# taz.de -- Die Wahrheit: Nichts Neues im Wahlkampf | |
> Demnächst gibt es eine Wahlwiederholung in Berlin: Die Werbemittel sind | |
> schon jetzt rechtswidrig. | |
Bild: Wiederholungen gefallen nicht, Wahlwiederholungen erst recht nicht | |
Samstagvormittag an einer belebten Straßenkreuzung in Berlins pulsierender | |
Innenstadt. Gerd Neumann schlendert auf den Wahlkampfstand einer großen | |
Volkspartei zu – ein stoffbespannter Bistrostehtisch mit einem | |
Sonnenschirm. Wahlhelfer winken, halten Passanten an, verschenken | |
Luftballons und Kugelschreiber. | |
Neumann spricht den Kandidat des Wahlkreises an, es ist ein unauffälliger, | |
leicht korpulenter Mittvierziger mit einem Allerweltsgesicht, dessen Name | |
auf -mann oder -horst endet, lässt sich einen Flyer geben, überfliegt ihn | |
interessiert und zieht einen anderen Flyer aus der Tasche, den von der | |
letzten Wahl im Jahr 2021. Er vergleicht beide. Sie sind verschieden. | |
Neumann stellt den Kandidaten zur Rede: „Sie wissen schon, dass sie keine | |
neuen Wahlflyer ausgeben dürfen, sondern nur die von 2021?“ Der Kandidat | |
ist verdutzt. „Bei der aktuellen Wahl handelt es sich um eine | |
Wahlwiederholung“, doziert Neumann. „Sie müssen also auch das Infomaterial | |
der letzten Wahl verwenden, nichts Neues. Das ist ja keine Neuwahl.“ Er | |
fordert die Wahlkämpfer auf, das Werbematerial nicht länger herauszugeben | |
und geht dann weiter. | |
Gerd Neumann ist nicht nur ein interessierter Bürger. Ende 2022 saß er im | |
Saal des Landesverfassungsgerichts, als die Richterin Ludgera Selting | |
verkündete, dass die Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 wiederholt werden | |
müsse. Spontan applaudierte er. „Ich liebe Wahlen“, sagt der 45-jährige | |
studierte Verwaltungsbeamte, „darum bin ich ja auch Assistent des | |
stellvertretenden Landeswahlleiters geworden. Leider gibt es zu selten | |
Wahlen, in der Regel nur alle fünf Jahre mal, und wenn man Glück hat, sind | |
die Landtagswahlen von den Bundestagswahlen getrennt und die Europawahlen | |
auch. Aber meist packt mein Chef immer alles zusammen auf einen einzigen | |
Termin. Na, man sieht ja, was da passieren kann. Die Leute verlieren den | |
Überblick und verheddern sich in den zu langen Stimmzetteln. Ich sag immer: | |
ein Termin, eine Wahl.“ | |
## Noch nichtssagendere Slogans | |
Bei den Plakaten sei es genauso wie bei den Werbemitteln am Stand, sagt | |
Neumann und zeigt auf ein Plakat, das auf dem Mittelstreifen der | |
Hauptstraße steht. Es wird wie viele andere in den nächsten Tagen abgebaut | |
und durch ein altes von vor zwei Jahren ersetzt. „Aber die Wähler werden | |
nichts davon merken. Die Plakate sehen eh alle gleich aus. Obwohl“, fährt | |
er fort, „in diesem Jahr alles noch schlimmer ist als sonst: noch | |
nichtssagendere Slogans mit dem Wort ‚Berlin‘, noch hässlichere Visagen, | |
wahrscheinlich in nächtlicher Heimarbeit in der jeweiligen Parteizentrale | |
vom Hausmeister schnell zusammengeschustert.“ Der passionierte | |
Hobbylayouter, der in seiner Freizeit Wahlzettel gestaltet, schüttelt den | |
Kopf. | |
Neumann wechselt nun die Straßenseite, geht auf den Wahlkampfstand einer | |
anderen großen Partei zu – stoffbespannter Tisch, Sonnenschirm – und | |
spricht den dortigen Direktkandidaten an, der seinem Konkurrenten von | |
gegenüber erstaunlich ähnlich sieht. Auch hier überprüft er die Flyer, neue | |
sind nicht erlaubt. | |
Mit den Stimmzetteln sei es ebenso, erklärt Neumann. „Für die Wahl 2023 | |
werden alle Stimmzettel von 2021 noch mal nachgedruckt. Von einigen | |
Wahlkreisen hatten wir glücklicherweise noch genug Exemplare im Keller. Das | |
sind die, als wir aus Versehen die Stimmzettel von 2016 ausgeliefert | |
hatten.“ Darf man denn so einfach Stimmzettel vergangener Wahlen | |
wiederverwenden? | |
„Normalerweise nicht“, sagt Neumann, „aber diesmal schon, das | |
Verfassungsgericht hat ja ausdrücklich eine Wahlwiederholung gefordert. Bei | |
einer Neuwahl müsste natürlich alles neu gemacht werden, bei einer | |
Wahlwiederholung muss die Wahl genauso wiederholt werden wie beim letzten | |
Mal. Also mit denselben Stimmzetteln, denselben Wahllokalen, denselben | |
Kandidatinnen und Kandidaten. Ja ha, da hat die SPD nach einem Jahr mit | |
Franziska Giffey gedacht, na, diesmal lassen wir aber jemand anderes | |
kandidieren, aber Pustekuchen! Zur Wahl der Regierenden Bürgermeisterperson | |
stehen dieselben wie 2021. Aber das ist auch egal, Frau Giffey wird es ja | |
auch wieder werden.“ | |
Das Wahlergebnis steht doch noch gar nicht fest, wenden wir ein. „Na, doch. | |
Die Berliner Wählerinnen und Wähler sind natürlich gehalten, genauso zu | |
wählen wie 2021.“ | |
## Hilfe für Kreuzchenmacher | |
Die 43.000 Wahlhelfer werden die Berlinerinnen und Berliner vor Ort nochmal | |
genau darauf hinweisen und zur Not, wenn diese sich uneinsichtig zeigen, | |
den Kreuzchenmachern bei der Wahl helfen. „Sind ja Wahlhelfer, sagt ja | |
schon der Name.“ | |
Ist das nicht illegal? „Wie gesagt – Gerichtsbeschluss!“ Neumann zuckt mit | |
den Schultern. „Das ist auch ein bisschen schade, weil das die Spannung ein | |
Stück weit wegnimmt. Es gibt auch keine richtige Wahlberichterstattung im | |
Fernsehen, mit Hochrechnungen und allem drum und dran. Der zuständige | |
Sender RBB wird einfach die Sendung von 2021 wiederholen.“ | |
Ein Anruf beim RBB bestätigt dies. „Das werden wir auf jeden Fall als | |
Option offen halten, es gibt ja tatsächlich nichts zu berichten“, sagt die | |
Pressesprecherin. „Für neue Sendungen haben wir ohnehin kein Geld, nach der | |
Sache mit der kostspieligen Intendantin. Deshalb greifen wir bei der | |
Berlinwahl natürlich gern auf Wiederholungen zurück. Sozusagen eine | |
Wahlsendungswiederholung zur Wahlwiederholung.“ | |
„Aber sehen wir es einmal postiv“, sagt Gerd Neumann und lacht, „die Wahl | |
2023 wird die billigste Wahl sein, die Berlin jemals hatte.“ Dann lenkt er | |
seine Schritte zum nächsten Wahlstand und fragt mit strenger Stimme nach | |
Flyern. | |
31 Jan 2023 | |
## AUTOREN | |
Michael-André Werner | |
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