| # taz.de -- Akademiker*innen für den Frieden: Den Unis mangelt es an Vielfalt | |
| > Viele Akademiker*innen mussten die Türkei verlassen und arbeiten heute an | |
| > deutschen Unis. Sie kritisieren neoliberale Strukturen und wenig Raum für | |
| > Kritik. | |
| Bild: „In Deutschland haben Professor*innen eine gottähnliche Position“ sa… | |
| „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein!“ Viele Akademiker*innen in | |
| der Türkei, die Anfang 2016 unter diesem Titel den Friedensaufruf | |
| unterschrieben haben, waren gezwungen, das Land zu verlassen und ihre | |
| wissenschaftliche Arbeit im Ausland fortzusetzen. Deutschland war eine | |
| ihrer Hauptanlaufstellen. In den vergangenen vier Jahren haben sie als | |
| Exilwissenschaftler*innen die deutschen Universitäten von Nahem | |
| kennengelernt. | |
| Akademiker*innen aus der Türkei beobachten im deutschen | |
| Wissenschaftsbetrieb mangelnde Vielfalt. Zudem kritisieren sie, dass die | |
| neoliberale Politik, die auf Konkurrenz aufbaut, Wissenschaftler*innen in | |
| unsichere Arbeitsbedingungen drängt, die kritisches Denken verhindern. | |
| Die Soziologin Nil Mutluer wurde wegen ihrer Unterschrift des | |
| Friedensaufrufes von der Nişantaşı Universität in Istanbul entlassen. Heute | |
| arbeitet sie an der Humboldt Universität in Berlin zu Themen wie | |
| Pluralismus, Gender, Ethnie, Religion und Nationalismus. Sie gehört zu den | |
| ersten Wissenschaftler*innen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen | |
| sind. „Als ich angefangen habe in Deutschland zu arbeiten, kam mir alles | |
| sehr steril vor“, sagt sie. Kritik sei nicht möglich gewesen. | |
| „In einem Panel über die politischen Entwicklungen meinte ein Professor, | |
| dass Politik in der Universität nichts zu suchen habe – wegen der | |
| mangelnden Objektivität. Dabei ist gerade in den Sozialwissenschaften | |
| Objektivität ein streitbarer Begriff.“ Mutluer beobachtet in Deutschland | |
| eine Synthese aus zwei Systemen. „Zum einen gibt es die neoliberale | |
| Projektwirtschaft. Wissen wird nach Bedarf der Geldgebenden produziert. | |
| Kann man da überhaupt noch von unabhängigen Universitäten sprechen?“ | |
| Zum anderen gebe es institutionalisierte und festgefahrene Beziehungen. | |
| „Wenn man im als ‚Soft Network‘ bezeichneten Umfeld eine kritische Positi… | |
| bezieht, wird man sehr schnell ausgegrenzt. Auch wenn die Mechanismen noch | |
| so offen angelegt sein mögen, sind sie auf eine Art sehr geschlossen und | |
| konservativ“, sagt sie. | |
| ## Zum Gegenstand der eigenen Forschung geworden | |
| Auch die Soziologin Latife Akyüz war gezwungen, ihre Universität in Düzce | |
| und die Türkei zu verlassen, nachdem sie Zielscheibe gemacht wurde. Heute | |
| arbeitet sie an der Goethe Universität Frankfurt. „Die deutschen | |
| Wissenschaftler*innen lieben es zuzuhören, wenn es um die diktatorischen | |
| Zustände in der Türkei geht“, sagt sie. „Aber wenn es um den Arbeitskampf | |
| an den Universitäten geht, der ein gemeinsames Vorgehen verlangt, oder um | |
| das Erstarken der AfD, dann bekommt man immer die Antwort, dass das zu | |
| politisch sei. Denn sie glauben, dass der wissenschaftliche Anspruch | |
| abnimmt, wenn man sich politisch einmischt.“ | |
| Akyüz hält die deutschen Universitäten für konservativ, was sich auch in | |
| den Hierarchien widerspiegele. „In Deutschland haben Professor*innen eine | |
| gottähnliche Position. Es gibt eine sehr komplizierte Hierarchie zwischen | |
| den Personen, die sich auf den unterschiedlichen Stufen der akademischen | |
| Leiter befinden“, erzählt sie. | |
| Zahlen der deutschen Rektorenkonferenz von 2017 zufolge sind 85 Prozent der | |
| Wissenschaftler*innen befristet angestellt. Gegen die Befristungen an den | |
| Universitäten protestieren zunehmend mehr Wissenschaftler*innen und | |
| Studierende. Am 2. Mai organisierten sie in Berlin eine Demonstration unter | |
| dem Motto „Frist ist Frust“. Außerdem sammelten sie 15.000 Unterschriften | |
| und überreichten sie dem Kultusministerium. Zuletzt gab es am 15. Januar in | |
| acht Bundesländern Aktionen für die Entfristung von Arbeitsverträgen. | |
| Zugleich wirken sich die prekären Arbeitsbedingungen inzwischen auch auf | |
| die wissenschaftliche Arbeit aus. Während sich Akademiker*innen mit den | |
| unsicheren Arbeitsbedingungen in unterschiedlichsten Bereichen | |
| beschäftigen, sind flexible und prekäre Arbeitsbedingungen längst auch an | |
| den Universitäten Realität. So werden die Wissenschaftler*innen selbst zum | |
| Gegenstand ihrer Forschung. Das gilt besonders für Akademiker*innen mit | |
| Migrationsgeschichte. | |
| Latife Akyüz, die in ihrer Doktorarbeit zu Grenzen und Frauen geforscht | |
| hat, ist nach Deutschland geflüchtet, um ihre wissenschaftliche Laufbahn | |
| fortsetzen zu können. „Ich habe die Geschichten und Überlebenskämpfe vieler | |
| Frauen gehört. Grenzen zu überqueren, kein Visum zu bekommen, ausgewiesen | |
| zu werden, keinen Job zu finden, Scheinehen...“, sagt sie. „Und dann musste | |
| auch ich Grenzen überqueren und mich mit den gesetzlichen Regelungen | |
| befassen. Ich habe verstanden, was das mit dem Leben eines Menschen macht.“ | |
| ## Keine Mechanismen reproduzieren | |
| Die Probleme, die von den migrantischen Wissenschaftler*innen thematisiert | |
| werden, kommen auch in den Seminaren und Vorlesungen der deutschen | |
| Wissenschaftler*innen zur Sprache. Doch diese Probleme können nicht von | |
| Einzelnen gelöst werden, sondern nur strukturell. | |
| Die Soziologin Christine Preiser, die an mehreren Universitäten | |
| unterrichtet, erzählt von einem Ereignis in ihrem Kurs: „Im Seminar wurde | |
| über das Buch von Trinh T. Minh-ha, ‚Woman. Native. Other‘ diskutiert. In | |
| einem Kapitel heißt es, dass ‚weiße Männer ständig über das Andere | |
| sprechen, ohne mit den Anderen zu sprechen‘.“ Da habe eine Studentin | |
| gefragt: „Aber ist das nicht genau das, was wir hier gerade machen?“ | |
| Preiser stimmte zu. „Denn die Vielfalt der Gesellschaft findet sich nicht | |
| in der Wissenschaftswelt wieder und das ist eine Folge von tief | |
| verwurzeltem Rassismus und strukturellen Mechanismen.“ Sie wollte eine*n | |
| Wissenschaftler*in einladen, um dieses Thema im Seminar tiefer zu | |
| behandeln, doch dafür gebe es keine Finanzierung. „Ich wollte diesen | |
| Mechanismus nicht reproduzieren, indem ich solche Leute einlade, ohne den | |
| Lohn für ihre Arbeit zahlen zu können. Aber zumindest habe ich versucht, in | |
| meinem Seminar Texte von Women of Color und marginalisierten Personen zu | |
| verwenden, in einem Gebiet, das eigentlich von weißen Männern dominiert | |
| ist.“ | |
| Trotz aller Kritik sind viele der türkischen Wissenschaftler*innen der | |
| Meinung, dass migrantische Akademiker*innen eine Chance für eine | |
| pluralistische Wissenschaft sind. Zum Beispiel haben Latife Akyüz und ihre | |
| Kolleg*innen, die mit Stipendien nach Deutschland gekommen sind, | |
| protestiert, als sie erfahren haben, dass sie als Migrant*innen nicht in | |
| die Gewerkschaft eintreten können. Und das mit Erfolg. | |
| „Obwohl es so viele migrantische Wissenschaftler*innen gibt, scheint sich | |
| niemand darum geschert zu haben. Aber jetzt waren sie gezwungen das zu | |
| ändern,“ sagt Akyüz. Auch Nil Mutluer betont ihren Glauben an den Wandel: | |
| „Wir müssen uns auf pluralistische Art verbünden, ohne die Hoffnung zu | |
| verlieren. Und nicht nur mit Wissenschaftler*innen. Nur zusammen mit | |
| anderen Gruppen können wir etwas verändern.“ | |
| Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein | |
| 10 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Oğul Doğa Gökşin | |
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