| # taz.de -- Unangenehmer Smalltalk: Eine Frage als Frechheit | |
| > „Und bei dir so?“: Spätestens seit der Pandemie dominiert diese Frage | |
| > jeden Smalltalk. Ein gutes Gespräch und Nähe entstehen dadurch nicht. | |
| Bild: Was hat man bloß gemacht die ganze Zeit?, fragt man sich. Und antwortet … | |
| Es gibt diese eine Frage, die spätestens seit der Pandemie jeden Smalltalk | |
| dominiert. Nein, es handelt sich nicht um „Bist du geimpft?“ – sondern um | |
| den faulsten, uninspiriertesten und ignorantesten Gesprächseinstieg der | |
| Welt: „Und bei dir so?“ | |
| Chapeau, wer hier direkt ein bis dreizehn Schwänke aus seinem Leben zum | |
| Besten geben kann. Viel häufiger verursacht die Frage einen spontanen | |
| Blackout, geboren aus schierer Überforderung. Denn was ist mit diesem | |
| Satzfragment überhaupt gemeint, dem sowohl das Verb als auch die zeitliche | |
| Einordnung fehlt? | |
| Auf der Suche nach einer adäquaten Antwort checkt man schnell die eigenen | |
| Eckdaten seit dem letzten Treffen: immer noch der gleiche Job, immer noch | |
| die gleiche Stadt, immer noch der gleiche Freund, immer noch der gleiche | |
| Hund. Das ist zweifellos sehr gut so, aber neu ist es eben nicht. Auch die | |
| vergangenen Tage, Wochen und Monate, die im Schnelldurchlauf durch den Kopf | |
| rattern, liefern kein Abenteuer, kein Ereignis, keine Geschichte, die | |
| unbedingt erzählt werden müsste. Was hat man bloß gemacht die ganze Zeit?, | |
| fragt man sich. Und antwortet schließlich: „Öhm, eigentlich alles wie | |
| immer.“ Danke fürs Gespräch, bis hoffentlich nie. | |
| Es kommt durchaus vor, dass man sich im Anschluss ein bisschen verkatert | |
| fühlt und sich fragt, ob das eigene Leben womöglich zu langweilig ist. Ob | |
| man wenigstens anfangen sollte, seine Schlagfertigkeit zu trainieren. Ob | |
| man nicht etwas hätte liefern müssen, was das Gegenüber zu Hause | |
| weitererzählen kann, und zwar mehr als: „Bei der? Alles beim Alten, aber | |
| sie sah müde aus.“ Und gleichzeitig weiß man, dass alles gut ist, wie es | |
| ist – denn das Problem ist nicht die Antwort, sondern die Frage. | |
| „Und bei dir so?“ ist eng verwandt mit dem sich als Einwortfrage tarnenden | |
| schleimigen Auswurf, der bei beidseitiger Redeunlust einfach | |
| zurückgepingpongt wird. „Na?“ – „Na!“ Dialoge aus der Hölle, die | |
| ausschließlich geführt werden, damit etwas gesagt wird, und im Nachhinein | |
| möchte man das kaum Gesagte trotzdem am liebsten zurücknehmen. | |
| „Und bei dir so?“ tut zwar ehrlich interessiert, gibt sich aber nicht mal | |
| ansatzweise Mühe, an irgendetwas Persönliches anzudocken und zu zeigen, | |
| dass man sich noch an sein Gegenüber erinnert. Womöglich ein Resultat der | |
| Pandemie, von Lockdowns und Homeoffice, aber das ist bestenfalls eine | |
| Erklärung, keine Ausrede. | |
| „Und bei dir so?“ ist in Wahrheit keine Frage, sondern eine Frechheit. Ein | |
| strategischer Spielzug, bei dem der Ball lahm ins Feld des Gegenübers | |
| gekickt wird – ich habe kurz gesagt, dass es mir gut geht („Alles schick | |
| bei mir“), jetzt bist du dran. Los, dein Leben in einem Satz! Aber wehe, | |
| ich langweile mich gleich. | |
| Also gut. | |
| „Bei mir? Verrückte Geschichte: Ich wurde von einem Headhunter angerufen | |
| und fange nächsten Monat einen Job in Dubai an.“ | |
| „Wir haben ein Haus in der Eifel gekauft und bauen das jetzt klimaneutral | |
| aus.“ | |
| „Ich habe meinen Doppelgänger getroffen, und seither hat sich mein Leben | |
| komplett geändert!“ | |
| Aber das Leben ist eben nicht Netflix, und der Alltag in den seltensten | |
| Fällen verfilmungswürdig. Gleichzeitig passiert natürlich trotzdem eine | |
| Menge, während man so vor sich hinlebt: Dinge treiben einen um, Gespräche | |
| hallen nach, Überzeugungen kommen ins Wanken. Für innere | |
| Veränderungsprozesse ist in so einem Gespräch allerdings kein Platz. „Und | |
| bei dir so?“ – „Du, mir ist letztens was total Wichtiges klargeworden: Ich | |
| bin deshalb immer so streng mit anderen, weil ich auch an mich selbst so | |
| hohe Ansprüche anlege.“ | |
| Ist doch nur Smalltalk, werden Sie jetzt vielleicht einwenden, warum diese | |
| Aufregung? Weil Smalltalk den Tag durchaus etwas schöner machen und Nähe | |
| erzeugen kann. „Und bei dir so?“ kann das nicht – eine gute Unterhaltung | |
| ist eben etwas anderes als gute Unterhaltung. | |
| Vielleicht würde es helfen, stattdessen wieder das schlichte „Wie geht es | |
| dir?“ zu etablieren. Allerdings müsste man darauf auch ehrlich antworten. | |
| Wenn in Zukunft noch mal jemand fragt: „Und bei dir so?“, stelle ich | |
| jedenfalls einfach eine Gegenfrage: „Was genau willst du wissen?“ | |
| 18 Nov 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Seyboldt | |
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