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# taz.de -- Die Wahrheit: Privilegienkontrolle in der Bahn
> Es macht einfach keinen Spaß, erste Klasse im Zug zu fahren. Nicht wegen
> irgendwelcher Luxusschuldgefühle, sondern wegen der Mitpassagiere.
Bild: „Für mich ist es Luxus, hin und wieder erster Klasse zu fahren“
Die Süddeutsche Zeitung fragte vor ein paar Jahren diverse in Saus und
Braus lebende Prominente: „Was ist für Sie Luxus?“
Fast alle antworteten stereotyp: „Zeit“ (Moritz Bleibtreu), „Zeit“
(Wolfgang Joop), „Zeit“ (Yvonne Catterfeld) oder „Zeit“ (Sarah Connor).
Wobei mir die Boris Becker’sche Variation „Zeit zu haben, sich mal hängen
zu lassen“ am besten gefiel. Vor allem angesichts seines später
absolvierten Luxusurlaubs in zwei britischen Gefängnissen.
Für mich ist es Luxus, hin und wieder erster Klasse zu fahren. Meistens
handelt es sich dabei um Fahrten, die mir von Veranstaltern oder Theatern
bezahlt werden. Ich mag keinen Lärm. Und ich sitze gern während der
Zugfahrt. Das war es auch schon.
Da ich aber ein Arbeiterkind bin, habe ich dabei trotzdem ein schlechtes
Gewissen. Ich erinnere mich dann aber immer daran, dass ich mir weder eine
Immobilie leisten kann, noch später eine anständige Rente bekommen werde –
die aktuellen Berechnungen der Künstlersozialkasse liegen bei 550 Euro –,
und gleich fühle ich mich nicht mehr dekadent.
Kürzlich hörte ich auf dem Weg zu meinem Sitzplatz eine Frau hinter mir in
scharfem Grenzbeamtenton sagen: „Sie wissen schon, dass das hier die erste
Klasse ist?“ Weil mir das nicht zum ersten Mal passierte, war mir klar,
hier sprach keine Kontrolleurin. Ich drehte mich um und gab der
Mit-Passagierin, einer Dame im mittleren Alter, meine Standard-Antwort:
„Klar. Und? Haben sie ein Erste-Klasse-Ticket?“ Verwirrt schaute sie mich
an. „Selbstverständlich!“ – „Und wie kommen Sie drauf, dass ich keins
habe?“
Nicht dass ich damit rechnete, dass sie die Wahrheit sagen würde, dass
vielleicht mein Kleidungsstil in Kombination mit meinem kanakoiden Aussehen
ihre Alarmglocken läuten ließen, aber ich wollte doch wenigsten kurz ihr
Stammeln genießen. Sie enttäuschte mich nicht und erklärte sich windend,
dass sie ja viel Geld für das bisschen Luxus bezahle, dass sich aber immer
wieder unrechtmäßig Menschen in die erste Klasse setzten und dann oft erst
nach Stunden kontrolliert und des Wagens verwiesen würden. „Okay“, sagte
ich, „aber wie kommen Sie darauf, dass ich so einer bin?“
In diesem Moment aber wurde mir klar, dass ich damit an ihren
Gerechtigkeitssinn appelliert hatte. Und dass dieser Appell völlig sinnlos
gewesen war, weil solche Menschen nur eine Sache gerecht finden: Ihre
Privilegien.
Also wendete ich mich an den einzigen anderen – überraschten – Fahrgast im
Abteil und sagte demonstrativ ermattet: „Ich fasse es nicht, da kauft man
schon erster Klasse, um in Ruhe Zug zu fahren – und dann muss man sich von
so jemandem anpöbeln lassen?“ Ich ließ mich in den Sitz plumpsen.
Zehn Minuten später, nachdem ich kontrolliert worden war, hörte ich hinter
mir ein halblautes „Entschuldigung, das war nicht persönlich gemeint …“ …
Verweis auf die Privilegiengerechtigkeit hatte funktioniert. Geht doch.
28 Jun 2023
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Deutsche Bahn
Klassengesellschaft
Luxus
Schwerpunkt Rassismus
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