# taz.de -- Kriegsalltag in der russischen Provinz: Vom Patriotismus ist nichts… | |
> Newjansk am Ural hat bereits einige tote und verletzte Soldaten zu | |
> beklagen. Immer weniger Menschen verstehen, wofür in der Ukraine gekämpft | |
> wird. | |
Bild: Spielzeugautos als letzter Gruß auf dem Friedhof von Newjansk: Auch hier… | |
Newjansk Im eisigen Wind flattern die Fahnen „Wir lassen die Unsrigen nicht | |
im Stich“ oder „Nach uns: die Stille“. Wir laufen mit Iwan (Name geänder… | |
einem 40-jährigen Einwohner von Newjansk, über den verschneiten städtischen | |
Friedhof zwischen frischen Gräbern entlang. Viele Papierblumen sieht man | |
hier, die bunten Plastikkränze sind noch nicht verblasst. Auf fünf Gräbern | |
am Haupteingang stehen fast identische Grabkreuze. | |
Newjansk ist eine Stadt im Gebiet Swerdlowsk mit etwa 22.000 Einwohnern. | |
Hier befindet sich eine der Hauptsehenswürdigkeiten des Urals, der Schiefe | |
Turm von Newjansk, der vor etwa 200 Jahren, zur Zeit der Fabrikanten | |
Demidow, gebaut wurde. | |
Der Legende nach wurden im Keller des Turms falsche Münzen geprägt, und als | |
jemand zur Kontrolle kam, wurde der Keller geflutet, um das Verbrechen zu | |
vertuschen, und die Arbeiter ertranken. Oft kommen Touristen her, um den | |
Turm anzusehen. Die Stadt ist nicht gerade reich, aber wer will, findet | |
problemlos einen Job. Es gibt ein Gefängnis und mehrere große Betriebe, wie | |
die Newjansker Maschinenbaufabrik, ein Stahlbetonwerk, ein Kraftwerk. Und | |
der städtische Friedhof, auch eine Art Unternehmen, wächst und entwickelt | |
sich ebenfalls in letzter Zeit. | |
„Wladimir Balandin“, liest Iwan auf einem Grabstein und sieht sich das | |
dazugehörige Foto des Toten an. Er kannte ihn nicht persönlich, aber hat in | |
der Zeitung von seinem Tod gelesen. Wladimir hatte vier Kinder. | |
Iwan erinnert sich auch an einen anderen Verstorbenen – Igor Mochow, der im | |
Dorf Serbischino in der Region Newjansk begraben wurde. Igor hatte Talent, | |
er vertonte Kindergeschichten. Viele Newjansker kannten und liebten seine | |
Werke. | |
Iwan meint, wenn man sich die Stadt Newjansk als einen Menschen vorstellt, | |
dann wäre das wohl ein Mann Mitte 40, gutmütig und hilfsbereit, mit einem | |
offenen Gesicht, wie viele Porträts auf diesen Grabkreuzen. | |
„Ich wurde in Newjansk geboren“, erzählt Iwan. „Ich liebe meine Stadt, s… | |
hat Zukunft, liegt in der Nähe von Jekaterinburg und Nischni Tagil, zwei | |
der größten Städte im Gebiet Swerdlowsk. Hier gibt es viel | |
Entwicklungsspielraum, und wenn das Geld tatsächlich für die Belange der | |
Stadt ausgegeben würde und nicht in die Taschen der Beamten flösse, wäre | |
Newjansk wirklich schön. Meine Freunde haben die Stadt verlassen, und ich | |
werde sehr wahrscheinlich auch wegziehen. | |
Es gibt hier nur wenige junge Leute, weil weiterführende Schulen fehlen. | |
Die meisten ziehen nach der Schule für eine Berufsausbildung oder zum | |
Studium in größere Städte, nur wenige kommen danach zurück. Ich erinnere | |
mich noch an meine eigene Schulzeit: man steht auf dem Bahnsteig, wartet | |
auf den Regionalzug Jekaterinburg–Nischni Tagil, um einen herum nur junge | |
Leute. Am Wochenende scheint die Stadt aufgebläht und voller Menschen, | |
belebt sich – aber unter der Woche wird sie schmal und schweigsam.“ | |
## Ein Mann macht sich Gedanken | |
Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass für die Menschen aus | |
Newjansk die „militärische Spezialoperation“, kurz MSO (Putins | |
euphemistischer Begriff für den Angriffskrieg gegen die Ukraine; d. | |
Redaktion), etwas Patriotisches war. Einige konnten sich gar nicht schnell | |
genug freiwillig zur Armee melden. Er denkt, dass diese patriotische | |
Aufbruchsstimmung mittlerweile vorbei ist. | |
Nur einer von Iwans Freunden ist bislang freiwillig in die Ukraine gegangen | |
und bis heute dort. Einige andere wurden mittlerweile einberufen. | |
„Ich war aus gesundheitlichen Gründen nicht bei der Armee“, erzählt Iwan. | |
„Aber ich könnte von der zweiten Welle (der Mobilmachung) betroffen sein. | |
Sollten sie mich einberufen, werde ich nicht kneifen. Und auch meine | |
Freunde sagen: Ich werde nicht abseits stehen, wenn sie uns einberufen. Das | |
ist auch eine freundschaftliche Unterstützung für diejenigen, die schon | |
dort sind. [1][Aber mir gefällt dieses ganze Chaos nicht], ich bin nicht | |
für die Ukrainer und ich bin nicht für … Mir gefällt nicht, dass im Februar | |
Kampfhandlungen begonnen haben. Und ehrlich gesagt, obwohl ich die | |
Nachrichten verfolgt habe, habe ich nie genau verstanden, warum. | |
Am Tag vor dem 24. Februar bin ich mit dem Zug gefahren und habe gesehen, | |
[2][wie ein Güterzug nach dem anderen die Gleise entlangfuhr], alle mit | |
Panzern beladen. Und ich habe noch gedacht: Warum so viele? Ein großes | |
Militärmanöver? Es hat mich gestresst und eine unangenehme innere Kälte | |
verursacht. Aber damals habe ich einfach nicht begriffen, was da passiert.“ | |
Iwan erzählt von einer Verschwörungstheorie: Alles sei wegen | |
„unterirdischer Ressourcen passiert, die vor nicht allzu langer Zeit in der | |
Ukraine entdeckt worden“ seien. Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, | |
dass Russlands Vorgehen im Nachbarland nicht akzeptabel sei. | |
„Ich habe Freunde in der Ukraine, ich mache mir Sorgen um sie“, sagt er. | |
„Ich erinnere mich daran, wie wir bei der Fußball-WM zusammen vor dem | |
Fernseher saßen und alle zur ukrainischen Mannschaft gehalten haben. In den | |
sozialen Medien sehe ich extrem russophobe Einstellungen auf ukrainischer | |
Seite, aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren.“ | |
## Echte tote Kerle | |
Sein Freund ist in den Krieg gezogen, als man im Rahmen der Mobilmachung | |
begann, Frauen als Krankenschwestern einzuziehen. „Er wollte nicht abseits | |
stehen: Ich bin ein Mann und soll zu Hause sitzen, wenn man Mädchen | |
einzieht?“, erinnert sich Iwan. „Er ist freiwillig als Arzt in die Ukraine | |
gegangen. Ich verstehe, dass meine Freunde vielleicht nicht lebend | |
zurückkommen, denn heute gibt es keine Bajonettangriffe mehr wie früher. | |
Einerseits ist es wichtig, ein echter Kerl zu sein. Aber dort kann man sehr | |
schnell zu einem echten toten Kerl werden.“ | |
„195.000 Rubel (umgerechnet gut 2.600 Euro) – das bekommt ein einberufener | |
Soldat. Das ist meiner Meinung nach eine lächerliche Summe. Inzwischen hat | |
man auf 200.000 aufgerundet, aber die Logik, nach der diese Beträge | |
festgelegt werden, erschließt sich mir nicht“, schlussfolgert er. „Warum | |
kann man den Leuten jetzt nicht normale Gehälter zahlen, wenn es im | |
Staatshaushalt solche hohen Beträge gibt? Das ist doch alles eine | |
undurchsichtige Sache. Mein Freund ist aus der Ukraine zurückgekommen, aber | |
bis heute hat er gar kein Geld bekommen.“ | |
Trotz aller Zweifel ist Iwan überzeugt: Wenn der Staat das Kriegsrecht | |
verhängt und es eine allgemeine Mobilmachung gibt, werden die Leute | |
freiwillig in die Wehrämter gehen. | |
## Ein Chefredakteur wird angeklagt | |
„Es war so ein Gefühl von Kälte auf der Haut“, erinnert sich Jewgeni | |
Konowalow an den 24. Februar. Er ist Chefredakteur der Newjansker Ausgabe | |
der Mestnye Wedomosti (Lokalanzeiger). „Sofort war da ein | |
Gedankenkarussell: Empörung, Nichtwahrhabenwollen und große Scham. Dabei | |
schämte ich mich weniger für die anderen, sondern vor allem für mich | |
selbst. Weil ich in den vergangenen zwanzig Jahren keinen einzigen Text | |
geschrieben hatte, der den Menschen den Wunsch nimmt, in den Krieg zu | |
ziehen. | |
Ich verstehe bis heute nicht, wie das möglich war. [3][Viele haben doch | |
Familie dort, nahe Angehörige.] Ich weiß, dass ich auch entfernte Verwandte | |
in der Ukraine habe, zu denen wir vor über zwanzig Jahren, nach dem Tod | |
meiner Großmutter, den Kontakt verloren haben. Sie sind noch dort, ich | |
erinnere mich noch, wie sie früher zu Besuch kamen. Ich erinnere mich auch | |
noch, wie sie uns Anfang der neunziger Jahre Schulhefte geschickt haben, | |
als es bei uns einfach gar nichts gab. Und wie die ganze Klasse damals über | |
die witzigen Aufschriften in ukrainischer Sprache gelacht hat. | |
Im April wurde der Chefredakteur der Mestnye Wedomosti gleich dreimal wegen | |
Ordnungswidrigkeiten angezeigt: für zwei Artikel, die in ein und demselben | |
sozialen Netzwerk veröffentlicht worden waren. Einer war überschrieben mit: | |
„Ich möchte nicht, dass unsere Kinder Kanonenfutter werden“ – das war no… | |
im Februar. Konowalow zitierte den Angehörigen eines Soldaten, der in die | |
Ukraine geschickt worden war. Zwei andere Anzeigen gab es wegen eines | |
Artikels im März über die offizielle Stellungnahme des | |
Verteidigungsministeriums, dass der Westen Biowaffen mithilfe von Zugvögeln | |
als sogenannte Biowaffenagenten verbreite. | |
„Die Polizei hat zunächst nur eine Anzeige gegen mich erstattet“, erinnert | |
sich Konowalow. „Sie haben eine linguistische Expertise der Artikel | |
vorgelegt. Die hatte eine Mitarbeiterin des Inlandsgeheimdiensts (FSB) mit | |
philologischer Ausbildung angefertigt. Das sollte alles vor Gericht | |
vorgebracht werden. Am nächsten Tag rief die Frau vom Revier an und fragte, | |
ob sie noch einmal vorbeikommen könne. Eine einzige Anzeige schien den | |
„Linguisten“ nicht zu genügen. | |
Konowalow sagt, dass die beiden Richter am Stadtgericht, die ihn verurteilt | |
haben, „einer Debatte nicht abgeneigt waren und sogar Sympathien für ihn | |
hegten“. | |
Was sie jedoch nicht daran hinderte, den Antrag auf eine unabhängige | |
Prüfung abzulehnen. Für jede Anklage wurde Konowalow zu einer Geldstrafe | |
von 30.000 Rubeln (umgerechnet etwa 400 Euro) verurteilt. Jetzt versucht | |
er, die Urteile vor dem Landgericht anzufechten. | |
Jewgeni Konowalow sagt, dass es nach dem 24. Februar keine Protestaktionen | |
in der Stadt gegeben habe, keinen öffentlich geäußerten Dissens, von | |
einzelnen Posts in sozialen Medien abgesehen. | |
„Am Anfang war es mir sehr wichtig, ein Stimmungsbarometer in meinem nahen | |
Umfeld zu erstellen, um mich zu vergewissern, dass alle, mit denen ich | |
durchs Leben gegangen war, auf die ich mich verlassen habe, ebenfalls gegen | |
diesen Wahnsinn waren“, erzählt er. „Aber das war leider nicht der Fall. | |
Auch einige Freunde haben mich überrascht, indem sie Dinge im Geiste von | |
‚Wir können das noch mal machen!‘ (gemeint: siegen wie im Zweiten | |
Weltkrieg; d. Redaktion) posteten. | |
## Fragen nach dem Sinn des Krieges | |
Einige standen unter Schock, aber warteten auf eine vernünftige Erklärung | |
des Staats. Sie meinten, man sage uns wahrscheinlich einfach nicht alles, | |
denn es müsse für diesen Krieg doch irgendeinen echten Grund geben. Ein | |
Teil von ihnen wartet vermutlich heute noch. Also, seit einem dreiviertel | |
Jahr haben sie noch nichts gehört, was sie als Grund hätte überzeugen | |
können. Aber die überwiegende Mehrheit der mir nahestehenden Menschen war, | |
unabhängig vom Alter übrigens, von Anfang an gegen diesen Krieg.“ | |
In den ersten Kriegstagen fand in Newjansk eine Propagandademo zur | |
Unterstützung der „Spezialoperation“ statt. Die Einwohner der Stadt wurden | |
dazu mit Plakaten aufgerufen, mit einem Text aus dem Lied „Der heilige | |
Krieg“ (bekanntes sowjetisches Lied aus dem Zweiten Weltkrieg; d. Red.). | |
Einer der Hauptaktivisten war der Leiter des Kindersportvereins. | |
„Es stellte sich heraus, dass sein ‚heiliger‘ Hass zwei Ursachen hatte: d… | |
Erinnerungen an seinen Armeedienst, bei dem es Schwierigkeiten mit | |
ukrainischen Vorgesetzten gab. Und die Tatsache, dass seine Schützlinge aus | |
dem Verein, die in der Armee waren, an die vorderste Front geschickt worden | |
waren“, erinnert sich Jewgeni an sein Gespräch mit dem Sportvereinsleiter. | |
„Dann haben auch andere Teilnehmer dieser Demo zugegeben, dass sie gar | |
nicht konkret die Spezialoperation unterstützen, sondern die Jungs, die da | |
hineingezogen wurden.“ | |
Seitdem hat es keine Veranstaltungen dieser Art mehr gegeben, von den | |
großen Sammelaktionen für humanitäre Hilfe für die Einberufenen abgesehen. | |
Auch diese erfolgten übrigens mehr diesen Jungs zuliebe, um deren Chancen, | |
lebend zurückzukommen, zu erhöhen. | |
Jewgenis Beobachtungen zufolge hat sich die Stimmung in der Stadt seit | |
Februar verändert. Noch vor der Ankündigung der Teilmobilmachung nahm die | |
Zahl der Symbole der „Spezialoperation“ auf den Autos deutlich ab. Sein | |
Nachbar, der Ende Februar „sein ganzes Auto dekoriert“ und einige Videos | |
zur Unterstützung der Spezialoperation aufgenommen hatte, entfernte Ende | |
September alle Aufkleber und löschte sogar die Filme von seinem | |
YouTube-Kanal. | |
„Was hat sich hier für die Stadt geändert?“, fährt mein Gesprächspartner | |
fort. „Aus den Gesprächen mit der städtischen Verwaltung weiß ich, dass | |
alle großen Projekte, die noch vor dem 24. Februar begonnen wurden, zum | |
Beispiel die Uferbefestigung oder die Schwimmbadsanierung, weitergeführt | |
werden, aber seit dem Frühling deutlich teurer geworden sind. Durch den | |
Preisanstieg bei Baumaterialien wurden zusätzliche Mittel benötigt, unter | |
anderem aus dem städtischen Haushalt. Ich sehe, wie sich unsere Stadtoberen | |
freuen, dass sie im Rahmen dieser Projekte noch hochwertige europäische | |
Maschinen kaufen konnten … Mehrmals habe ich darüber geschrieben, welche | |
Sorgen sich die Direktoren unserer Industriebetriebe machen, die mit | |
ausländischen Maschinen ausgestattet oder auf internationale Absatzmärkte | |
ausgerichtet sind.“ | |
Die Zeitung Mestnye Wedomosti, deren Chefredakteur Konowalow in Newjansk | |
ist, wurde 1999 als privates Medium gegründet, ohne staatliche oder | |
kommunale Beteiligung. Die Zeitung finanziert sich ausschließlich durch | |
eigene Einnahmen. Sie bewirbt sich aber um die Veröffentlichung von | |
Mitteilungen der Stadtverwaltung, die gegen Geld in den Medien platziert | |
werden. Nach Angaben des Chefredakteurs „verzichtet die Redaktion nicht auf | |
eine möglichst objektive Herangehensweise beim Verfassen anderer, auch | |
problematischer Publikationen“. Die Zeitung schreibt auch über diejenigen, | |
die in der Ukraine gestorben sind, und wählt dabei sorgfältig ihre Worte. | |
## Infos bleiben unter Verschluss | |
Niemand spricht öffentlich darüber, wie viele Menschen in der Region | |
mobilisiert wurden. Weder über die geplante noch die faktische | |
Rekrutierung. Jewgeni erzählt, dass am 29. September, als die meisten | |
Einberufenen die Stadt verließen, fünf Busse, davon vier extra große, vom | |
städtischen Kulturpalast aus losfuhren. Aber außer den Männern aus Newjansk | |
fuhren auch noch Leute aus zwei Nachbarbezirken mit, aus Kirowograd und | |
Werchni Tagil. Etwa ein Drittel dieser Anzahl an Leuten kam noch Ende | |
Oktober dazu, als die Mobilmachung weiterging, obwohl man mit deutlich mehr | |
gerechnet hatte. Aber nach der ersten Welle der Mobilisierung und den | |
ersten Beerdigungen zogen die Menschen wohl ihre eigenen Schlüsse … | |
Ein Bild des Durchschnittseinberufenen – wer er ist, wie er lebt – kann man | |
heute aus Informationen über die ersten Gefallenen ableiten. Ihre Namen | |
sind in der Stadt bekannt. Es sind in der Regel Männer um die 40, | |
verheiratet, mit mehren Kindern, wertgeschätzt an ihren Arbeitsstellen. | |
„Wenn man jetzt mit ihren Angehörigen spricht, versteht man: Die wenigsten | |
von ihnen konnten sich vorstellen, dass alles so tragisch verläuft, dass | |
sie schon nach wenigen (!) Tagen an die vorderste Front geschickt würden“, | |
fährt Jewgeni fort. „Die Frauen sagen, angeblich hätten die Männer | |
irgendwelche technischen Arbeiten im Hinterland machen sollen (zumal viele | |
von ihnen darin echte Experten sind), die öffentliche Ordnung | |
aufrechterhalten – ‚ihre Pflicht erfüllen, weitab von der Front‘.“ | |
## Keine Ausnahme für Kinderreiche | |
Unter den Mobilisierten im Stadtbereich Newjansk waren sogar kinderreiche | |
Väter. Für die Rückkehr ihres Mannes, des 39-jährigen Wassili Utjomow, | |
führt Olga Utjomowa aus dem Dorf Zementnij einen ungleichen Kampf mit den | |
Ämtern. Das Paar hat vier Kinder: 18, 17, 15 und 9 Jahre alt. | |
„Es ist eine ziemlich schreckliche Situation. Nach dem Gesetz gelten wir | |
als kinderreich, weil drei unserer Kinder noch minderjährig sind“, sagt | |
Olga Utjomowa. „Und wenn Kinder nach dem allgemeinen Schulabschluss eine | |
Berufsschule besuchen, ist man sogar kinderreich, bis das Kind 23 ist. Aber | |
bei der Staatsanwaltschaft hat man mir gesagt, dass in Zeiten einer | |
Mobilmachung unsere Familie nicht mehr als kinderreich gilt, sobald das | |
älteste unserer drei minderjährigen Kinder das 16. Lebensjahr vollendet | |
hat.“ | |
Olga erzählt, dass Wassili am 29. September einberufen wurde. Er habe nicht | |
versucht abzuhauen, weil er „pflichtbewusst“ sei und überzeugt davon, dass | |
man ihn zur rückwärtigen Frontverteidigung oder als Fahrer einsetzen würde. | |
Aber nach weniger als zwei Wochen, am 10. Oktober, war er schon in der | |
Ukraine. In den Unterlagen, die sie von der Militärverwaltung bekam, stand, | |
ihr Mann sei erst seit dem 14. Oktober in einem Kampfverband. | |
Jetzt werde er, der nie in der Armee gedient und keine militärische | |
Ausbildung abgeschlossen habe, dort als stellvertretender Zugführer im Rang | |
eines Unteroffiziers aufgeführt, obwohl man ihn als gewöhnlichen Fahrer | |
einberufen habe. | |
„Neulich kam zum ersten Mal das Gehalt meines Mannes, mehr als 200.000 | |
Rubel“, sagt Olga, „aber trotzdem schreibe ich weiter Eingaben mit der | |
Forderung, Wassili als kinderreichen Vater nach Hause zu entlassen. Ich | |
selbst kann aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten, und alleine mit | |
den Kindern ist es sehr schwierig. Was sollen wir mit diesem ‚Kriegsgeld‘, | |
wenn mein Mann auch hier gut verdient und dafür nicht sein Leben riskiert?“ | |
Über ihre Einstellung zur MSO, der „Spezialoperation“, möchte Olga lieber | |
nicht sprechen, wie so viele andere Angehörige von Einberufenen auch nicht. | |
## Schwindender Patriotismus | |
„Unser erster Soldat (aus dem Nachbarkreis Kirowograd) starb während der | |
ersten Tage der MSO“, erzählt Jewgeni Konowalow. „Ende August kamen zwei | |
Jungs aus Newjansk zurück. Das war damals eine echte Tragödie für die Stadt | |
– gleich zwei 200er-Lasten (Codewort für die Rückführung von im Krieg | |
gefallenen Soldaten; d. Red). Da ahnte noch niemand, was anderthalb Monate | |
später passieren würde. Von den Freiwilligen starb einer – ein Junge vom | |
Land. Wie viele von ihnen insgesamt kämpfen, ist schwer zu sagen. Es kommt | |
vor, dass man mit einem Bekannten redet, man sich an jemanden erinnert und | |
sagt, dass man ihn lange nicht gesehen habe, und der Bekannte dann sagt: | |
„Der ist schon seit ein paar Monaten in der Ukraine.“ | |
Weitere zwanzig Menschen gelten als vermisst. Die Mütter und Ehefrauen der | |
Einberufenen haben eine gemeinsame Social-Media-Gruppe gegründet, um sich | |
gegenseitig zu unterstützen. | |
Wenn einer der vermissten Männer sich doch telefonisch meldet, geben sie | |
die Informationen an die anderen weiter. Wenn möglich versuchen sie, über | |
den Anrufer detaillierter etwas über weitere Vermisste zu erfahren. Man | |
hatte gehofft, die Vermissten beim Rückzug der Truppen vom rechten | |
Dnipro-Ufer nach der Aufgabe von Cherson zu finden. Aber nach einer | |
Umgruppierung war die Liste nur um einige Namen kürzer. | |
Jewgeni meint, dass nur noch wenige Newjansker an die „Heiligkeit“ dieser | |
„Operation“ glaubten. Die Angehörigen der Eingezogenen sprechen jedenfalls | |
weder von „Nazis“ noch in anderer Weise abfällig über Ukrainer. | |
„In letzter Zeit bin ich nur einmal wütend auf Ukrainer gewesen“, gesteht | |
Jewgeni. „In der Stadt gab es eine Altpapiersammlung und mit einem Teil des | |
Geldes wollte man die Einberufenen unterstützen. Einer der Angehörigen | |
eines Gefallenen, ein alter Mann, brachte ein paar hundert Kilo Papier mit | |
der Bitte: „Kauft eine Granate dafür und schreibt darauf: ‚Für meinen | |
Neffen!‘“ | |
Die Region Newjansk hat zehn Gefallene bestattet – das kann man an den | |
Gräbern auf dem Friedhof abzählen. Dort wird schon der Platz für die | |
nächsten Beerdigungen vorbereitet. Verwundete gibt es in der Region mehrere | |
Dutzend. Konowalow sagt, dass man einigen von ihnen gesagt habe: „Kuriert | |
euch, ruht euch aus, bald schicken wir euch wieder zurück.“ | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
20 Jan 2023 | |
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Isolda Drobina | |
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