Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rückkehr aus Exil in Türkei: Sieben Jahre Winter
> Im Jahr 2016 verließ unser Autor Istanbul. Nach seiner Rückkehr bewegte
> er sich plötzlich in einer fremden Stadt – und fand neben Zerstörung auch
> Hoffnung.
Bild: Der Gang durch die Stadt spiegelt den politischen Wahlkampf
Um meinen Personalausweis zu verlängern, befinde ich mich im Wartebereich
des Bürgeramts im Istanbuler Bezirk Kadıköy. Mir gegenüber sitzen eine Frau
und ihr Sohn, ein junger Mann in den Zwanzigern, die aus der
[1][Erdbebenregion im Südosten der Türkei] stammen und vor Kurzem nach
Istanbul gezogen sind. Sie wollen ihre Adresse ändern lassen, um bei den
anstehenden Wahlen hier ihre Stimme abgeben zu können. Mit einem Auge
schauen wir stets auf die Anzeige des Wartenummernautomaten, mit dem
anderen auf den Fernseher, der an der Wand hängt. Als die Frau von ihrem
zerstörten Haus in Antakya erzählt, kommen ihr die Tränen.
Ihr Sohn hingegen ist wütend, ihm rutscht ein Fluch heraus, während er die
Diskussion über die anstehenden Wahlen im Fernsehen verfolgt. Er sagt auch,
wem er seine Stimme geben wird. Mit einem kurzen Kommentar bringt ihn seine
Mutter zum Schweigen: „Dieser Mann, von dem du da sprichst, wird unser Haus
nicht wieder aufbauen.“ Sichtlich beleidigt von der Zurechtweisung seiner
Mutter dreht er sich zu mir um und erkundigt sich nach dem Grund für meinen
Besuch auf dem Bürgeramt. Nach einer kurzen Unterhaltung stellt er mir eine
weitere Frage: „Wie viele Jahre warst du nicht in der Türkei, Bruder?“ Als
ich antworte, kann ich die Zahl, die mir über die Lippen kommt, selbst
nicht glauben: „Sieben.“
Ich hatte Istanbul im März 2016 verlassen. Die Bedingungen an der
Universität, wo ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitete, waren für
mich kaum noch tragbar. Im Abstand von einem Jahr wurden zwei
Untersuchungen gegen mich eröffnet, wie viele andere hatte ich die Petition
„Akademiker*innen für den Frieden“ unterschrieben. (Anfang 2016
forderten landesweit Wissenschaftler*innen das Ende der militärischen
Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im Südosten der Türkei, worauf
Massenentlassungen und Verhaftungen folgten; d. Red.). Nach einer Zusage
für ein Doktorandenprogramm kündigte ich meine Stelle und zog nach
Deutschland.
Noch während meiner Abreise, auf dem Weg zum Flughafen, als ich von der
Fähre das letzte Mal einen Blick auf die Stadt warf, dachte ich, dass dies
keine allzu lange Reise werden würde. Ich hatte jedoch die Tatsache
verdrängt, dass es unmöglich ist, persönliche Pläne zu machen, ohne dabei
die Geschichte und politische Situation des Landes mitzudenken. Nur wenige
Monate nach meinem Umzug wurde ich infolge des Putschversuchs im Sommer
2016 und der darauffolgenden Verhängung des Ausnahmezustands wie
zehntausend andere per Dekret vom Dienst suspendiert. Damit rückte die
Möglichkeit zur Rückkehr in die Türkei für mich in weite Ferne.
## Nicht die Gebäude, sondern ich war fremd
Es sollte sieben Jahre dauern, bis ich wieder in die Türkei zurückkehren
konnte. Im Februar 2023 setzte ich mit allem, was diese sieben Jahre in mir
aufgewühlt und hinterlassen hatten, wieder einen Fuß in diese vom
Wahlkampf, der Wirtschaftskrise und den Folgen des Erdbebens gebeutelten
Stadt. Vom ersten Moment an, als ich den Sabiha-Gökçen-Flughafen betrat,
traf ich auf eine Stadt, in der alles, was mir zuvor vertraut war,
plötzlich eine andere Bedeutung in sich trug.
Natürlich verfolgte ich aus der Ferne die politischen Ereignisse und
Veränderungen. Ich wusste, dass die Straße, die vom Flughafen nach Kadıköy
führt, vollständig dem Bauwahnsinn überlassen wurde. Aber ich wusste nicht,
dass mir der Atem stocken würde, als ich auf dem 30 Kilometer langen Weg
durch dieses Betonmeer auf Zehntausende Gebäude schauen und nichts mir
Bekanntes entdeckte. Ich wusste nicht, in welch naive Verwunderung es mich
versetzen würde, als ich mit dem Bus am historischen Gebäude der
Jurafakultät vorbeifuhr, in der ich sechs Jahre gearbeitet hatte, die dann
willkürlich geräumt und den Gesundheitswissenschaften übergeben wurde und
an der nun ein Schild mit der Aufschrift „Sultan Abdülhamit Han“ prangt
(Herrscher des Osmanischen Reichs, unter dem von 1894–1896 Massaker an
Armeniern und anderen Minderheiten verübt wurden; d. Red).
Ich wusste beim Gang an der Uferpromenade, dass viele der Orte, die
Istanbul für mich zu Istanbul gemacht hatten, die Buchhandlungen, Teeläden
und Musikgeschäfte, nicht mehr existierten. Aber ich wusste nicht, wie
unvorbereitet mich diese unerbittliche Veränderung treffen würde, beim
Vorbeigehen an den Dönerrestaurants, den Süßwarenhandlungen und billigen
Modegeschäften, die dort entstanden waren. Ich wusste jedoch, dass das alte
Atatürk-Kulturzentrum am Taksimplatz abgerissen und neu aufgebaut – und
diesem direkt gegenüber eine gigantische Moschee errichtet wurde. Aber ich
wusste nicht, dass ich dort, an diesem Ort, der nun einen anderen Teil der
Geschichte repräsentierte, nicht die Gebäude, sondern mich selbst als fremd
empfinden würde.
Dafür bekam alles andere, was sich nicht verändert hatte, ob groß oder
klein, was ich aus der Ferne vom Schreibtisch aus nicht hatte erahnen
können, nun eine ganz andere Bedeutung. Die Fähren waren dieselben, auch
die Möwen, die sie bei ihrer Überfahrt begleiteten, genauso wie der
Geschmack des Tees und das Knarzen der Seile beim Anlegen der Schiffe. Die
Silhouette der Stadt, ihre Straßen, ihre historischen Gebäude und ihr Chaos
waren gleich geblieben. Wenn ich über die Polizeiautos an jeder Ecke und
die Sicherheitskontrollen auf Schritt und Tritt hinwegsah, waren auch die
Fische, die auf dem Markt im Stadtteil Üsküdar verkauft wurden, die
Gleichen.
Auch an der Promenade von Bebek, direkt am Bosporus, drehten die gleichen
Menschen die gleichen morgendlichen Runden und im Maçkapark streiften einem
die gleichen Katzen um die Beine. Aber Istanbul besteht nicht nur aus einer
Ansammlung von Orten. Ihre Bedeutung ist unmittelbar verbunden mit den
Sorgen und Wünschen der Menschen, die dort leben. Und ich selbst ertappte
mich dabei, wie ich die Gegenwart von Istanbul mit einer beunruhigenden
Kühnheit betrachtete.
## Topthemen: Wahlen und die Folgen des Erdbebens
Alle Treffen mit alten Freund*innen verlaufen stets ähnlich: Nach einer
herzlichen Umarmung und den üblichen Fragen nach dem Wohlbefinden geht es
um die Wirtschaftskrise, die anstehenden Wahlen und das Erdbeben. Alle
Themen hängen mit der allgegenwärtigen Frage des Überlebenskampfes
zusammen. Während im Fernsehen Expert*innen über das Erdbeben sprechen,
laufen am unteren rechten Rand die aktuellen Währungskurse durch. Dann
erzählt jemand, dass er aus der Erdbebenkarte, die die Stadtverwaltung
veröffentlicht hat, erfahren habe, dass das Gebäude, in dem er wohnt, sich
im gefährdeten Gebiet befinde, sein Gehalt aber nicht ausreiche, um in eine
sichere Wohnung zu ziehen.
Es entspinnt sich eine Diskussion darüber, welche Stockwerke am
erdbebensichersten sind oder es wird darüber spekuliert, welche
Auswirkungen das Erdbeben auf den Ausgang der Wahlen haben wird. Ich werde
von jemandem, der kürzlich Verwandte in Adıyaman aus Trümmern geborgen hat,
nach Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland befragt. Dieser wiederum wird von
jemandem unterbrochen, der uns die neuesten Supermarktangebote aus der App
rezitiert: „Morgen ist Hühnerfleisch bei Migros im Angebot.“
Jemand anderes am Tisch versucht mich zu überzeugen, dass die Regierung
eigentlich keine Schuld treffe, kein Staat hätte dem verheerenden Ausmaß
einer solchen Katastrophe Einhalt gebieten können, nur um mir wenige
Minuten später Bilder von dem zerstörten Haus seines Bruders zu zeigen und
dann ganz plötzlich das Thema zu wechseln: „Vielleicht ist es auch in
Ordnung, wenn meine Tochter später nicht studiert. Ich kann ihr nichts
versprechen, was ich vielleicht gar nicht bezahlen kann.“
## An jeder Ecke hängen politische Konterfeis
Beim Gang durch die Stadt spiegeln sich die Themen in der visuellen
Landschaft wider. Unter einem Spendenplakat des Roten Halbmonds, der
während des Erdbebens mit dem Verkauf von Zelten an Bedürftige negativ in
die Schlagzeilen geriet, steht mit Sprühfarbe geschrieben: „Die Jugend wird
euch nicht verzeihen.“ Gleich daneben, am Eingang eines Supermarkts,
schreit eine Werbung: „Heute Zwiebeln im Angebot.“ Auf den großen
Plakatwänden stehen sich die Bilder von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und
dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu gegenüber. Es sind Fotos in
ähnlichen Posen, geschossen in der Erdbebenregion, ihre Namen in großen
Buchstaben und darunter eine handschriftliche Unterschrift.
An jeder Ecke kann man die Namen und Konterfeis der Regierungs- und der
Oppositionsführung wiederfinden. Ein Foto von Meral Akşener, Vorsitzende
der nationalistischen İyi Parti, prangt an einer Bushaltestelle, und auf
anderen Plakaten steht mit großen Buchstaben Kemal Kılıçdaroğlu,
Vorsitzender der kemalistischen CHP und Präsidentschaftskandidat des
Oppositionsbündnisses.
Bei der Fahrt mit einem der Sammeltaxis lobt ein Fahrgast, dass Muharrem
İnce, ehemaliger CHP-Politiker und unabhängiger Präsidentschaftskandidat,
noch vor allen anderen Politiker*innen in die Erdbebenregion gereist
ist, auch wenn er damit möglicherweise die Stimmen der Opposition gespalten
hat. In einem Café in Moda schwärmt jemand, wie anziehend der Vorsitzende
der Türkischen Arbeiterpartei, Erkan Baş, sei.
Der Besitzer eines Teeladens, den ich seit vielen Jahren kenne, organisiert
während unseres Gesprächs telefonisch Hilfsgüter für seine Heimatregion
Ağrı und erzählt gleichzeitig, seine Stimme gehöre dem favorisierten
Kandidaten des inhaftierten ehemaligen Parteivorsitzenden der HDP: „Ich
wähle, wen auch immer Selahattin Demirtaş nennt.“ Es ist fast so, als ob
das Erdbeben den Niedergang des Alten symbolisiert und die Hoffnung auf
etwas Neues in einer Handvoll Namen verborgen liegt.
## Hoffnung statt Selbstmitleid
Trotz all dieser Zermürbung, trotz mancher, die ins Gefängnis, oder
anderer, die ins Ausland gehen mussten – Istanbul ist immer noch voll von
Menschen, die dort geblieben sind, die Wege in diesen unruhigen Zeiten
gesucht haben, um sich einzumischen; die nicht aufgegeben haben zu
schreiben, zu sprechen und neue Lösungen zu suchen. Wie auch immer die Wahl
ausgehen mag, Istanbul und die Menschen, die dort leben, wissen ganz genau,
was für eine Zeit sie gerade durchmachen. Denn allen ist klar: In einem
Land wie in der Türkei ist das Persönliche nicht vom Politischen, aber auch
nicht vom Historischen oder Geografischen zu trennen.
Sowohl die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als auch dystopische Szenarien
werden nur mit größter Behutsamkeit verhandelt. Von den Menschen, die
versuchen, ein neues Zuhause für Katzen zu finden, die durch das Erdbeben
ihre Besitzer*innen verloren haben, bis hin zu Aktivist*innen, die Tag
und Nacht für den Wahlkampf der Oppositionsparteien arbeiten – es gibt so
viele Menschen, die den Lauf der Geschichte zu verändern versuchen und
dabei ihr Bestes geben, ohne in Selbstmitleid zu ertrinken.
Selbst die Nähe zu diesen Bemühungen verleiht allem einen anderen,
bedeutenderen Sinn. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheinen die sieben
Jahre, die ich in Berlin verbracht habe, lediglich wie ein langer Winter
voller Trägheit und Wehklagen. Möge das eine Lehre für mich und alle
anderen sein, die in der Fremde im Mythos ihrer Verzweiflung gefangen sind!
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
Eren Paydaş ist Musiker, Wissenschaftler, Übersetzer und freier Journalist.
Er hat in Rechtswissenschaften promoviert und kombiniert Rechtstheorie mit
verschiedenen Interessengebieten von Anthropologie bis Mythologie. Aktuell
arbeitet er als Redakteur und Reporter für diverse Medien, darunter auch
die taz.
Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage
der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der
Pressefreiheit erschienen.
3 May 2023
## LINKS
[1] /Erdbeben-in-der-Tuerkei-und-Syrien/!t5914521
## AUTOREN
Eren Paydaş
## TAGS
Schwerpunkt Pressefreiheit
Wahlen in der Türkei 2023
Opposition in der Türkei
Erdbeben in der Türkei und Syrien
Lesestück Recherche und Reportage
Präsidentschaftswahl in der Türkei
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Erdbeben in der Türkei und in Syrien: Die Seelen sind erschüttert
Fast zwei Wochen nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei harren die
Überlebenden in Zeltstädten aus. Sie brauchen auch psychologische Hilfe.
Wahlkampf in der Türkei: Erdoğan spielt schmutzig
Wahlen und hohe Inflation – 2023 wird zum Schicksalsjahr für die Türkei.
Recep Tayyip Erdoğan bekämpft seine Konkurrenz mit der Macht der Justiz.
Akademiker*innen für den Frieden: Den Unis mangelt es an Vielfalt
Viele Akademiker*innen mussten die Türkei verlassen und arbeiten heute an
deutschen Unis. Sie kritisieren neoliberale Strukturen und wenig Raum für
Kritik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.