Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Slowjansk nach einem Raketenangriff: In Erwartung eines Wunders
> Nach der Zerstörung eines Wohnblocks im ostukrainischen Slowjansk geht
> die Suche nach Überlebenden weiter. Die Stadt versucht, Ostern im Krieg
> zu feiern.
Bild: Russische Raketen in Slowjansk: Insgesamt ist von elf Todesopfern, darunt…
Slowjansk taz | 1.15 Uhr morgens, es ist stockdunkel. Das Ziel der
nächtlichen Autofahrt ist Slowjansk in der ostukrainischen Region Donezk.
Die Stadt ist nur 45 Kilometer [1][von Bachmut] entfernt, derzeit der
„heißeste“ Punkt an der Front. Momentan sind alle Frontstädte in der
Ukraine nicht beleuchtet, aber über Slowjansk ist eine helle Lichtsäule
sogar schon aus einer Entfernung von 15 Kilometern zu sehen. Im Schein
dieses Lichts läuft eine Such- und Rettungsaktion in der Nähe des Hauses
Nummer sechs in der Parkowy-Gasse. Dort ist [2][am Freitag gegen 16 Uhr
eine russische Rakete vom Typ S-300 eingeschlagen].
Die ganze Nacht schon kämpfen sich ukrainische Rettungskräfte trotz
mehrfachen Alarms und drohender weiterer Angriffe durch die Trümmer, unter
denen sich fünf Menschen befinden sollen. Es wird ohne Unterbrechung
gearbeitet, nur hin und wieder gibt es kurze Pausen – „Schweigeminuten“,
wenn alle technischen Geräte ausgeschaltet sind und die Arbeiter des
staatlichen Rettungsdienstes versuchen, Hilferufe der Verschütteten zu
hören. Vor Ort gibt es viel technisches Gerät und zwei Hochhauskräne, die
die Platten entfernen. Die Rettungsteams wechseln sich ständig ab, lange
sind solche körperlichen Belastungen nicht auszuhalten.
Retter in einem Zelt in der Nähe des beschossenen Geländes sinken erschöpft
zu Boden, um wenigstens für ein paar Minuten zu schlafen. Die Nacht ist
sehr kalt, hin und wieder schneit es. Gegen fünf Uhr bricht die
Morgendämmerung an. Zum Einsatzort sind weitere Brigaden des staatlichen
Rettungsdienstes aus den Nachbarstädten der Region Donezk gekommen.
In der Straße tauchen vereinzelt Menschen auf – Verwandte der fünf
Personen, die noch unter den Trümmern liegen. Die Hoffnung, dass ihre
Angehörigen noch am Leben sind und bald gerettet werden – mehr bleibt ihnen
nicht. „Wenn nur ich betroffen wäre, würde ich gehen. Aber meine Mutter ist
bettlägerig. Wohin soll ich sie bringen?“, sagt Lilija Moroz, die in dem
zerstörten Haus gewohnt hat. Eine Freundin hat Lilija einen Osterkuchen
gebracht und versucht, sie moralisch zu unterstützen. Obwohl die Rakete nur
wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt eingeschlagen ist, blieb Lilija die
ganze Nacht zu Hause. Nicht alle Bewohner*innen des Hauses Nummer sechs
hätten dieses verlassen.
## Zwei Angriffe mit S-300-Raketen
Zum Zeitpunkt des Angriffes sei sie in ihrer Wohnung gewesen. „Ich hatte
mich hingelegt, zum Fernsehen gucken. Der erste Schlag traf das Haus
gegenüber. Eine Sekunde später – der nächste, unser ganzes Haus erbebte.
Ich ging in die Küche und schaute nach – überall Staub, Teile des fünften
Stocks lagen auf der Straße. Bei uns im vierten Aufgang, wo die Rakete
eingeschlagen ist, lebte eine ältere Frau, eine Bekannte von mir. Da steht
Aleksej, ihr Sohn“, sagt Lilija und zeigt auf einen Mann mittleren Alters.
Tatsächlich hat es auf die Parkowy-Gasse in Slowjansk zwei Angriffe mit
S-300-Raketen gegeben. Bei dem zweiten explodierte die Rakete jedoch in der
Luft. Umherfliegende Splitter setzen mehrere Wohnungen eines Nachbarhauses
in Brand, aber größere Zerstörungen blieben aus.
Lilija fragt, ob die Leiche ihrer Freundin gefunden worden sei. Am
Samstagmorgen wird die Rettungsaktion fortgesetzt. Obwohl die Einsatzkräfte
die ganze Nacht ununterbrochen gearbeitet haben, war das jedoch nicht der
Fall. Als Lilija das hört, seufzt sie und sagt: „Das macht mich fertig.
Aleksejs Mutter hatte einen Nachbarn, Witja, ein grauhaariger Mann –
einfach weg. In der vierten Etage hat Michail gewohnt. Ihm sei sofort eine
Platte auf den Kopf gefallen, haben die Rettungskräfte gesagt. Seine
Tochter wurde noch lebend geborgen und ins Krankenhaus gebracht. Es ist
schrecklich.“
Die Rentnerin sagt, dass sie alle Leute des Nachbaraufgangs, wo die Rakete
eingeschlagen sei, gekannt habe. „Wir haben hier so viel durchgemacht“,
sagt sie und spricht im Präsens von den Toten. „Im letzten Jahr, als alle
gegangen sind, sind wir geblieben. Weil es so wenige Leute gab, sind sich
alle sofort näher gekommen. Wir haben zusammen ein Feuer angezündet, wenn
es kein Gas gab. So konnten alle überleben“, erzählt sie.
An diesem Samstag feiern orthodoxe Christ*innen in der Ukraine die
Auferstehung Christi, aber Lilija ist nicht danach zumute. „Ich bin nicht
in Stimmung. Am Karfreitag haben einige Leute Osterkuchen gebacken, aber
der ist misslungen“, sagt sie. Lilija wird trotz der Schäden an ihrem Haus
nicht weggehen. „Was sein wird, wissen wir nicht. Das alles ist
beängstigend. Auf meine Schultern kann ich meine 82-jährige Mutter nicht
nehmen. Und ich werde 62.“
## „Dann, sahen wir eine Rauchwolke“
In ukrainischen Städten an der Front haben die Menschen keine Lust, mit
Journalist*innen zu sprechen. Das Schicksal dieser Siedlungen ist noch
nicht endgültig entschieden, daher sind die Bewohner*innen vorsichtig,
etwas zu sagen, das ihnen schaden könnte. Die Opfer sind noch
verschlossener.
Das gilt auch für Aleksej, dessen Mutter immer noch unter den Trümmern
liegt. Der Mittfünfziger läuft durch den Innenhof eines mehrstöckigen
Hauses von einem Eingang zum anderen. Er sagt, dass seine 77-jährige Mutter
während des Angriffes in ihrer Wohnung im fünften Stock gewesen sei.
Aleksej weiß nicht, was er als Nächstes tun wird, aber in diesem Haus und
in dieser Gegend leben, das wolle er definitiv nicht. Er weicht Antworten
auf jede erdenkliche Weise aus und versucht, sich wegzustehlen.
Um sechs Uhr morgens erwacht Slowjansk. Ein 64-jähriger Rentner, auch er
heißt Aleksej, kommt aus einem benachbarten fünfstöckigen Gebäude, um mit
seinem Hund einen Morgenspaziergang zu machen. Er war zum Zeitpunkt des
Raketenangriffs nur wenige hundert Meter von seinem Haus entfernt. „Das
waren scharfe Explosionen. Man hörte die Rakete, aber zunächst war nichts
zu sehen. Dann sahen wir eine Rauchwolke“, erinnert er sich.
Aleksej sagt, dass in dem zerstörten Aufgang sein Freund wohne. „Ich bin
hergekommen, um nach ihm zu sehen – und da kommt er, von Kopf bis Fuß voll
weißem Staub. Ich rannte zu ihm hin. Sein Kopf war völlig lädiert, überall
waren so große Beulen. Gerade als die Rakete kam, war er bei einem Kumpel
im fünften Stock gewesen. Während der Explosion wurde er durch die
Druckwelle in ein anderes Zimmer geschleudert.“
Aleksej erzählt, wie sein Freund ihm noch erklärt habe, dass er dort in dem
Zimmer auf einem Bett lag und plötzlich sah, wie ein Herd auf ihn zu
geschleudert wurde. An einer engen Stelle des Zimmers sei der Herd stecken
geblieben, direkt vor dem Bett. Das habe seinem Freund das Leben gerettet.
Er sei einer der ersten gewesen, der unter den Trümmern herauskam, alles
bröckelte und rumpelte noch. Ein Rettungswagen brachte ihn sofort ins
Krankenhaus, so Aleksej.
## Osterzeit in Kriegszeiten
„Ich habe keine Ahnung, wie ich heute irgendwas feiern soll. Die Seele kann
sich nicht mehr freuen, so wie das in Friedenszeiten war. Da gingen wir
alle zusammen nachts in die Kirche zum Ostergottesdienst, das war alles so
schön. Und jetzt denkst du nur noch daran, wie es überhaupt weitergehen
soll“, sagt Aleksej. „Ich verstehe das Ziel dieses Angriffs nicht. Wer wird
hier getötet? Hier sind fast nur noch alte Leute, die jungen sind doch alle
weg, sogar meine Neffen sind mittlerweile in England.“
Neben dem Haus versucht ein anderer Bewohner ein paar Habseligkeiten zu
finden. Es ist der 68-jährige Igor. Seine Wohnung war im dritten Stock des
benachbarten, fünften Aufgangs. Auch dieser Aufgang ist zum Teil zerstört.
Igor erzählt, dass er während des Raketenangriffs zu Hause war. „Ich
schlief schon, alles war wie immer. Ich hatte zuerst absolut nichts
mitbekommen, weil ich mittlerweile schon so an all das gewöhnt bin. Aber
dann konnte ich es gut hören. Zuerst dachte ich, dass es das Haus gegenüber
getroffen habe. Dann kam die Druckwelle – alle Scheiben gingen zu Bruch und
meine Wohnungstür.“
Igor sagt, dass er die Toten aus dem fünften Stock gekannt habe, auch die
Mutter von Aleksej. Sie hieß Walentina Korolkowa. In dem Haus, in das die
Rakete eingeschlagen war, hätten ganz gewöhnliche Menschen gelebt, keine
reichen. Die Nacht nach dem Einschlag habe er bei einem Freund verbracht,
werde aber versuchen, in den nächsten Tagen wieder in seine Wohnung zu
ziehen.
Neben dem zerstörten vierten Aufgang versammeln sich Anwohner*innen. In der
Nähe der Rettungskräfte steht eine alte Frau und betet. Sie heißt Anna.
Irgendwo im zerstörten Gebäude ist noch ihr Sohn, der 41-jährige Alexander,
der im ersten Stock wohnte. Durch einen Arbeitsunfall hat er eine
Behinderung. Jetzt ist er wahrscheinlich in einem Kellerraum unter den
Trümmern des Hauses begraben. Anna erzählt, dass sie in der Kirche war, als
die Rakete einschlug, um das Abendmahl und den österlichen Segen zu
empfangen.
Sie habe später versucht, noch ein paar Lebensmittel aus ihrer Wohnung zu
retten, um nicht ganz ohne alles dazustehen. Aber während des Bergungs- und
Rettungseinsatzes sei niemand ins Haus gelassen worden. Die alte Dame ist
jetzt vorläufig bei ihrer Tochter untergekommen. Als Anna erfährt, dass man
am Freitag aus den Trümmern ein zweijähriges Kind geborgen hat, das noch im
Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus starb, beginnt sie laut zu
weinen: „Herr, schick uns Frieden!“
Die Suche nach den Opfern geht weiter. Die Rettungskräfte sagen, dass die
russische Rakete den Plattenbau bis in den Keller durchbohrt habe. Dadurch
sei dort ein Krater entstanden, in den Trümmer des Hauses gefallen seien
und die Menschen wahrscheinlich darunter verschüttet haben. Es sei daher
möglich, dass die bislang noch Vermissten unter einer sehr dicken
Betonschicht begraben seien.
Gegen Mittag werden am Samstag zwei weitere Leichen gefunden, drei Menschen
gelten noch als vermisst. Insgesamt ist von elf Todesopfern, darunter das
zweijährige Kind, und 21 Verletzten die Rede. Die Rettungskräfte werden so
lange weitersuchen, bis alle Vermissten gefunden sind. Wie lange das dauern
wird, lässt sich nicht sagen. Die Angehörigen stehen neben dem zerstörten
Wohnhaus und hoffen auf ein Wunder.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel und Gaby Coldewey
16 Apr 2023
## LINKS
[1] /Kaempfe-im-Osten-der-Ukraine/!5910559
[2] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5928187
## AUTOREN
Juri Larin
## TAGS
Slowjansk
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Donezk
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Pentagon
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Brasilien
## ARTIKEL ZUM THEMA
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: China und Russland rücken zusammen
Chinas Verteidigungsminister Li Shangfu will die Zusammenarbeit mit
Russland verstärken. Die G7-Minister weisen Aggressionen Chinas und
Russlands zurück.
Nach den Pentagon-Leaks: Der Feind bleibt Putin
Die diplomatischen Verstimmungen werden schnell vergessen sein. Die
Allianzen mit den USA sind zu komplex, und wer zu bekämpfen ist, ist klar.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Russland rückt in Bachmut vor
11 Tote nach einem Raketenbeschuss auf ein Wohnhaus in Slowjansk, Polen
untersagt Getreide-Importe aus der Ukraine und die Schweiz macht eine Menge
Geld locker.
Brasiliens Präsident in China: Lula und Xi kuscheln mit Distanz
China und Brasilien wollen enger kooperieren. Es geht vor allem um die
Wirtschaft, doch nicht nur. Im Westen wird die Annäherung kritisch gesehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.