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# taz.de -- Gaga-Wahlkampf in Berlin-Marzahn: Abgehängt mit Gunnar
> Marzahn-Nord hat viele Probleme – und auch noch Gunnar Lindemann (AfD)
> als Abgeordneten. Linke und SPD wollen ihm nun sein Direktmandat
> abluchsen.
Bild: Rückt sich gerne ins rechte Licht: Gunnar Lindemann (AfD) im Berliner Ab…
Berlin taz | Das Plattenbaugebiet im Marzahner Norden am äußersten
nordöstlichen Stadtrand ist im wahrsten Sinn des Wortes abgehängt. Die Wege
in die Innenstadt dauern lange und sind ungemütlich. Am S-Bahnhof
Ahrensfelde empfängt einen der beißende Gestank nach Urin und im
Winterhalbjahr Dunkelheit. Die S-Bahnen fahren auf zwei unterschiedlichen
Bahnsteigen in die Innenstadt ab, und es gibt keine Anzeige, wo die Bahn
zuerst abfährt.
Für Autofahrer ist es nicht angenehmer, denn man muss sich in den Dauerstau
zwischen den Brandenburger Berufspendlern einreihen. Aber auch sonst fehlt
es an Infrastruktur. Ärzte fehlen in Marzahn-Nord ebenso wie preiswerte
Lebensmitteldiscounter, Bäckereien, Drogerien und Kitaplätze. Die Sanierung
der Schulen kommt nicht voran. „Die Menschen hier haben den Eindruck,
vergessen zu werden“, sagt Gordon Lemm, der Bezirksbürgermeister, der sich
für die SPD um das Direktmandat fürs Abgeordnetenhaus bewirbt.
Vor der Wiederholungswahl stellt sich im Wahlkreis Marzahn-Hellersodrf 1
die Frage: Kann ein demokratischer Politiker dem AfD-Rechtsaußen und
jahrelangen Putin-Unterstützer Gunnar Lindemann das Direktmandat abnehmen?
Der ist seit 2016 direkt gewählter Abgeordneter. Bei der Wahl 2021
verteidigte er sein Mandat mit nur 70 Stimmen Vorsprung vor Gordon Lemm und
292 Stimmen vor Björn Tielebein (Linke). 509 Wählern wurde kein Stimmzettel
für die Erststimme ausgehändigt. Die Wahlbeteiligung lag unter 50 Prozent
und war damit eine der geringsten berlinweit. „Der Ausgang hängt von der
Wahlbeteiligung ab“, sagt Lemm.
Wer bei der AfD-Hochburg im Marzahner Norden aber an eine national befreite
Zone denkt, liegt falsch. Schon in der dritten Generation wohnen hier
zahlreiche Russlanddeutsche. Unter denen hat Lindemann zwar Anhänger, aber
nicht alle Russlanddeutschen stehen auf AfD.
## Eine beliebte Wohnadresse
Auch für vietnamesische Neuberliner ist der Marzahner Norden eine beliebte
Wohnadresse, es gibt Vereine, die diese Gruppe unterstützen. Und in den
vergangenen zehn Jahren haben viele Bewohner von Flüchtlingsunterkünften
gerade hier wegen der niedrigen Mietpreise Wohnungen gefunden. In der Folge
sind Shishabars und arabische Friseurgeschäfte entstanden. Letztere sind
oft die einzigen Friseure überhaupt und haben die Infrastruktur ein wenig
verbessert.
Im Winterwahlkampf dominiert für die Bürger ein Thema, das in der
Innenstadt unbekannt ist: die fehlende Straßenbeleuchtung. Tielebein ist
überrascht, wie oft das von Bürgern an Wahlkreisständen angesprochen wird.
Aber wenn man im Dunkeln über lange S-Bahn-Brücken oder durch Parks läuft,
dann fehlt das subjektive Sicherheitsgefühl. Steigende Lebensmittel- und
Energiepreise, Mieten und der Zustand des S-Bahnhofs Ahrensfelde – das
seien neben der fehlenden Beleuchtung die Themen, die die Bürger an
Wahlkampfständen ansprechen würden, sagt Tielebein.
Der 37-jährige große, hagere Mann ist im Marzahner Norden aufgewachsen,
seit Jahren Fraktionschef im Bezirksparlament und ein pragmatischer
Kommunalpolitiker. Er will die Wahlwiederholung nutzen, um ins
Abgeordnetenhaus zu kommen. Das geht nur über das Direktmandat. Mit großer
Präsenz im Wahlkreis und Wahlplakaten auch in Russisch und Vietnamesisch
soll ihm das gelingen.
„Lindemann hat nichts für diesen Wahlkreis getan. Er hetzt im
Abgeordnetenhaus gegen Geflüchtete, wirbt für die Autolobby. Aber Themen
wie Schule, Kita und die Infrastruktur hier kommen bei ihm nicht vor,“ sagt
er der taz. Da ist er sich mit Lemm einig, der es so formuliert: „Lindemann
macht einen Gaga-Wahlkampf mit so bescheuerten Inszenierungen, dass das die
Medien aufgreifen. Bei den sozialen Einrichtungen hier ist er nicht präsent
und dem Marzahner Norden nützt das überhaupt nichts.“
## Lindemann feiert sich als Koch für Fertignahrung
Gaga-Wahlkampf? Lemm spielt auf Internetvideos des AfDlers an, in denen er
im Militärlook in „den nasskalten Wäldern und Steppen der Wildnis Marzahn“
eine Büchsensuppe wärmt. Lindemann feiert sich als Koch für Fertignahrung:
Er erläutert beispielsweise, wie man Würstchen erwärmt, Kartoffeln
zerkleinert oder Sprühsahne auf Eis sprüht. „Lass das mal den Gunnar
machen!“ oder „Gunnar kann das!“ steht auf seinen Wahlplakaten. Weniger
gaga waren seine Besuche gemeinsam mit anderen AfDlern und weiteren
schrägen Vögeln 2018 und 2019 auf der Krim und in der „Volksrepublik
Donezk“ sowie 2019 in Südossetien, wo sie wie Staatsgäste empfangen wurden.
Lemm hatte vergangenes Jahr für das Abgeordnetenhaus kandidiert, wurde dann
aber überraschend als Bezirksbürgermeister gewählt. Parteiübergreifend wird
der 44-Jährige in diesem Job geachtet. Bürgermeister will er auch bleiben,
sagt er der taz. Sollte er das Direktmandat dennoch erlangen, will er es
nicht antreten. Warum er dennoch kandidiert? „Die SPD darf niemand anderen
nominieren. Das sind solche Kuriositäten der Wahlwiederholung.“
Seinen linken Kontrahenten Tielebein macht das wütend: „Wenn Lemm nicht ins
Abgeordnetenhaus will, soll die SPD doch ihre Anhänger aufrufen, mich zu
wählen, um den AfD-Kandidaten zu verhindern. Dann hätte unser Wahlkreis mit
allen seinen Problemen wieder einen demokratischen Vertreter im
Landesparlament und nicht den AfD-Rechtsausleger.“ Aber die SPD werbe, so
Tielebein, mit „Alle Stimmen SPD“.
So steht es auf ihren Wahlplakaten. Lemm wiederum macht keinen Hehl daraus,
dass ihm Tielebein als Wahlkreisabgeordneter lieber wäre als Lindemann.
„Aber die SPD hat 2021 viele ehemalige AfD-Wähler gewinnen können. Und ob
die dann auch die Linke wählen?“ Im Falle seiner Wahl würde von der
SPD-Liste ja jemand anderes nachrücken. „Und der oder die würde sich um den
Wahlkreis im Marzahner Norden kümmern,“ sagt er der taz.
16 Jan 2023
## AUTOREN
Marina Mai
## TAGS
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Klaus Lederer
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