| # taz.de -- Die Wahrheit: Frau O. und der Himmelvati | |
| > Kindergarten, Schweinebraten, hat die ganze Welt verraten: Ein Memoir zum | |
| > vergangenen Mutter- und kommenden Vatertag. | |
| Bild: Das wohlgeritzte Kindergartengemälde von 1964 | |
| Die Kita, in die ich 1964 in Bielefeld ging, hieß Kindergarten der | |
| Evangelischen Stiftsgemeinde zu Schildesche. Ich fuhr jeden Morgen mit dem | |
| Fahrrad hin; allein, wohlgemerkt, und warum auch nicht? Ich war ja schon | |
| fünf. Eine Strecke immerhin von über einem Kilometer, auf der ich zudem die | |
| viel befahrene Beckhausstraße samt den Straßenbahngleisen der damals dort | |
| verkehrenden Linie 1 queren musste. Nein, mir ist nie was passiert. | |
| Mein Fahrrad war ein marineblaues 18-Zoller mit einem Propeller vorne dran, | |
| der sich während der Fahrt drehte. Ich konnte es bis mittags, wenn ich | |
| wieder nach Hause radelte, unabgeschlossen vor dem Kindergarten stehen | |
| lassen. Der Gedanke, dass es geklaut werden könnte, kam mir nie. Wurde es | |
| ja auch nicht. Nicht mal von den blöden Älteren, die immer „Kindergarten / | |
| Schweinebraten / Hat die ganze Welt verraten“ riefen, wenn sie, beladen mit | |
| Ranzen und Turnbeuteln, an unserem Freigelände vorbei zur nahe gelegenen | |
| Grundschule schlurften. Und wir dann immer mutig zurückskandierten: | |
| „Schule: Mistkuhle!“ | |
| Meine Kindergartengruppe hieß „Die Störche“. Und meine Kindergärtnerin | |
| Edeltrud O., eine ebenso freundliche wie hagere Dame mit einem stets streng | |
| gewickelten Dutt auf dem Dez. „Frau O.“, sagten meine Eltern. Wir Kinder | |
| durften sie „Tante Edeltrud“ nennen. | |
| Ich fand sie so weit ganz nett. Nur einmal nicht: weil sie nämlich am | |
| „Märchentag“ nicht mich auswählte, als ich – wie allerdings alle anderen | |
| Jungs an diesem Tag auch – als Prinz verkleidet in den Kindergarten | |
| gekommen war. Und wer durfte dann mit seinem blöden Plastikschwert die | |
| Dornenhecke aus Krepppapier durchschlagen und die dahinterhockende schöne | |
| Monika, die an diesem Tag – wie alle anderen Mädchen – als Dornröschen | |
| verkleidet war, wach küssen? Der doofe Jens. | |
| ## Omabesuch aus Erfurt | |
| Einmal war Tante Edeltrud wohl auch voll sauer auf mich. Was ich damals | |
| überhaupt nicht, heute jedoch sehr gut verstehen kann. Schließlich war ich, | |
| kurz nachdem ich im Kindergarten angekommen war, gleich wieder nach Hause | |
| geradelt – ohne allerdings Tante Edeltrud oder sonst jemandem Bescheid zu | |
| sagen. Der Grund: Meine Oma aus Erfurt war tags zuvor zu Besuch gekommen. | |
| Das aber passierte – wegen der Ostzone und ihren komischen | |
| Reisebestimmungen – so selten, dass ich wohl meinte, ich dürfe die | |
| wertvolle Omabesuchszeit nicht im Kindergarten vergeuden. Wahrscheinlich | |
| war aber auch gerade nichts Interessantes los in der Gruppe. | |
| Als ich zu Hause ankam, waren dort alle in heller Aufregung. Frau O. hatte | |
| mich bereits telefonisch als vermisst gemeldet. Und es half nichts. Ich | |
| musste wieder hin. Als dann mittags, wie jedes Mal, bevor wir im | |
| Schlusskreis stehend „Die güldene Sonne“ sangen oder vielleicht auch „Al… | |
| Vögel sind schon da“, Tante Edeltrud von einem Kind zum anderen ging, um | |
| uns die staatlich verordnete Fluortablette für die gute Zahnentwicklung | |
| in den Mund zu schieben, schaute sie mich allerdings eher erleichtert denn | |
| böse an und sagte: „Das machst du aber bitte nicht noch mal, Andreas!“ | |
| Ja, 1964 hieß ich meist noch Andreas statt wie heute meistens Fritz. | |
| Deswegen steht auf meinem Blumenbild: „1964 Andreas“. Es war mein | |
| Muttertagsgeschenk. Der Vorschlag, selbiges in der damals in Kinderkreisen | |
| durchaus beliebten Wachsmal-Kratztechnik anzufertigen, kam natürlich von | |
| Tante Edeltrud. | |
| Ich kann mich gut erinnern, dass sie die Blume bereits begonnen hatte zu | |
| kratzen, als sie mich zu meiner Verärgerung, weil mitten im schönsten | |
| Spiel, plötzlich aus der Bauecke holte: „Andreas, du kommst heute nicht | |
| eher wieder in die Bauecke, bis du die Blume für deine Mutti fertig hast.“ | |
| ## Gekratze von Erwachsenen | |
| Man sieht Tante Edeltruds künstlerische Mitwirkung heute noch deutlich: Die | |
| in den Spitzen blauen Blütenblätter sind zum Beispiel weit akkurater | |
| geraten als die unteren, die bolleriger wirken. Auch der Stängel und die | |
| beiden Blätter sehen nach dem Gekratze von Erwachsenen aus. Vor allem die | |
| symmetrisch verlaufenden Blattadern! Das kriegt doch kein Fünfjähriger so | |
| hin. | |
| Allerdings: Der bunte Untergrund und die schwarze Fläche darüber, das | |
| stammte beides mit Sicherheit von mir. Mit Wachsmalkreide rumgemacht habe | |
| ich als Kind immer sehr gern. Auch darum, in die so präparierte Vorlage | |
| irgendwas reinzukratzen oder zu krakeln, musste man mich nicht lange | |
| bitten. Für Frau O. war es wohl eher eine unvermeidliche Pflichtaufgabe | |
| denn eine aus freien Stücken gekratzte Kür. Aber als das Werk dann fertig | |
| war, fand ich es schon toll. Meine Mutter wohl auch. Jedenfalls hat sie es | |
| zeitlebens aufbewahrt und mir erst kurz vor ihrem Tod praktisch wieder | |
| zurückgegeben. | |
| Ein quadratisches Stoffuntersetzerchen, das ich ihr dann mit allerlei | |
| bunten Wollfäden bestickt zu Weihnachten anfertigen musste, war ebenfalls | |
| länger zu Hause im Einsatz, ist aber heute verschollen. Doch auch das | |
| Ergebnis dieser eher öden und, soweit ich das erinnere, mehrere Tage | |
| dauernden und ziemlich anstrengenden Arbeit erfüllte mich hinterher mit | |
| Stolz. Vermutlich wurde ich ordentlich gelobt dafür und erhielt bestimmt | |
| Aufmerksamkeit. Das freut einen schließlich immer. Nicht nur als Kind. | |
| Ach so, einen Vatertag, den kannten wir anno 1964 noch gar nicht. Und | |
| später bestand mein eigener, streng lutherisch-protestantisch eingestellter | |
| Vater darauf: „Das heißt nicht Vatertag, sondern Himmelfahrt!“ Sehr viel | |
| später kam mir dann auch mal die Namensidee „Himmelvati“. Die konnte ich | |
| aber meinem Vati vor seiner Himmelfahrt anno 1992 leider nicht mehr | |
| unterbreiten. | |
| 16 May 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Fritz Tietz | |
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