# taz.de -- Jüngste U-Bahn-Linie Londons: Die Schätze der Elizabeth Line | |
> Londoner Züge gleiten durch das älteste Untergrundnetz der Welt. | |
> Oberirdisch gibt es von Klosterruinen bis Docklands viel zu entdecken. | |
Bild: Keine Selbstverständlichkeit – jede Station der Linie hat Rolltreppen | |
Die Lücke ist verschwunden. Die Ansage „Mind the gap“, längst so ikonisch, | |
dass sie auf Tassen gedruckt wird und einen eigenen [1][Wikipedia-Eintrag] | |
hat, ist auf der Elizabeth Line verstummt. Hier gibt es keinen tückischen | |
Freiraum zwischen Zug und Bahnsteigkante, und auch sonst erinnert kaum | |
etwas an die klassischen Londoner U-Bahn-Züge, die kreischend durch enge | |
Tunnel jagen und ihre Fahrgäste dabei von links nach rechts schleudern. | |
Leise surrend gleiten die Züge von Londons jüngster Nahverkehrslinie durch | |
die Stadt und weit darüber hinaus – so geschmeidig, dass selbst ein auf dem | |
Nebensitz platzierter Kaffeebecher unfallfrei ans Ziel kommt. | |
Fast 50 Jahre wurde das Projekt debattiert, verworfen, vertagt, umgeplant, | |
bis 2009 der erste Spatenstich erfolgte. Mehr als acht Millionen Tonnen | |
Erde wurden beim Bau der Schächte zutage gefördert. Ebenso die Überreste | |
von Pestopfern, Knochen von prähistorischen Tieren und der größte jemals im | |
Vereinigten Königreich entdeckte Bernstein. Auch diese historischen Funde | |
trugen dazu bei, dass sich der 19 Milliarden Pfund teure Bau vier Jahre | |
länger hinzog als geplant. | |
So dauerte es bis zum 17. Mai 2022, dass die namensgebende Queen das erste | |
Ticket aus dem Automaten zog und die Linie eröffnete. [2][Wenige Monate | |
später starb] Elizabeth II. Dass sie im Londoner Nahverkehr weiterlebt, | |
verdankt sie auch Ex-Premier Boris Johnson, der sich dafür einsetzte, dass | |
die Linie nach ihr und nicht – wie zwischenzeitlich diskutiert – nach | |
Winston Churchill benannt wird. | |
Ihren westlichen Startpunkt hat die Elizabeth Line in der | |
160.000-Einwohner-Stadt Reading, bereits auf halbem Weg nach Oxford | |
gelegen. Hier befindet sich am Ausgang des Bahnhofs ein improvisiertes | |
Tourismusbüro. Überraschte Gesichter angesichts der mit Kamera | |
ausgestatteten Besucherin, die zielsicher auf den Stand zusteuert und | |
fragt, was es in der Stadt zu sehen gibt. „Are you into history and | |
ruins?“, fragt der ältere Herr. Die viktorianischen Gärten könne er | |
empfehlen, außerdem die Ruinen der Reading Abbey. Das Kloster wurde 1121 | |
von Heinrich I. gegründet und wurde später zu seiner letzten Ruhestätte. Es | |
gehört zu diesen vergessenen Sehenswürdigkeiten, wie man sie oft in | |
kleinen, abseitigen Orten findet: sehenswert, perfekt ausgeschildert, | |
kostenlos. Und so verlassen, dass man sie ganz in Ruhe genießen kann. | |
Einst war das Kloster von großer Bedeutung, bis heute gibt es rund um die | |
Stadt zahlreiche Pilgerwege. Im Mittelalter starteten viele Gläubige ihre | |
Reise nach Santiago de Compostela in Reading. Heute seien die meisten nur | |
auf der Durchreise, erzählt der Herr und verteilt eifrig Broschüren. | |
Vielleicht, „fingers crossed“, helfe die Elizabeth Line dabei, mehr | |
Touristen in die Stadt zu locken | |
„Bringing more of London together“, steht auf den Werbeplakaten an den | |
Stationen. Hier draußen erinnert noch nichts an die Metropole. Kaum hat der | |
Zug Reading verlassen, ziehen draußen grüne Wiesen und Wälder vorbei. Ein | |
kleiner Junge freut sich über die Kühe, die direkt neben den Gleisen | |
weiden. | |
Am Bahnhof von Maidenhead, zwei Stationen weiter, haben sich keine | |
Tourismusbeauftragten platziert. Hinter dem Ausgang dröhnt eine riesige | |
Baustelle: Wer sich London nicht mehr leisten kann oder will, nimmt auch 50 | |
Kilometer Anfahrt in Kauf. Maidenheads Stadtzentrum dominieren die üblichen | |
Barber Shops, Restaurants und Shopping-Center, wie man sie in so vielen | |
englischen Kleinstädten findet. Eine Attraktion aber gibt es hier – und | |
dafür muss man den Zug nicht mal verlassen. Um die vor den Toren | |
Maidenheads fließende Themse zu kreuzen, die hier von kleinen Häuschen, | |
Parks und Ruderclubs gesäumt ist, überquert die Elizabeth Line den Sounding | |
Arch. Mit 240 Meter Länge ist die 1839 eröffnete rote Backsteinbrücke bis | |
heute die europaweit längste ihrer Art. | |
Next stations: Taplow, Burnham, Slough, Langley, Iver. Die ländliche | |
Szenerie weicht flachen Industriebauten und Einfamilienhäusern, aufgereiht | |
wie an einer Perlenkette liegen die Ortschaften im Speckgürtel von London. | |
Doch ein zweiter Blick lohnt sich, hat doch jede von ihnen eine Geschichte | |
zu erzählen. In Slough etwa wurde 1932 der Mars-Riegel erfunden. In Iver | |
befinden sich die Pinewood Film Studios. Dort, in den Hallen und den sie | |
umgebenen Parklandschaften, wurden große Teile der James-Bond-Filme | |
gedreht. Wer weiß, vielleicht jagte 007 auch um den See, der am Zugfenster | |
vorbeizieht? | |
Es ist das letzte Grün, das die Elizabeth Line durchquert, bevor der Zug | |
die Stadtgrenze passiert. Koffer werden in Position geschoben und Taschen | |
gepackt. Keine fünf Kilometer südlich liegt Londons größter Flughafen | |
Heathrow, er ist über einen Ableger ebenfalls an die Elizabeth Line | |
angebunden. In Hayes & Harlington verlassen die Heathrow-Reisenden den Zug. | |
Neu zugestiegen dafür ein junges Paar: Sie in leuchtend rotem Sari, er mit | |
Turban. Eine Station weiter öffnen sich die Türen am Bahnsteig von „Little | |
India“, wie der Stadtteil [3][Southall] genannt wird. Hier lebt die größte | |
indische Community der Stadt, vor allem Einwanderer aus der Region Punjab | |
zwischen Indien und Pakistan haben sich angesiedelt. Weshalb die Schilder | |
der Elizabeth Line hier auch auf Panjabi beschriftet sind: ਸਾਊਥਹਾ�… | |
Hauptstraße ist gesäumt von indischen Supermärkten, in denen Früchte und | |
Reis in 20-Kilo-Säcken verkauft werden, und Restaurants, wo das Essen auf | |
großen Blechtabletts serviert wird, Besteck gibt es hier nur auf Nachfrage. | |
Direkt hinter dem Bahnhof liegt der Sikhtempel Gurdwara Sri Guru Singh | |
Sabha, ebenfalls der größte außerhalb Indiens. „First, accept death, and | |
give up all hope and desires of life“ steht über dem Eingang. Wer den Tod | |
akzeptiert, jegliche Hoffnung und Wünsche aufgibt sowie seine Schuhe | |
auszieht, darf den Tempel besuchen und sich zu den Gläubigen in die mit | |
Teppich ausgelegte Halle setzen. | |
Kurz hinter Southall verschwinden die Züge dann unter der Stadt. Unter | |
historischen Bauten und Wolkenkratzern und auch unter dem Untergrund, der | |
bereits von all den anderen Linien beansprucht wird. In bis zu 40 Meter | |
Tiefe rauschen die Züge gen Osten, entlang der neu gebauten futuristischen | |
Stationen. Lichtdurchflutet, weitläufig und – keine Selbstverständlichkeit, | |
wie jeder weiß, der schon mal mit schwerem Gepäck in London war – allesamt | |
mit Rolltreppen ausgestattet sind diese. Ganz anders also als die | |
labyrinthartigen Gänge der sonstigen Haltestellen, die daran erinnern, | |
dass die Londoner U-Bahn die älteste der Welt ist. | |
Im Stadtzentrum wird es selbst in den geräumigen Waggons der Elizabeth Line | |
voll. Touristen drängen sich neben müde dreinschauenden Anzugträgern, | |
halbstarke Jungs neben mit Einkaufstüten beladenen Freundinnen. Erst als | |
sich die Strecke bei Whitechapel teilt, ist der Zug wieder leer und zurück | |
an der Oberfläche. Die Sonne steht tief. Zu tief für den längeren Zweig, | |
der noch über 30 Kilometer und 13 Stationen in den Nordosten führt. | |
Bis zur südlichen Endhaltestelle, Abbey Wood, sind es nur 4 Stationen. Im | |
letzten Tageslicht durchquert die Elizabeth Line die Docklands – einst der | |
größte Hafen der Welt, heute Finanzdistrikt mit gläsernen Bürotürmen. | |
Mittendrin liegt die Station Canary Wharf wie ein Kreuzfahrtdampfer im | |
Hafenbecken des West India Quay. Unter der Wasseroberfläche halten die | |
Züge, oben finden sich auf fünf Stockwerken Geschäfte, Restaurants und | |
einer der größten Dachgärten der Stadt mit Pflanzen aus aller Welt. | |
Unweit der Station befindet sich in einem altem Lagerhaus das Museum of | |
London Docklands, das die Entwicklung des Stadtteils nachzeichnet: den | |
Aufstieg zum Handelszentrum, den Niedergang in den 1960er Jahren und die | |
Wiedergeburt in den 1980ern. Maßgeblich von Thatcher befeuert, wie ein | |
Lehrer seiner mäßig interessierten Schulklasse vor dem Museum erklärt. | |
Heute zählen die Docklands zu Londons angesagtesten Wohngegenden, Lager- | |
und Fabrikhallen wurden zu Apartments und Kulturzentren umgestaltet. | |
An der Haltestelle Custom House, benannt nach dem dortigen Zollhaus, wird | |
das Hafenbecken von einer 15 Meter hohen Fußgängerbrücke überspannt. Auch | |
eine Badestelle soll es hier geben. Tatsächlich, am Ende des Beckens, | |
eingezwängt zwischen Backsteinhäusern und Glastürmen, treibt ein Steg im | |
Wasser – einer von wenigen Orten, an denen das Baden in der Themse erlaubt | |
ist. Jetzt am Abend aber sind Schwäne und Enten die einzigen Badegäste. Die | |
Versuchung ist groß, aber nach kurzer Handprobe (doch ziemlich kalt das | |
Wasser) wird das Projekt aufs nächste Mal vertagt. | |
Auch Woolwich, die vorletzte Station des südlichen Strangs, hat sich zum | |
angesagten Viertel gemausert. Rund um das Royal Arsenal, eine ehemalige | |
Waffenfabrik aus dem 17. Jahrhundert, haben sich Restaurants und ein großes | |
Kulturzentrum angesiedelt. | |
An der Endstation Abbey Wood dann scheint die Stadt wieder weit weg. Kurz | |
hinter dem Bahnhof beginnt ein riesiges, unter Naturschutz stehendes | |
Waldgebiet, an dessen Rand das namensgebende Kloster, Lesnes Abbey. Die | |
Überreste der mittelalterlichen Anlage liegen auf einer kleinen Anhöhe und | |
sind frei zugänglich. Nur ein paar Hundebesitzer streifen durch die Ruinen. | |
Und so endet die Strecke, wie sie begonnen hat: mit beachtlichen | |
Sehenswürdigkeiten, die abseits der Massen, perfekt ausgeschildert, auf | |
Besucher warten. | |
27 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Mind_the_gap | |
[2] /Nachruf-auf-Koenigin-Elizabeth-II/!5881010 | |
[3] https://www.visitlondon.com/things-to-do/london-areas/southall | |
## AUTOREN | |
Verena C. Mayer | |
## TAGS | |
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