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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Der Konflikt friert nicht ein
> Mit dem Winter ändert sich der Krieg. Die Soldaten auf beiden Seiten
> kämpfen nun auch noch mit Matsch, Schnee und eisiger Kälte.
Bild: Kämpfe in Kälte und Matsch irgendwo in der Region Donezk
Die Drohne nähert sich rasch. Sie fliegt am Rand eines Feldes entlang,
steht dann in der Luft über einem Erdloch. Elf Soldaten liegen eingekauert
darin. Die Kamera der Drohne zeigt, wie eine Granate unter ihr baumelt. Aus
der Höhe lässt sie diese fallen. Sie trifft zwei Männer am Rand des Lochs.
Langsam und benommen beginnen die anderen, sich aufzurappeln. Sie sind
offenbar nicht mehr Herren ihrer Sinne.
Das Video soll an der Front östlich von Bachmut entstanden sein und einen
ukrainischen Angriff zeigen. Mit letzter Sicherheit lässt sich das nicht
überprüfen. Es wird in diesen Tagen häufig [1][auf Twitter geteilt] – als
Beleg dafür, wie der Winter den Krieg verändert.
Die Reaktion der Soldaten lässt auf eine mittlere bis schwere Unterkühlung
schließen. Sinkt die Körpertemperatur zu stark, werden Betroffene schläfrig
und teilnahmslos, die Atmung verlangsamt sich, Muskelstarre setzt ein.
Selbst wenn eine Granate neben einem einschlägt, kann man sich kaum noch
bewegen.
Nach den militärischen Erfolgen der Ukraine und dem russischen
Raketenterror der vergangenen Wochen geht der Krieg mit dem Winter in eine
neue Phase. Die Soldaten auf beiden Seiten kämpfen nicht mehr nur mit dem
Gegner, sondern auch mit Matsch, Nässe und Kälte. Ausrüstung und Logistik
spielen eine noch größere Rolle.
## Überlebenswichtig: Wärmestationen
Infantristen, die in Schützengräben oder Erdlöchern an der Front ausharren,
müssen regelmäßig in Wärmestationen zurückkehren, um sich aufzuwärmen und
in trockene Kleidung wechseln zu können. Kahle Bäume und Sträucher bieten
im Winter wenig Deckung. Soldaten bewegen sich deshalb öfter am Boden fort,
was Kleidung noch schneller durchnässen lässt. Die ukrainische Armee wird
von Nato-Ländern wie Kanada mit moderner Winterkleidung beliefert. Aus
Russland gibt es hingegen Berichte, dass sich Rekrutierte ihre Ausrüstung
teils selbst kaufen müssen.
Einige Militärexperten erwarten, dass allein Nässe und Kälte in diesem
Winter Tausende Todesopfer fordern könnten – wegen mangelnder Ausrüstung
vor allem auf russischer Seite. [2][Russische Soldaten berichten] zudem,
dass frisch rekrutierte Kräfte ohne große Vorbereitung an die Front
geworfen und gnadenlos aufgerieben werden.
Der Militäranalyst und ehemalige US-General Ben Hodges beschreibt das als
zynische Strategie: „Sie tauschen Menschenleben gegen Zeit“, sagte er
[3][in einem Podcast des Economist]: Mit den Raketenangriffen auf die
Infrastruktur versuche Wladimir Putin, Druck auf Wolodomir Selenskis
Regierung auszuüben und Millionen Menschen zur Flucht in EU-Staaten zu
treiben. Die aufnehmenden Länder würden, so das Kalkül, irgendwann ihre
militärische Unterstützung einstellen. Um die Zeit dafür zu gewinnen,
verheize Russland an der Front zurzeit Rekruten.
## Matsch oder Dauerfrost
Über eine Länge von 1.200 Kilometern erstreckt sich die Front im Osten der
Ukraine – [4][mit unterschiedlichen geografischen und militärischen
Gegebenheiten]. Große Aktionen mit Radfahrzeugen sind auf schlammigen Böden
zurzeit nicht möglich. Rasputiza, die „Zeit ohne Wege“, dauert vom Oktober
bis in den Dezember hinein. In den südlichen Oblasten Saporischschja und
Cherson sind die Winter meist mild, die Böden nicht gefroren. In Donezk und
Luhansk dagegen ist im Januar bei Dauerfrost der Boden so hart, dass man
abseits befestigter Straßen fahren kann.
„Es ist ein Trugschluss, dass der Krieg im Winter weitgehend zum Stillstand
kommt“, sagt Christian Mölling. Er ist [5][Forschungsdirektor der Deutschen
Gesellschaft für Auswärtige Politik]. Mölling erwartet, dass ab Januar das
Kampfgeschehen wieder zunimmt. Das habe man schon früher erlebt. Im Januar
und Februar 2015 fand die [6][Schlacht um Debalzewe] statt. Auf dem
gefrorenen Boden setzte Russland damals auch Kampfpanzer ein und gewann.
„Ich glaube, im Osten wird man weiter eine Materialschlacht sehen, ohne
dass sich beim Frontverlauf groß etwas bewegt“, sagt Mölling. „Die Ukraine
wird wahrscheinlich versuchen, nach der Befreiung von Cherson im Süden der
Front weiter vorzurücken.“ Die russische Armee hat sich nach ihrem Rückzug
über den Dnipro in mehreren Verteidigungslinien eingegraben. Ein Vorrücken
der Ukrainer Richtung Krim soll um jeden Preis verhindert werden.
Für die Ukraine wäre es gefährlich, wenn sich der Krieg über den Winter in
einem Stellungskampf festfährt. Es würde an der eigenen Kampfmoral zehren,
aber auch in den Nato-Ländern wieder jene Stimmen lauter werden lassen, die
die militärische Unterstützung infrage stellen. „Es ist wichtig, dass die
Ukraine für den Winter ein neues Narrativ setzen kann, das das Absacken der
Unterstützung verhindert“, sagt Mölling.
Mit anderen Worten: Auch beim Kampf um die öffentliche Meinung ist die
Ukraine auf Erfolgsmeldungen angewiesen.
3 Dec 2022
## LINKS
[1] https://twitter.com/warnerta/status/1596017726212169728?s=20&t=wFlR8LmV…
[2] https://www.theguardian.com/world/2022/nov/07/we-were-completely-exposed-ru…
[3] https://www.economist.com/podcasts/2022/11/24/how-could-ukraine-win-the-war
[4] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/kriegswinter-ukraine-e…
[5] https://dgap.org/de/user/18346/christian-moelling
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Kampf_um_Debalzewe
## AUTOREN
Jan Pfaff
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