# taz.de -- Prozess um Mord an Afghanin in Berlin: Tat auf tiefster Stufe | |
> Im Prozess gegen zwei afghanische Brüder, die ihre Schwester ermordet | |
> haben sollen, beginnen die Plädoyers. Die Staatsanwältin fordert | |
> lebenslang. | |
Bild: Eingangshalle des Kriminalgerichts Moabit | |
BERLIN taz | Es ist das Höchstmaß. Zweimal lebenslänglich wegen Mordes | |
beantragte die Staatsanwältin am Donnerstagabend [1][im Prozess gegen zwei | |
afghanische Männer, die ihre Schwester am 13. Juli 2021 in Berlin getötet | |
haben sollen]. Nach zehn Monaten Verhandlungsdauer vor einer Strafkammer | |
des Berliner Landgerichts steht das Verfahren um den Tod der 34-jährigen | |
Afghanin Maryam H. damit kurz vor dem Ende. Die Plädoyers der Verteidigung | |
sind für kommenden Donnerstag geplant. Das Urteil wird am 9. Februar | |
erwartet. | |
Die Tat, an Grausamkeit kaum zu überbieten, hatte im Sommer 2021 bundesweit | |
für Aufsehen gesorgt. Angeklagt sind zwei Brüder der Getöteten, der | |
27-jährige Yousuf und der 23 Jahre alte Mahdi H. Mit „Brutalität und | |
Vehemenz“ hätten die beiden die Tötung ihrer Schwester geplant und | |
durchgeführt, konstatierte Staatsanwältin Antonia Ernst in ihrem | |
eineinhalbstündigen Plädoyer. | |
Die Geschwister waren vor einigen Jahren aus Afghanistan nach Deutschland | |
geflüchtet. In Berlin hatte sich Maryam in der Folge von ihrem | |
gewalttätigen Ehemann getrennt, mit dem sie als 16-Jährige in Kabul | |
zwangsverheiratet worden war und zwei Kinder hatte. | |
Zum Zeitpunkt der Tat lebte sie mit ihrem 13-jährigen Sohn und der | |
10-jährigen Tochter in einem Flüchtlingsheim in Hohenschönhausen. Sie war | |
eine neue Beziehung zu einem Deutsch-Iraner eingegangen, der zuvor ihr | |
Familienhelfer war, und auf dem besten Weg, ein selbstbestimmtes Leben zu | |
führen. | |
## Kein Ehrenmord | |
Die Tat sei auf tiefster Stufe angesiedelt, sagte die Staatsanwältin. | |
[2][Maryam habe sterben müssen, weil ihr Verhalten nicht den | |
Moralvorstellungen der Brüder entsprach.] Es handele sich aber weder um | |
einen Ehrenmord noch um eine Frage von religiösen Werten. „Das ist eine | |
Frage der individuellen Einstellung.“ | |
Die Familie H. gehört der Volksgruppe der Seyed an, bisweilen auch Sayed | |
geschrieben. Aus ihrer Abstammung leiteten diese für sich eine | |
übergeordnete Rolle gegenüber anderen afghanischen Volksgruppen ab, hatte | |
die Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher vor Gericht erklärt. | |
Schirrmacher war im September als Sachverständige gehört worden, um den | |
Prozessbeteiligten einen Einblick in das Rechtsverständnis der afghanischen | |
Gesellschaften und die Rolle der Frau zu geben. Den vor Gericht | |
verhandelten Sachverhalt kannte sie nicht. | |
Nach dem Rollenverständnis der patriarchalisch geprägten Gemeinschaften | |
Afghanistans sei für eine Frau die Möglichkeit der Scheidung eigentlich | |
nicht vorgesehen, hatte Schirrmacher gesagt. Erst recht nicht, dass sich | |
geschiedene Frauen eine eigene Wohnung nähmen und sich wirtschaftlich | |
unabhängig machten. | |
Als sie am 13. Juli 2021 aus dem Flüchtlingsheim verschwand, hatte Maryam | |
H. gerade damit begonnen, sich nach einer eigenen Wohnung umzuschauen. Der | |
Verdacht, dass die Brüder etwas mit dem Verschwinden zu tun hatten, hatte | |
sich erst Tage später erhärtet, als Aufnahmen einer Überwachungskamera vom | |
Bahnhof Südkreuz auftauchten. Die Bilder zeigten, wie die beiden Männer mit | |
einem offenbar sehr schweren Koffer einen ICE bestiegen. | |
## Kehle durchtrennt | |
Die Reise ging nach Donauwörth in Bayern. Yousuf H. war dort gemeldet. | |
[3][Die Beamten der Berliner Mordkommission hatten die in Donauwörth | |
lebende Lebensgefährtin von Yousuf am 5. August schließlich dazu gebracht], | |
ihnen die Stelle zu zeigen, wo H. Maryams Leichnam vergraben hatte – auf | |
einem früheren Schuttabladeplatz am Rande eines Dörfchens. Die Kehle der | |
gefesselten Afghanin war durchtrennt, Mund und Nase mit Klebeband | |
umwickelt. Über dem Kopf hatte sie eine Plastiktüte. | |
Die Brüder hatten lange Zeit des Prozesses geschwiegen. Anfang September | |
dann hatte Yousuf H. ein von seinem Verteidiger verlesenes Geständnis | |
abgelegt. Er habe sich am 13. Juli mit Maryam verabredet, um eine Wohnung | |
zu besichtigen. Sie seien zuerst zum Alexanderplatz gefahren und hätten bei | |
Primark einen Koffer gekauft. Mit diesem habe er später aus Maryams Wohnung | |
Sachen von sich nach Donauwörth bringen wollen. | |
Nach dem Kofferkauf seien sie in die Wohnung des mitangeklagten Bruders | |
Mahdi gefahren. Dort sei es zwischen ihm und Maryam zu einem Streit über | |
die Frage gekommen, ob sie die Eltern und eine weitere Schwester aus | |
Afghanistan nach Berlin holen sollten. Es war der Sommer 2021, als sich | |
abzeichnete, dass die US-Streitkräfte aus Afghanistan abziehen und die | |
Taliban wieder an die Macht kommen würden. | |
Maryam seien die Eltern egal gewesen, sie habe schlimme Worte benutzt, | |
erklärte Yousuf H. in seinem Geständnis. Da habe er sie gepackt, mit ihr | |
gerangelt und ihren Kopf unter seinen Arm gedrückt. Aus Wut, dass sie sich | |
plötzlich nicht mehr bewegte, habe er ihr den Hals zugedrückt. Mahdi sei zu | |
dem Zeitpunkt nicht im Zimmer gewesen, habe die Leiche aber dann mit nach | |
Donauwörth geschafft. Der Halsschnitt sei erst nach dem Tod erfolgt, | |
behauptete der Angeklagte. Der Körper hätte sonst nicht in den Koffer | |
gepasst. | |
## Konstruierte Erklärungen | |
Als „kläglichen Versuch, die unwiderlegbaren Beweise als weniger schlimm | |
darzustellen“ bezeichnete die Staatsanwältin die Einlassung des Angeklagten | |
am Donnerstag in ihrem Plädoyer. Dass Yousuf H. nach dem Geständnis immer | |
wieder mit neuen „konstruierten“ Erklärungen „nachbesserte“, wie Anton… | |
Ernst es nannte, war auch einer der Gründe, warum sich der Prozess so in | |
die Länge gezogen hat. | |
Bei dem Treffen am 13. Juli sei es allein um die Tötung und die Beseitigung | |
des Leichnams gegangen, sagte Ernst. Unter dem Vorwand einer | |
Wohnungsbesichtigung hätten die Angeklagten die Schwester in Mahdis Wohnung | |
in Neukölln „gelockt“. | |
Den Beweis, dass die Tat geplant war, sieht Ernst unter anderem dadurch | |
erbracht, dass die Brüder in der Nacht zuvor im Internet nach einem | |
geeigneten Koffer gesucht hatten. Beide – das habe die Auswertung der | |
Mobiltelefone ergeben – hätten nach einem Koffer, groß, 70 Kilo, gegoogelt. | |
In den Tagen zuvor hätten sie mit Maryam und den Kindern bei einem | |
vermeintlichen Spiel das Gewicht der Schwester ermittelt. | |
Dass das Vorgehen geplant war, schloss die Staatsanwältin auch aus | |
Zeugenaussagen. Freunde und Bekannte von Maryam, die Heimleiterin und auch | |
die Kinder, deren Vernehmung auf Video aufgenommen und so in den Prozess | |
eingeführt wurde, hätten bekundet, dass Maryam Todesangst vor den Brüdern | |
gehabt habe. Maryam sei von ihnen ständig kontrolliert worden, sagte Ernst. | |
## Regelmäßig Blutergüsse | |
Um Krach zu vermeiden, habe Maryam in Gegenwart ihrer Brüder das Kopftuch | |
getragen und einen langen, weiten Kleidungsstil praktiziert. Aber sie habe | |
sich gegen das Ansinnen der Brüder verwahrt, dass ihre zehnjährige Tochter | |
bereits ein Kopftuch tragen müsse. Geschlagen und an den Haaren gezogen | |
worden sei sie von den Brüdern und habe [4][regelmäßig Blutergüsse] gehabt. | |
„Fast schon blaupausenartig“ sei das Vorgehen, sagte Ernst, sich auf den | |
Bericht der Islamwissenschaftlerin beziehend. Nach dem Verständnis der | |
patriarchalisch geprägten Gemeinschaften in Afghanistan müssten Frauen die | |
Ehre der Familie wahren, hatte Christine Schirrmacher gesagt. Verletzt | |
werden könnte der Verhaltenskodex insbesondere durch Kontaktaufnahmen zu | |
Männern außerhalb der Familie. | |
Es sei dann möglich, dass die Männer der Familie zu drastischen Maßnahmen | |
greifen, um die „Ehre der Familie“ wieder herzustellen. Dass die Frau | |
sterben müsse, um die Familienehre wiederherzustellen, sei in der Regel ein | |
Gruppenbeschluss der männlichen Familienoberhäupter, so Schirrmacher. Die | |
Entscheidung werde als einziger Ausweg betrachtet, um „die Schande | |
abzuwaschen“. | |
Das Vorgehen beschrieb Schirrmacher so: „Man verabredet sich mit dem Opfer | |
unter einem Vorwand und lauert der Frau und manchmal auch dem beteiligten | |
Mann auf.“ Für solche Taten brauche es eine gewisse Vorbereitung. Die | |
Tötungen seien Teil des nach traditionellem Gewohnheitsrecht von vielen | |
akzeptierten Strafkatalogs. | |
Am häufigsten geschehe das durch Erstechen, Erschlagen, Erwürgen oder | |
Hinabstoßen aus der Höhe, sagte die Wissenschaftlerin. Manchmal werde den | |
Frauen auch die Kehle aufgeschlitzt, was bei Tieren Schächten genannt wird. | |
Bei Tieren sei die religiöse Vorstellung, dass Fleisch dadurch halal, also | |
genießbar zu machen. | |
Ein ehrenvolles Begräbnis der Getöteten sei nicht vorgesehen, so | |
Schirrmacher. „Das Opfer wird an einem unbekannten Ort verscharrt und aus | |
dem Gedächtnis gestrichen, so, als habe es in der Gemeinschaft nie | |
existiert. Es wird nie wieder über das Opfer gesprochen.“ | |
Nach dem Fund von Maryams Leiche war in Berlin eine Debatte über die | |
richtige Begrifflichkeit entbrannt. Im Unterschied zu Franziska Giffey, | |
damals SPD-Parteichefin und heute Regierende Bürgermeisterin, war die | |
frühere Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) der Meinung, mit | |
Bezeichnungen wie „Ehrenmord“ würden Taten wie diese verharmlost. Zudem | |
werde damit suggeriert, Gewalt an Frauen sei ein importiertes Problem, so | |
Breitenbach. Der Begriff Femizid – Tötung der Partnerin – sei angebrachter. | |
Von den Prozessbeteiligten gefragt, wie sie zu dem Begriff Ehrenmord stehe, | |
hatte Islamwissenschaftlerin Schirrmacher gesagt, dieser Begriff sei ihr zu | |
plakativ. Es sei aber wichtig, die Tötung zur Wiederherstellung der | |
Familienehre vom Femizid abzugrenzen. Denn erstere weise einige | |
Besonderheiten auf. | |
## Keine Statistik über Häufigkeit | |
Verlässliche Statistiken über die Häufigkeit von sogenannten Ehrenmorden in | |
Afghanistian und auch hier in Deutschland gebe es nicht, sagte | |
Schirrmacher. | |
Auf die Diskussion, ob es sich um einen Femizid oder Ehrenmord gehandelt | |
habe, ging Staatsanwältin Ernst am Donnerstag in ihrem Plädoyer nicht ein. | |
Es sei aber davon auszugehen, dass die Angeklagten „aus ihrer Abstammung | |
heraus übergeordnete Rechte des Mannes über die Frau hergeleitet“ hätten: | |
Dass sich die Frau nicht mit fremden Männern treffen dürfe, sich fügen | |
müsse. | |
„Dass sich die Geschädigte diesem Gefängnis entziehen wollte, kam ihrem | |
Todesurteil gleich“, stellte die Staatsanwältin fest. Dann zitierte sie den | |
Satz, der seit den Demonstrationen gegen das Terrorregime im Iran in aller | |
Munde ist: „Frau, Leben, Freiheit“. | |
Auch Maryam H. habe ihr Leben frei führen wollen, ihre Kinder nach ihren | |
Wertevorstellung erziehen wollen, betonte Ernst. „Ein kleiner Wunsch ist | |
das, der Wunsch nach einem autonomen Leben.“ Maryam H. das abzusprechen und | |
sich zum Vollstrecker aufzuschwingen, sei „besonders verachtenswert.“ | |
Nicht nach der kulturellen Wertevorstellung der Angeklagten werde das | |
Strafmaß ermittelt, sondern nach den Maßstäben und der Bewertung des | |
deutschen Rechtssystems, schloss die Staatsanwältin. So habe es der BGH | |
entschieden. Beide Angeklagten hätten im Zustand der vollen Schuldfähigkeit | |
gehandelt. Die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe sei zwingend | |
geboten. | |
Vor einer anderen Strafkammer des Berliner Landgerichts muss sich derzeit | |
ein 32-jähriger Afghane verantworten, [5][der seiner getrennt lebenden | |
Ehefrau im April 2022 aufgelauert und sie mit mindestens 13 Messerstichen | |
getötet] haben soll. Die Frau war Mutter von sechs Kindern. | |
20 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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