# taz.de -- Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Sie wird ein neuer štamgast | |
> Sie suchte Orte, wo ihre deutsch-jüdisch-tschechische Familie einst | |
> lebte. So kam sie nach Ústí nad Labem und war überrscht von der Stadt an | |
> der Elbe. | |
Bild: Ústí nad Labem, die tschechische Stadt an der Elbe gleich hinter der Gr… | |
Heute ist der jüdische Friedhof von Sobědruhy, am Fuße des böhmischen | |
Mittelgebirges, ein Kulturdenkmal. Wochenlange Klicks durch die digitalen | |
Register der jüdischen Matrikel Tschechiens haben ergeben, dass auf dem im | |
17. Jahrhundert entstandenen und wie durch ein Wunder erhalten gebliebenen | |
Areal mein Urgroßvater Theo und der Zwillingsbruder meines Großvaters | |
begraben sind. Doch am Tor des Metallzauns finde ich nicht nur zwei | |
Davidsterne, sondern auch eine Eisenkette mit Vorhängeschloss. | |
Öffnungszeiten sind nicht ausgewiesen. | |
Tags darauf erklärt mir im nahe gelegenen Ústí nad Labem die kundige | |
Stadtarchivarin Frau Dr. Hladikova, dass der Schlüssel – wie in Dörfern | |
eben üblich – in der Dorfschenke hängt. Also fahre ich noch einmal nach | |
Sobědruhy. Die Schenke ist gut mit Stammgästen, alles Männer, gefüllt und | |
nach einigem Hin und Her erklärt ein älterer, Deutsch sprechender Herr dem | |
verwunderten Wirt, worum ich bitte. Viele Besucher scheint es nicht zu | |
geben. | |
Den Krieg hatte der abgelegene Friedhof überstanden, Verwahrlosung und | |
Vandalismus kamen in den 1950er Jahren. Grabsteine wurde zu Bauzwecken | |
veräußert, schließlich diente er als Müllkippe. Erst jüngst hat man sich | |
auf das jüdische Erbe besonnen. | |
Ich stapfe durch die überwucherten Grabreihen, suche nach entzifferbaren | |
lateinischen oder verwitterten hebräischen Gravuren auf den schief in die | |
Erde eingesunkenen oder umgestürzten Steinen und finde: nichts. Nur ein | |
Teil des Friedhofs, der Denkmal für den Aufschwung und die Auslöschung der | |
einst großen Gemeinden der Gegend ist, ist erhalten. | |
Im Stadtpark in Ústí nad Labem ragt dort, wo sich bis 1924 der alte | |
jüdische Friedhof befunden hatte, ein großer Davidstern aus der Erde. Das | |
Schicksal meiner Familie bewegte sich entlang vieler Orte in | |
Ostmitteleuropa, die dieser Stadt ähnlich sind, vom Aufschwung bis zu den | |
Verwerfungen und schwierigen Neuanfängen. | |
Im Englischen sind die Worte für Wurzeln und für Wege klangverwandt – | |
„roots“ und „routes“. Und weil Landschaft Gedächtnis ist, führte mich… | |
Suche nach Orten und Sprachklängen meiner Vorfahren in | |
beschaulich-verschlafene Klein- und raue Industriestädte, vom schlesischen | |
Ząbkowice Śląskie ins mährische Sternberk, von Linz über Bozen nach | |
Trieste; das ukrainische Lwiw wird wohl noch eine Weile auf der Liste | |
bleiben. Es sind Orte, die Kerben in der Familien-DNA hinterließen und | |
Spuren nicht nur im Leben derer, die längst nicht mehr sind. | |
In Ústí nad Labem, Deutsch: Aussig an der Elbe, gelegen ungefähr auf halber | |
Strecke zwischen Prag und Dresden, befand sich das Auge des Tornados, der | |
im 20. Jahrhundert eine Verwüstungsschneise durch meine | |
deutsch-jüdisch-tschechische Familie trieb. Bei uns zu Hause nur Ústí | |
genannt, hatte die Stadt den Ruf einer rauen Industriemetropole, der noch | |
dazu der Makel der Vernichtung der Juden nach 1938 und der Vertreibung der | |
Deutschen nach 1945 anhaftete. Bestimmt ein Dutzend Mal bin ich an ihr | |
vorbeigefahren, lange erschien sie mit ihren dampfenden Schloten unendlich | |
grau. Jetzt wollte ich sie erkunden und wurde vielfach überrascht. | |
Die schmutzige Industrie ist weitestgehend verschwunden, das Mittelgebirge | |
mit seinen schroffen Felsen und sanften Tälern schmiegt sich ans Elbufer. | |
Und die Stadt, ein von politischen Verwerfungen, Kriegszerstörung und | |
kommunistischer Stadtplanung gezeichneter Ort, strahlt den Mut aus, sich | |
neu zu erfinden und dabei auch schwierige Hinterlassenschaften nicht zu | |
verstecken. Keine erinnerungspolitische Selbstverständlichkeit. | |
Als Witwe mit drei kleinen Kindern eröffnete meine aus Lemberg stammende | |
Urgroßmutter Antonia am Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Start-up, eine | |
Ziegelei. Baumaterial wurde gebraucht, Aussig wuchs rasant. Die Stadt an | |
der Elbe wurde zum größten Hafen der k. und k. Monarchie, wahrlich ein | |
Böhmen am Meer. Daneben erfolgte der Ausbau der Bahntrassen, entlang der | |
Elbufer von Ost nach West. Bis heute ist die Stadt ein Verkehrsknotenpunkt, | |
rattern Züge durch das Flusstal. | |
Bergbau und Industrialisierung führten zur Entstehung einer Arbeiterschaft | |
und zum Aufstieg der Sozialdemokratie. Mein deutscher Urgroßvater kam als | |
Sozialdemokrat und Direktor einer der ersten Krankenkassen für Arbeiter aus | |
Mähren in die Gegend. Vom wirtschaftlichen Aufstieg Aussigs zeugen noch | |
heute prachtvolle Villen aus der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. | |
Ein im [1][Internet abrufbarer Spaziergang] führt Besucher und | |
Besucherinnen an ihnen entlang. | |
Überhaupt bietet die Architektur immer noch und wieder Erstaunliches, wenn | |
auch nicht auf den ersten Blick. Das 1908 eröffnete Stadtbad, das sich aus | |
einer 357 Meter tiefen Thermalquelle speist, ist ein Beispiel der von den | |
Bürgern gestifteten Sozialbauten, ebenso das 1930 eingeweihte Freibad im | |
Stadtteil Kliše, in dem meine Mutter Schwimmen und Turmspringen lernte. | |
1938 hatte sie in Prag die Schauspielprüfung abgelegt und stand kurz darauf | |
im Aussiger Opernhaus in einer kleinen Nebenrolle zum ersten Mal auf der | |
Bühne. Danach war das Theater für Nichtarier tabu. Heute ist die Oper | |
frisch restauriert. Stolz zeigen mir die Damen vom Einlass die Säle im Stil | |
des Neobarock und der Sezession. | |
Frau Hladikova vom Archiv hatte mir eine Adresse herausgesucht, wo meine | |
Großeltern 1933 gemeldet waren. Die Wohnung lag in einem der in jenem Jahr | |
fertiggestellten Schlangenhäuser, ein Bau der neuen Sachlichkeit. Das von | |
der Stadtverwaltung betriebene Projekt schaffte in der Wirtschaftskrise | |
Aufträge für örtlichen Baufirmen und Broterwerb für Arbeitslose. | |
## Die „Böhmerland“ | |
Das Stadtmuseum dokumentiert die neue ständige Ausstellung zu Geschichte | |
und unternehmerischen Leistungen der Deutschen und deutschsprachigen Juden, | |
die seit dem Mittelalter in die Gegend einwanderten und am Ende des 19. | |
Jahrhunderts neunzig Prozent der Bewohner der Stadt ausmachten. Ein | |
gigantisches Motorrad, das in Deutschland unter der Marke „Böhmerland“ und | |
in Tschechien als „Čechia“ vermarktet wurde, nimmt einen ganzen Raum ein. | |
Daneben Glas-, Textil- und Seifenproduktion, ein Stammtisch und ein | |
Biedermeierzimmer. | |
Während sich die Situation für assimilierte Juden im 19. Jahrhundert | |
verbesserte, erstarkten seit der Revolution 1848 auch der deutsche und der | |
tschechische Nationalismus, wovon aus Wörterbüchern gebaute Barrikaden | |
zeugen. Wie so oft wurden die Sprachen in der Folge von der Politik | |
missbraucht. | |
Wir logieren mit prächtigem Ausblick [2][auf der Větruše], einem 1897 vom | |
örtlichen Wanderverein eröffneten Ausflugsrestauration auf einem | |
Felsvorsprung über der Stadt. Dass das schlossartige Gebäude mit | |
Aussichtsturm heute wieder Hotel, Restaurant und Wahrzeichen ist, verdankt | |
es der Stadtverwaltung, die das verfallene Areal 2001 kurzerhand | |
zurückkaufte und renovieren ließ. Von hier aus kann man zum Wasserfall | |
Vaňovsky oder zur Burgruine Štrekov (Schreckenstein) wandern, die hoch über | |
der Elbe Maler wie Ludwig Richter oder Komponisten wie Richard Wagner | |
inspirierte. | |
## Der schiefe Turm | |
Die [3][neugotische Stadtkirche Maria Himmelfahrt] ist Sakralbau und | |
Mahnmal in einem. Nach massiven Bombardierungen der Alliierten wenige Tage | |
vor Kriegsende neigt sich der Kirchturm fast zwei Meter und gehört damit zu | |
den schiefsten in Europa. Diese Zerstörungen haben meine Mutter und | |
Großmutter nicht mehr erlebt; sie verließen die Stadt 1938, in der nach dem | |
Münchner Abkommen die Nationalsozialisten besonders wüteten. Wohnungen, in | |
denen Juden, Halbjuden und selbst Vierteljuden lebten, wurden markiert. | |
Auch Tschechen waren Ziel des von den Nazis aufgestachelten Mobs. Am Ende | |
des Krieges kulminierte die Gewalt im Massaker von Aussig, das mindestens | |
vierzig deutsche Zivilisten, vor allem Frauen, Kinder und Alte, das Leben | |
kostete. | |
Auf die wilden Vertreibungen der ersten Nachkriegsmonate folgten die | |
„geordneten“. 1947 siedelte der Bruder meiner Großmutter aus. Zurück blieb | |
Roza, die zweite Frau meines Urgroßvaters, eine Tschechin. | |
Nach Jahrzehnten der historischen Amnesie hat die Stadt ihre Geschichte | |
angenommen. Dazu zählt auch die Brutalismusarchitektur des Kommunismus, wie | |
das gigantische Mosaik am klobigen Rathausgebäude oder die sogenannte Wanne | |
am einstigen Sitz der KP, ein fensterloser Erker, der die Genossen | |
angeblich vor neugierigen Blicken abschirmen sollte. | |
Die heutigen Stadtbewohner und -bewohnerinnen, von denen viele an der 1991 | |
gegründeten Jan-Evangelista-Purkyně-Universität ausgebildet wurden, haben | |
kaum Berührungsängste mit der Vergangenheit. Die Grafikerin Adéla | |
Bierbaumer brachte als Abschlussarbeit an der Uni ein illustriertes | |
Wörterbuch deutscher Lehnwörter im Tschechischen heraus, unter denen sich | |
Humoriges wie cimprlich oder šlofik für Schläfchen findet. Auch der | |
štamgast darf nicht fehlen. | |
Ohne meine Familiengeschichte wäre ich vielleicht nie nach Ústi an die Elbe | |
gereist, ohne die unbürokratische Hilfe des Archivs hätte ich nicht so | |
vieles erfahren. Glück gehabt, měl jsem kliku! | |
23 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.usti-nad-labem.cz/images/turistum/tiskoviny/2015_Vilova_archite… | |
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## AUTOREN | |
Sabine Berking | |
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