
Zivilisten sowie ukrainischen und internationalen Vertretern von Medien und
Hilfsorganisationen. Victoria Amelina gehört zu den zahlreichen Toten,
zudem gab es mindestens sechzig Verletzte bei diesem russischen
Kriegsverbrechen.
Victoria Amelina, geboren 1986 in Lwiw, schien nach dem [1][totalen
russischen Angriff auf die Ukraine] im Februar 2022 als Autorin zu
verstummen – wie zahlreiche Kolleginnen und Kollegen. Es schien keine
Antwort zu geben, für die unverhohlen verkündete Absicht der russischen
Elite, die Ukraine und ihre Menschen, ihre Sprache und Kultur zu
vernichten. Dies sei die bösartige Bestrafung dafür, wie Amelina dem
kolumbianischen Schriftsteller Héctor Abad auf ihrer gemeinsamen Reise zu
den Stätten russischer Kriegsverbrechen sagte, nicht „russisch“ sein zu
wollen. Amelina fand jedoch bald Worte, noch keine literarischen, aber doch
treffende im Essay „Cancel culture vs. execute culture“. Darin geht es
einerseits um die gegenwärtige Vernichtung der ukrainischen Kultur und
Literatur, oft mitsamt ihren Autoren, und andererseits um die Exekution der
ukrainischen Literatur und ihrer Autoren vor knapp einhundert Jahren
während des Stalinismus.
Im Vorwort zu einer Gedichtsammlung schreibt sie sinngemäß, dass sie
zutiefst spüre, sich inmitten einer „ukrainischen kulturellen Wiedergeburt“
zu befinden, die abermals exekutiert werden solle. Und wie im Stalinismus
brennen auch heute ukrainische Bücher, ganze Bibliotheken, Kulturdenkmäler,
Kirchen werden vernichtet. Deshalb konnte sie nur den Kopf schütteln über
das Gerede im Westen im Hinblick auf die imperiale russische Kunst und
Kultur – wie unwichtig, viel wichtiger wäre es, sich Gedanken über die
Bewahrung der ukrainischen Kunst und Kultur zu machen und zu handeln, denn
es drohe abermals deren Exekution durch Russland.
Man möchte anfügen, bewahren lässt sich nur, was man auch kennt oder
wenigstens bereit ist, kennenzulernen. Und ist man in Mittel- und
Westeuropa dazu bereit? Blickt man etwa in die Programme größerer deutscher
Verlage, drängen sich da berechtigte Zweifel auf.
Als Victoria Amelina vor kurzem den Prix Voltaire für den im Frühjahr 2022
von russischen Truppen ermordeten ukrainischen Autor Wolodymyr Wakulenko
entgegennahm, hob sie die Rolle der ukrainischen Literatur und Sprache für
die Identität und das Selbstverständnis der Menschen in der Ukraine in
Vergangenheit und Gegenwart hervor – was in Deutschland, dem Land der
„Dichter und Denker“ verständlich sein sollte. Sie betonte, die Ukraine sei
von Dichtern geschaffen, von Dichtern bewahrt. Und sie selbst setzte diese
Tradition in mehrfacher Hinsicht fort. Sie trat der
Menschenrechtsorganisation Truth Hounds bei, die russische Kriegsverbrechen
in den (früher) besetzten Gebieten dokumentiert. Während dieser Tätigkeit
fand sie im Herbst 2022 in Isjum das versteckte Tagebuch des gefolterten,
ermordeten und in ein Massengrab entsorgten Kinderbuchautors und
Illustrators Wolodymyr Wakulenko, das sie mit einem Vorwort vor Kurzem
herausgab.
Als Literaturorganisatorin rief sie bereits vor der totalen Invasion der
Russen in der Ortschaft Nju-Jork, so der ursprüngliche Name einer
Kleinstadt im Gebiet Donezk, das Literaturfestival New York ins Leben,
nicht zuletzt, um das weit verbreitete Stereotyp von der kulturell und
sprachlich „russisch“ orientierten Ostukraine infrage zu stellen. Denn
tatsächlich ist die Ostukraine keineswegs „hauptsächlich russisch“, sonde…
Teile ihrer Bevölkerung sind viel mehr sowjetnostalgisch, vor allem aber
ist die Ostukraine die Heimat vieler bedeutender ukrainischer Autoren im
20. und 21. Jahrhundert – eben auch jener, die vor knapp hundert Jahren
exekutiert wurden.
Eine weitere Facette von Amelina als Autorin bestand in ihrer Tätigkeit als
Dokumentaristin, so in ihrem auf Englisch verfassten und demnächst
erscheinenden Buch „War and Justice Diary: Looking at Women Looking at
War“. Es handelt sich um eine packende Darstellung, wie Frauen über die
Verbrechen gegen sich selbst und gegen andere Frauen während der russischen
Besatzung berichten.
Victoria Amelina sagte letztes Jahr, dass sie in der gegenwärtigen
Situation keine Geschichten erzählen oder Romane schreiben könne, und doch
eröffneten ihr die konzentrierte Arbeit gegen die russische Exekution
Möglichkeiten literarischer Reflexion durch Lyrik. Eine Reflexion, die die
emotionale Dimension von Sprache in den Mittelpunkt rückt und die
sprachlichen Mittel selbst hinterfragt, wie im Gedicht „keine Dichtung“:
„Die Realität des Krieges / verschlingt die Satzzeichen / die fortlaufende
Geschichte / die Zusammenhänge / verschlingt sie / als hätte ein Geschoss /
die Sprache getroffen / Gesplitterte Sprache / klingt nach Dichtung […]
(Übers. Chrystyna Nazarkewytsch)
Victoria Amelina schrieb vor dem totalen russischen Angriff zwei großartige
Romane, für die sie international ausgezeichnet wurde. Die Romane „Das
November-Syndrom. Homo compatiens“ (2014) und „Ein Haus für Dom“ (2017)
sowie zwei erfolgreiche Kinderbücher, „Ein gewisser Jemand oder das
Wasserherz“ (2016) und „Die Geschichte des Baggers Egi“ (2021).
„November-Syndrom“ handelt von einem Sonderling, der mit seiner Gabe der
Empathie nicht zurecht kommt, sie am liebsten loswerden möchte, zugleich
ist es auch ein Roman über die Revolution der Würde von 2013/14 auf dem
Maidan in Kyjiw und die Plätze des Protests während des arabischen
Frühlings in Tunesien und Ägypten. Dabei liegt dem Held jegliche
revolutionäre Romantik fern, wie überhaupt er nichts von großen Wahrheiten
hält. Es geht mehr um Dialog und gegenseitiges Verständnis. Auf den letzten
Buchseiten zwingt ihn seine Gabe der Empathie quasi auf den Maidan in
Kyjiw. Der andere Roman, „Ein Haus für Dom“, erzählt die Geschichte einer
multinationalen Familie, die in der Sowjetzeit nach Lwiw gekommen ist, im
Mittelpunkt stehen dabei die 1990er Jahre. Die Familie wohnt in dem Haus
der Kindheit des polnischen Autors Stanisław Lem, bekannt durch seine
phantastische Literatur wie den Roman Solaris, was in einem literarischen
Text kein Zufall sein kann. Die Geschichte wird von einem Hund erzählt, was
unerwartete Beobachtungen und Wendungen bringt, zugleich ist es ein
Lemberg-Roman, der die Stadt auch entzaubert.
Da Victoria Amelina Teil der „Brücke aus Papier“ war, einer von Verena
Nolte 2014 gegründeten ukrainisch-deutschen Literaturbrücke, die
Schriftstellertreffen und literarische Events initiiert, können deutsche
Leser einen Auszug aus dem Roman „Ein Haus für Dom“ auf den [2][Webseiten
der Brücke aus Papier] lesen. Und es bleibt sehr zu wünschen, dass sich die
deutsche Verlagslandschaft besinnt und im Interesse der deutschsprachigen
Leserschaft die Werke Victoria Amelinas und anderer ukrainischer Autorinnen
und Autoren veröffentlicht.
Alexander Kratochvil ist Ukrainist und wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Bereich für Slawische Literaturwissenschaft an der LMU München
7 Jul 2023
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## AUTOREN
Alexander Kratochvil
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