# taz.de -- Erdoğans abgesagter Berlinbesuch: Hinter verschlossenen Türen | |
> Nach Erdoğans abgesagtem Deutschland-Trip ist es still um die | |
> deutsch-türkischen Beziehungen. Vor den Wahlen im Mai will niemand eine | |
> Krise riskieren. | |
Bild: Erdoğan profitiert von der Rolle als Vermittler zwischen Putin und Europa | |
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist nicht in Berlin. | |
Eigentlich sollte er am Samstag Bundeskanzler Olaf Scholz treffen, doch | |
seine Reise wurde Anfang der Woche abgesagt. Wie das Redaktionsnetzwerk | |
Deutschland (RND) berichtet, lag dies daran, dass sich die beiden Länder | |
„nicht auf Themen und auf eine Uhrzeit für das Treffen einigen können“. | |
Eine offizielle Erklärung wurde nicht abgegeben. Doch nach der | |
volksverhetzenden Rede eines AKP-Politikers in Neuss und Erdoğans | |
Entscheidung, die Wahlen auf den 14. Mai vorzuverlegen, ist es möglich, | |
dass die Bundesregierung nicht den Eindruck erwecken möchte, den türkischen | |
Präsidenten zu unterstützen. | |
Außenministerin Annalena Baerbock forderte gleichzeitig die Freilassung von | |
zwei der bekanntesten politischen Gefangenen in der Türkei, dem ehemaligen | |
HDP-Chef Selahattin Demirtaş und dem Philanthropen Osman Kavala. Erdoğan | |
hat sich bis Freitagmorgen noch nicht dazu geäußert. Wird er die | |
Bundesregierung beschuldigen, Terroristen zu unterstützen? Oder ihr | |
heuchlerisch Nazi-Methoden vorwerfen? Das zumindest ist von ihm erwartbar, | |
kurz bevor die Wahlen anstehen. | |
Ähnliches spielte sich vor dem Referendum im April 2017 ab. AKP-Minister | |
und -Parlamentarier eilten in europäische Städte, um zu propagieren, dass | |
sich das Regierungssystem des Landes ändern müsse. Das ganze Spektakel, | |
angeheizt durch die Wut und Verwirrung über die Geiselnahme deutscher | |
Staatsbürger in türkischen Gefängnissen, markierte einen historischen | |
Tiefpunkt für die deutsch-türkischen Beziehungen. Insofern ist es keine | |
Überraschung, dass sich Europa derzeit vor solchen Szenen scheut. Womöglich | |
geht es der türkischen Regierung genauso. | |
## Graue Wölfe haben Kulturveranstaltung abgesagt | |
Köksal Kuş, Vorstandsvorsitzender der Union der Demokraten (UID), der | |
Lobbyorganisation der AKP im Ausland, scheint gegen eine Eskalation zu | |
sein. Kuş, der zu den Grauen Wölfen gehört, wirkte in einer Pressekonferenz | |
am 21. Januar fast sanftmütig. Er deutete an, dass er die Ereignisse in | |
Neuss bedauere, auch wenn die Reaktionen ein „Sturm im Wasserglas“ seien. | |
Erdoğans Wunsch, Landsleute in Deutschland zu treffen und [1][Kundgebungen | |
in verschiedenen Städten] abzuhalten, „sieht jetzt nicht realistisch aus“, | |
sagte Kuş. Auch der Besuch von Efkan Ala, dem stellvertretenden | |
AKP-Vorsitzenden für auswärtige Angelegenheiten, wurde abgesagt. Selbst die | |
Türk Federasyon (ATÜDH), eine der größten Organisationen der Grauen Wölfe | |
in Deutschland, hat ihre anstehenden Kulturveranstaltungen abgesagt. | |
Falls Erdoğan gerade in Deutschland Wahlkampf macht, dann nur hinter | |
verschlossenen Türen. Die türkische Regierung und die sie unterstützenden | |
Organisationen erklären, sie wollten sich an die deutschen Gesetze halten | |
und keinen Wahlkampf machen, obwohl andere Veranstaltungen in Frankreich | |
oder Belgien stattfinden werden. | |
## Wahlprognosen unklar | |
Die Wahl ist nach Meinung von Kuş bereits gewonnen. Erdoğans Stimmenanteil | |
liege in allen Umfragen bereits über 52 Prozent, behauptet er. Kuş ist | |
somit genauso desinformiert wie die Leute, die er zu beeinflussen versucht. | |
Der Durchschnitt von acht verschiedenen Umfragen im Dezember 2022 zeigt, | |
dass Erdoğans AKP-MHP-Koalition bei 41 Prozent liegt. Dies ist vor allem | |
auf die jahrelange schlechte Wirtschaftspolitik in Verbindung mit | |
Korruption zurückzuführen. Und weil die türkische Wirtschaft so anfällig | |
für äußere Erschütterungen ist, könnte eine neue Krise mit Europa zu | |
weiteren Turbulenzen führen. | |
Inmitten der lähmenden Inflation wurde der Mindestlohn deutlich angehoben. | |
Eine seit Jahren diskutierte Frage der Frühpensionierung ist geklärt. Zudem | |
wird derzeit ein neuer Beschluss zur Umstrukturierung der Steuerschulden | |
der Bürger gegenüber dem Staat verhandelt. Die öffentlichen Ausgaben werden | |
zum Teil mit Hilfe ausländischer Gelder aus den Golfländern und Russland | |
getätigt. | |
Seit Beginn des Kriegs ist die Türkei zu einem Hotspot für Oligarchen | |
geworden, die sich den Sanktionen in Europa entzogen haben. Als | |
zusätzlichen Bonus hat Russland die türkischen Zahlungen für Erdgas im Wert | |
von 20 Milliarden Dollar aufgeschoben. Erdoğans Plan, in die Zukunft zu | |
fliehen, scheint zu funktionieren – vorerst zumindest. | |
Es ist fast ironisch, dass Erdoğans schwächste innenpolitische Position mit | |
seiner stärksten internationalen Position seit Jahren zusammenfällt. Nach | |
Jahren des Konfliktschürens spielt Erdoğan, wie es das Schicksal will, die | |
Rolle eines Friedenswächters. Nachdem er dazu beigetragen hat, ein | |
Getreideabkommen zwischen Russland, der Ukraine und den Vereinten Nationen | |
auszuhandeln, befindet sich Erdoğan nun erneut im Mittelpunkt des | |
Geschehens. | |
## Sieg in greifbarer Nähe | |
Dieser „Fake it till you make it“-Ansatz für Frieden funktioniert in | |
Teilen: Im letzten Jahr hat die türkische Regierung ihre problematischen | |
Beziehungen zu Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Israel, | |
Ägypten und bald auch zu Syrien nur oberflächlich betrachtet geflickt. | |
Vor einem Jahr prognostizierten die AnalystInnen, dass Erdoğan mit | |
Sicherheit verlieren würde. Doch angesichts all dieser Entwicklungen und | |
einer unbeholfenen Opposition, die sich nicht auf einen Kandidaten | |
festlegen kann, kommen erneut Zweifel auf. Unabhängig von den Umfragen | |
zeigt allein die Verlegung der Wahlen in den Mai, dass Erdoğan den Sieg in | |
greifbarer Nähe sieht. | |
28 Jan 2023 | |
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[1] /Tuerkischer-Wahlkampf/!5906326 | |
## AUTOREN | |
Ali Çelikkan | |
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