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# taz.de -- Die Wahrheit: Der altböse Feind
> Berlin-Wahlgewinner CDU: 100 Tage nach der Wahlwiederholung eine
> vorausschauende Abrechnung mit den Wiedergängern von Diepgen und Co.
Bild: Feierbiest Regierender mit Tanzfee Kathleen: Kai Wegner
Jetzt, da die Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl am 12. Februar
2023 exakt 100 Tage zurückliegt und der erste Schock sich gelegt hat, macht
sich ein unangenehmes und doch irgendwie urvertrautes Gefühl in Hirn, Magen
und Gedärm breit. Es ist ein bisschen, als ob man als Erwachsener noch
einmal den beklemmenden Geruch der ehemaligen Schulflure atmet. Denn nach
langer Zeit ist es wieder so weit: Es gibt eine echte CDU-Regierung in
Berlin, ein Retro-Erlebnis, Demokratie light, alles wie früher, alles auf
null, ach was, alles auf Schwarz.
Man ist Schwarz-Rot in Berlin gar nicht mehr gewohnt – die Jungen wissen
überhaupt nicht mehr, wie das war und was ihnen blüht. Klar, hat man immer
geschimpft, weil auch unter Rot-Rot-Grün (R2G) nichts klappte, zu wenig zum
Besseren geschah. Man hatte sich halt auch dran gewöhnt, dass die
Landesfürsten im Fernsehen nicht ständig ätzten, schrien oder drohten. Und
dass die Politiker zwar nichts auf die Kette bekamen, aber dass sie es
nicht aktiv böse meinten, sondern einfach nur nicht besser konnten.
Vorbei, denn nun meinen sie es böse; jetzt kommt die Peitsche wieder für
alle, die nicht eh schon oben auf der Suppe schwimmen. Überforderte
Behörden, Sanierungsstau, Bildungsmangel, Pflegenotstand, Mietenwahsninn?
Gab es vorher auch schon, doch nun wird man uns jeden Tag sagen, warum das
alles nicht nur so sein muss, sondern auch absolut super ist.
Aber irgendwie ist es auch spannend. Gerade die destruktiven Anteile meiner
Seele freuen sich fast auf den längst vergessen geglaubten, altbösen Feind.
Es ist eine eigenartige Angstlust, eine Art masochistischer Sucht nach
Tritten von oben gegen unten. Unser Schmerzgedächtnis erinnert sich noch
dunkel an Diepgen und Co, unsere Nase an den altvertrauten Ludergeruch der
Wilmersdoligarchie. Die Neugier entfacht einen selbstzerstörerischen Sog.
## Mittelalter ohne Zahnarzt
So wie man sich ja auch manchmal fragt, wie das Leben im Mittelalter wohl
war, ohne Betäubung beim Zahnarzt, überhaupt ohne Zahnarzt; wer ein Brot
stahl, wurde gehängt, und wer vor der heranbretternden Kutsche des
Landvogts nicht beiseite sprang, wurde straflos überrollt. Nun werden wir
genau das wieder erleben. Die Radwege werden aufgerissen, Abschiebungen im
Minutentakt vollzogen, Volksentscheide gekippt, Krieg den Hütten.
Die goldene Epoche der Berliner CDU lebt wieder auf, und mit ihr das gute
alte Westberlin. Was war das doch für eine Volksnähe. In jedem
höherpreisigen Bordell der Stadt konnten die Berliner jederzeit ihre
Abgeordneten aufsuchen, die dort im Bademantel oder nackt, im Whirlpool
oder an der Bar, beflissen den durchaus unbequemen Fragen ihrer Wähler
auswichen. Sie haben praktisch dort gewohnt, die Huren brachten ihnen
morgens Tee und abends „Mampe Halb + Halb“. Das alles zahlten Baulöwen,
Entsorger oder andere Profiteure der Landesauftragsvergabe. Für Ottilie
Normalbürgerin waren dafür immerhin die Plastiktüten im Einkaufsladen
gratis.
Alles war bestens geregelt und nicht so chaotisch wie unter R2G. „Was
Unrecht ist, muss Unrecht bleiben“ – es sind eherne Grundsätze wie dieser,
die eine Politik berechenbar und für das Volk transparent machen.
## Nostalgie ohne Reue
Apropos Unrecht. Dass die Innensenatorin aus der SPD kommt, ist für uns
Nostalgiker eine schwere Enttäuschung. Was für eine verschenkte Chance. In
einem schwarzen Berlin muss der Innensenator selbstverständlich von der CDU
sein. Sonst ist es nur der halbe Spaß. Zu Westberliner Zeiten knurrte,
bellte und geiferte auf diesem Posten verlässlich der Kettenhund des
Regierenden. Der Bad Cop, der im Grunde nur dazu diente, den Rest der
Bagage in einem vergleichsweise zivilisierten und demokratienahen Licht
erscheinen zu lassen. Gegen Sauron wirkt Saruman wie ein Kaninchenbaby –
genau das ist die Methode.
Nach heutigen Maßstäben waren diese Hardliner durch die Bank
protofaschistische Schreibtischschläger, aggressive, rechtsferne und
nassforsche Handlanger der Willkür. War ein besetztes Haus geräumt worden,
traten sie davor auf wie Putin in Mariupol. Es fehlte nur noch, dass der
Großwildjäger für die Presse den Fuß auf einen langhaarigen Zausel stellte,
der vor ihm auf dem Boden lag.
Wie es bei Christdemokraten damals überhaupt gang und gäbe war, verkündete
dieser Büttel eines antiquierten Ordnungsgedankens von morgens bis abends
ein Zeug, bei dem es heute stets floskelhaft hieße, „Die AfD verschiebt mal
wieder die Grenzen des Sagbaren“. Das tun sie zwar, aber nur dahin, wo sie
in den achtziger Jahren eh schon mal waren. Das vergisst man ja alles so
leicht.
Trotz aller negativen Erfahrungen bin ich wirklich darauf gespannt, was uns
nun erwartet. Das wird sicher alles sehr schön werden, wenngleich auf eine
äußerst schlimme Art.
23 May 2023
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
CDU Berlin
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Kai Wegner
CDU
Schwerpunkt Armut
Katzen
Kolumne Die Wahrheit
Skateboard
Insekten
Napoleon
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